Status Quo "Online Research Communities"

Christian Dössel (MM-Eye)

Von Christian Dössel, Research Director bei der MM-Eye GmbH.

Im Zusammenhang mit dem Begriff "New Market Research" ist hier und da auch immer mal wieder die Rede von Market Research Online Communities. In einer Reihe von Studien haben sich Research Communities als eine ausgesprochen gehaltvolle Art und Weise erwiesen, mit Konsumenten im Dialog an marktforscherischen oder marketingrelevanten Fragestellungen zu arbeiten und gleichzeitig Marketing-Entscheider näher an die reale Lebenswelt der Konsumenten zu bringen.

Im Moment herrscht ein bisschen Verwirrung im deutschen Sprachraum, denn genauso vielfältig wie das, was manche unter Research Community verstehen, sind auch die Begrifflichkeiten und Definitionen dieser Methode. Es existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen für diese relativ neue Methode. Am weitesten verbreitet sind Online Research Community oder auch Market Research Online Community (MROC). So lautet der derzeit gültige Twitter Hashtag #mrocs. Aber auch Bulletin Boards oder Blogs werden manchmal stellvertretend zur Beschreibung genutzt. Wie sinnvoll dies im Hinblick auf den Faktor "Community" ist, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick.

Aber unabhängig davon, welcher Name sich für diese Methode langfristig durchsetzen wird, wichtiger ist eine exakte Definition.

In Research Communities versammeln sich Konsumenten, um miteinander zu interagieren, zeitlich asynchron im Längsschnitt und mit Hilfe von Social Media Technologien. Die Aufgaben und Ziele, die diese Interaktionen haben, können vielfältig sein. Meistens geht es entweder darum, ein grundsätzlicheres und tieferes Verständnis für die Lebensrealität in bestimmten Zielgruppen zu erhalten, mit den Konsumenten zusammen an der Produkt-, Service- oder Ideenentwicklung zu arbeiten, oder entsprechende Ideen und Konzepte im Rahmen einer gleichberechtigten Umgebung zu testen.

Und noch ein zweiter Unterscheidungspunkt ist wichtig. Online Research Communities unterscheiden sich sowohl von natürlichen Communities, die sich mit einem bestimmten Thema befassen, als auch von Communities oder Gruppen auf sozialen Netzwerken wie z.B. Facebook oder XING sehr deutlich. Bei diesen beiden Formen entstehen Inhalte und Unterhaltungen bzw. Kommunikation selbstständig zwischen den Teilnehmern, also ohne, dass von unserer Seite aus Einfluss genommen wird.

"Eine Online Research Community ist eine Plattform, die zur Generierung eines tiefen Verständnisses von Bedürfnissen, Einstellungen und der Lebenswirklichkeit von Zielgruppen eingesetzt wird. Dabei kommen Co-Creation- und Crowd-Sourcing-Elemente zum Einsatz."

Trotz offensichtlicher Vorteile dieser Methode, hat man den Eindruck, dass der Einsatz aus unterschiedlichen Gründen hinter dem, was die Methode kann, zurückbleibt. Auf dem BVM Kongress 2012 in Berlin habe ich zu dem Thema einen Vortrag gehalten und erst geschätzte 7%-10% der Anwesenden haben bereits Community-Projekte durchgeführt.

Derzeit hat man den Eindruck, dass eine Reihe von singulären Pilot-Projekten durchgeführt wurde. An einer langfristigen Strategie für den Einsatz von Research Communities scheint es den meisten – auf Betriebsseite als auch bei den Dienstleistern – zurzeit jedoch zu mangeln.

Was momentan fehlt, ist ein kurzer Überblick über die Methode, ergänzt um einige praktische "How to"-Erfahrungsberichte, um das Vertrauen in diese Methode weiter zu stärken.

Abgegrenzt gegenüber sozialen Netzwerken und natürlichen Communities, die vor allem über die Methoden der Beobachtung wie z.B. Social Media Monitoring, Sekundäranalysen und netnographischer Methoden zugänglich sind, sind Research Communities Closed User Groups, die nur über Einladung und über spezielle Zugangsdaten zugänglich sind. Der Anstoß einer Research Community ist darüber hinaus immer aus einem Erkenntnisinteresse im Hinblick auf eine Marke, Produktkategorie, Dienstleistung und / oder spezielle Zielgruppe motiviert. Des Weiteren erlauben es Research Communities den Auftraggebern das Community-Leben zu beobachten und auch daran teilzunehmen (so lange es die Forschungsfragen zulassen).

Und schließlich erhalten wir aus jedem Projekt sehr positives Feedback von den Teilnehmern selber. Sie genießen diesen Ansatz, der mehr Teilnahme und Engagement von ihnen verlangt und sie freuen sich über die sozialen Beziehungen, die sie untereinander in den zeitlich begrenzten Communities aufbauen und pflegen und die es in anderen Befragungsvarianten (vor allem Online) nicht gibt. Insofern kann man schon fast davon ausgehen, dass diese Methode etwas Positives zur Motivation der Menschen, an Studien teilzunehmen, und uns als Branche ihre Zeit zur Verfügung zu stellen, beiträgt.


