Studie: Die EU aus der Wählerperspektive
Linz (Österreich) - Was Regierungen und politische Entscheider in all ihrer Widersprüchlichkeit zur EU-Entwicklung denken oder planen, lässt sich in den Medien verfolgen. Wie die Bevölkerung die Lage der Union beurteilt, steht kaum zur Diskussion. Die IMAS-Institute in Österreich und Deutschland haben in gleichlautenden Umfragen geprüft, welche Position die Bewohner dieser Länder zu zentralen Fragen der Europäischen Union beziehen.
Der Generaleindruck ist eine überraschend große Übereinstimmung der beiden deutschsprachigen Nachbarn über viele Kernprobleme des Bündnisses. Da wie dort befürworten die Bewohner in erster Linie strenge Maßnahmen gegen das Schuldenmachen. In Deutschland ist die Erwartung geordneter Budgets (mit 57 Prozent der Stimmen) sogar ganz besonders groß; in Österreich liegt sie bei 48 Prozent. In beiden Ländern überwiegt zugleich eine sehr feste Überzeugung, dass der Wohlstand innerhalb der EU auf lange Zeit unterschiedlich groß sein wird (Österreich: 45 %, BRD: 42 %). Kaum geringer ist (mit 39 bzw. 40 Prozent) die Forderung der Österreicher und Deutschen, Europa müsse so bald wie möglich eine einheitliche Wirtschafts- und Außenpolitik betreiben. Weniger einig ist man sich in den von IMAS befragten Nachbarstaaten über das wünschbare Engagement des eigenen Landes an der Überwindung der EU-Krise. Von den Deutschen erwarten 37 Prozent einen möglichst aktiven Einsatz ihrer Regierung an der Krisenbewältigung, von den Österreichern hingegen lediglich 28 Prozent. Zugleich unterstreichen die Österreicher (mit 39 Prozent) etwas zahlreicher den Satz: "Erst kommt das eigene Land, dann Europa". Von den Deutschen melden nur 36 Prozent diesen Vorbehalt an.
Weitere Ergebnisse aus dem demoskopischen Ländervergleich:
- Rund drei von zehn der Österreicher und Deutschen befürworten ein Kerneuropa aus westlichen Industriestaaten, dem auch das eigene Land angehört.
- Ebenfalls rund 30 Prozent der deutschsprachigen Bewohner sind überzeugt, dass es für ihre Länder kein Zurück mehr zu einem Einzelstaat gibt, der eine völlig eigenständige Politik betreibt. Diese relativ schwach belegte Meinung lässt vermuten, dass jeweils große Teile der Bevölkerung einen dauerhaften Verbleib in der EU nicht für gänzlich unumkehrbar halten.
- Ziemlich wenige Deutsche (28 Prozent), aber noch deutlich weniger Österreicher (22 Prozent) glauben, dass die EU trotz aller Probleme ihren Mitgliedern mehr Vor- als Nachteile bringt.
- Nur jeder vierte Österreicher und Deutsche bezeichnet es als dringlich, dass die EU eine eigene Verfassung benötigt.
- Lediglich 25 Prozent der Deutschen, aber eine (mit 16 Prozent) noch ungleich kleinere Gruppe der Österreicher stimmt Verzichten von Souveränitätsrechten zugunsten der europäischen Einigkeit zu.
Ungeachtet vieler sehr skeptischer Einstellungen zur EU glaubt nur jeweils rund ein Fünftel der Österreicher und Deutschen an die Vision eines neuerlichen Auseinanderbrechens der Europäischen Union mit der möglichen Folge schwerer, vielleicht sogar bewaffneter Konflikte zwischen den bisherigen Partnerländern.
Äußerst fremd ist den Österreichern und Deutschen der Gedanke, dass die gegenwärtige EU-Krise heilsam ist, weil dadurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen könnte. Sehr wenig Glaubwürdigkeit besitzt für die beiden Nachbarn die Aussicht auf ein baldiges Ende der EU-Krise und eine zeitlich absehbare Lösung der Finanzprobleme des Bündnisses. Ein kleiner Auffassungsunterschied besteht zwischen den Bewohnern der Nachbarländer darüber, wie sich das krisenhafte Geschehen in der EU auf die Position der Bundesrepublik in Europa auswirkt. Während von den Deutschen selbst nur jeder Zehnte an einen Zuwachs eigener politischer Macht glaubt, bekundet in Österreich immerhin ein knappes Fünftel der Bevölkerung Unbehagen an einem verstärkten Einfluss Berlins.
Keinerlei Illusionen machen sich die deutschsprachigen Nachbarn über die enge Verkettung ihrer Länder mit dem wirtschaftlichen Geschick der Europäischen Union. Da wie dort sind rund drei Viertel der Bewohner überzeugt, dass ihre Zukunft vom weiteren Werdegang der EU abhängt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Österreicher in vergleichsweise größerer Zahl von einer "starken" EU-Abhängigkeit reden, während die Bewohner der Bundesrepublik den Akzent auf eine "ziemlich starke" Abhängigkeit legen.
Das intensivere Gefühl einer schicksalhaften Verflechtung mit der im wirtschaftlichen Fieber liegenden EU erklärt zugleich die (mit 42:29 Prozent) ganz besonders ausgeprägte Überzeugung der Österreicher, es sei in der gegenwärtigen Situation eher ein Nachteil als Nutzen, der Europäischen Union anzugehören. In der Bundesrepublik überwiegt der Zweifel an der Zugehörigkeit nur mit 38:36 Prozent.
Zur Studie: In Österreich wurden vom 14. Dezember 2011 bis 02. Januar 2012 1.002 Personen, statistisch repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 16 Jahren (Quotaauswahl) face-to-face befragt.
In Deutschland wurden vom 15. bis 25. Januar 2012 1.260 Personen, statistisch repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 16 Jahren (Quotaauswahl) face-to-face befragt.
ah/IMAS International
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