Research Communities haben den großen Vorteil, dass sie entweder kurz-, mittel- oder langfristig einsetzbar sind. Je nachdem, wie lange die Community läuft, kann man von unterschiedlichen Einsatzbereichen sprechen. Doch wann eignet sich ein kurzfristiges Set-up? Wann muss man zu einer längeren Community-Laufzeit greifen?

Die Antwort auf diese Frage ist einfach und schwierig zugleich, denn es kommt sehr auf die Erkenntnisziele an. Als Faustregel kann vielleicht folgender Merksatz gelten:
"Je strategischer die Fragestellungen sind, desto länger ist die Laufzeit anzusetzen".


In Abhängigkeit davon, welche Ziele im Vordergrund stehen, müssen sich die Community-Laufzeit und damit auch der Einsatz der Methode verändern.

So wäre eine Insight Community, in der es um die tiefe Erforschung einer markenübergreifenden Zielgruppe geht, eine längerfristige Community. Wenn wir aber über eine einstufige Optimierung einer Produktidee mit Hilfe der Teilnehmer reden, geht es eher um eine kurzfristige Laufzeit, da auch der Erkenntnisgewinn kurzfristig ist.

Generell muss man jedoch dem Impuls widerstehen, so viele Inhalte wie möglich in die Laufzeit der Community zu pressen. Gerade Kunden ohne viel Erfahrung mit Research Communities sind begeistert von der scheinbaren Fülle an Möglichkeiten, mehr Zeit mit den Kunden zu verbringen, als dies normalerweise der Fall ist. Hier muss dann der Marktforscher ein starker Berater sein.

Wenn die Kunden "Schnorcheln" möchten und über möglichst viele Themen einen Überblick erhalten wollen, dann bleibt man sehr nahe an der Oberfläche, und dafür braucht es in der Regel kein Research Community Set-up. Da sind andere Methoden gleich gut oder sogar vielleicht besser. Communities werden dann interessant, wenn man einen "Deep Dive" haben möchte, also wenn man verstehen und begleiten will, und das in der Tiefe. Dann "tauchen" wir zusammen mit den Konsumenten tiefer ein, dafür aber in insgesamt weniger Bereiche.

Die ideale Menge an Community-Teilnehmern

Auch die Frage nach der idealen Teilnehmerzahl wird uns oft gestellt. Und auch hier gibt es keine alles erschlagende Antwort. Je nachdem, welche Zielgruppen abgedeckt werden sollen und welche thematischen Fragen es zu beantworten gibt, variiert die Teilnehmerzahl.

Auch hier gibt es eine Faustregel zur Orientierung: "Es müssen genug dabei sein, damit man ein Community-Leben initiieren kann, aber nicht zu viele, damit jeder noch alles verfolgen kann."

Denn entscheidend in einer Online Research Community ist der "social glue". Der "social glue" besteht aus dem Zusammenspiel von drei Teilen:

  • Die Community-Ziele, also das, was wir mit der Community erreichen wollen.
  • Die Teilnehmer, also die Personen, die beim Erreichen der Ziele durch Erstellen von Inhalten mithelfen.
  • Professionelle Moderation durch Marktforschungsspezialisten, die die Ziele mit den Inhalten, die die Teilnehmer gestalten, abgleicht und durch geeignete Moderation zusammenhält.

So kann es sein, dass die Community mit 25 Teilnehmern startet oder es kann sein, dass es über 400 Teilnehmer sind. Bei zu wenigen Teilnehmern besteht die Gefahr, dass sich kein ausreichender "social glue" entwickelt, weil die Kommunikation der Teilnehmer untereinander nicht zustande kommt. Das liegt dann meistens daran, dass die Auswahl an potentiell "sympathischen" Mit-Teilnehmern zu klein ist, als dass ein Austausch sich individuell lohnt. Oder es wird zu wenig Inhalt von anderen erzeugt, mit dem man sich auseinandersetzen möchte.

Größere Communities mit mehreren hundert Teilnehmern hingegen bedeuten für die Betreuung und für die Moderation einen ungleich höheren Aufwand. Denn erstens müssen alle Teilnehmer das Gefühl haben ausreichend geschätzt und betreut zu werden und zweitens sollten auch die immensen Mengen an Output bei der Ressourcenplanung von großen Communities bedacht werden, vor allem wenn sich hier – wie oft zu beobachten ist – eine längere Laufzeit anschließt.

Aber dass Community-Größe und die Ressourcen für Moderation, Aktivierung und Auswertung nicht immer proportional zueinander zu verstehen sind, zeigt ein Beispiel aus einem jüngst zurückliegenden Community-Projekt. So hatten wir bei diesem Projekt über Nacht, also von ca. 19:00 Uhr des einen bis um ca. 8:00 Uhr morgens des nächsten Tages über 120 Beiträge, teilweise in der Länge von DIN A4 Seiten. Und dies bei einer Community-Größe von 40 Personen. Hoch involvierende Themen, richtig moderiert und mit der richtigen Zusammenstellung der Teilnehmer schafft den "social glue", den Community-Projekte benötigen, um das zu liefern, was sie versprechen.

Wichtiger als Laufzeit und Anzahl an Teilnehmern ist die Qualität des "social glue". Dafür sind vor allem die Aktivierung der Teilnehmer, das Schaffen von gemeinsamen Zielen, Interessen und Werten, und schließlich die laufende Moderation verantwortlich.

Ich glaube, dass zu große und zu lange Communities diese Qualität im Hinblick auf den "social glue" nur eingeschränkt liefern können. Je mehr Teilnehmer mitmachen und ihre Sicht der Dinge darstellen und diskutieren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Meinung schon von jemand anderem verfasst und diskutiert wurde. In diesem Falle besteht für den einzelnen kein Grund, diese erneut zu verfassen und damit beizutragen. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Teilnehmer ein aktives Mitglied der Community wird. Im besten Falle bleibt er passives Mitglied und verfolgt die Diskussionen nur gelegentlich.

Und nicht zu vergessen bleibt, dass je größer die Menge an Input in der Community ist, desto schwerer ist es auch, aktuell am Ball zu bleiben und zu folgen, da der Leseaufwand deutlich steigt. Das führt bei nicht wenigen Teilnehmern zu einer Verringerung der Aktivität.

Technologie ist nur ein Hilfsmittel und liefert per se noch keine Ergebnisse

Man kann sagen, dass die technologische Entwicklung die Methode der Online Research Communities erst ermöglicht hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wahl der technischen Plattform entscheidend für den Erfolg von Community-Projekten ist.

Ich werde oft gefragt, was das wichtigste bei Community-Projekten ist, worauf man am meisten achten muss. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass dies zwei Bereiche sind:

  •     Rekrutierung
  •     Moderation

Bei der Rekrutierung ist nicht nur entscheidend, dass man formal die richtigen Menschen in die Community aufnimmt. Alter, Geschlecht, Markenverwendung, Kauffrequenz oder ähnliche "harte" Kriterien sind hier sicher zu berücksichtigen, um aussagekräftige Ergebnisse zu produzieren. Aber viel wichtiger für den Erfolg der Community ist, dass sich die Teilnehmer mit dem Thema der Community identifizieren und Lust auf einen Austausch mit anderen zu dem Thema haben. Und es ist wichtig, dass sich die Teilnehmer gerne im Internet mit anderen austauschen. Das Niveau des Engagements ist soweit wie möglich im Vorfeld abzuschätzen. Je größer das Involvement, desto reichhaltiger sind die Ergebnisse. Das bedeutet manchmal, dass man Stichprobenverzerrungen sehenden Auges in Kauf nehmen muss.

Diese Anforderungen an eine andere Form der Rekrutierung ist für die klassischen Rekrutierungswege der Marktforschung etwas Neues. Auch wenn dies nicht offen kommuniziert wird, merkt man, dass sich klassische Rekrutierungsdienstleister schwer tun bei der Bearbeitung einschlägiger Anfragen. Das ist von mir in keiner Weise als Vorwurf gemeint, vielmehr weise ich darauf hin, dass alternative und kreative Rekrutierungswege für die Teilnehmer an Research Communities bisher keineswegs ausgeschöpft sind (z.B. über natürliche Communities oder soziale Netzwerke, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen).

Die Moderation in Research Communities geht weit über die Moderation von Offline-Gruppendiskussionen oder Einzelinterviews hinaus. Teilnehmer in Research-Communities "reden" miteinander, sie "reden" mit den Moderatoren und sie "reden" mit dem Marketing unserer Kunden (soweit dies gewünscht ist).  Sie tauschen Ideen aus, aber sie tun dies in ihrer eigenen Sprache. Sie werfen Fragen auf, über die wir als Researcher noch nicht nachgedacht haben. Und sie beantworten sich diese Fragen selber, in der Community. Mit anderen Worten, wichtig ist der "social glue" um zu einem ganzheitlichen Verständnis zu kommen. Und das kann nur erreicht werden, wenn auf unterschiedlichen Ebenen zielführend moderiert wird.

Gute Community-Moderatoren haben einen guten Schreibstil und sind mit den Funktionen und Interaktionen im Hinblick auf Social Media vertraut. Aber Community-Moderatoren müssen die Diskussionen auch steuern, wenn sie entweder zu lange dauern oder wenn sich Themen und Diskussionsstränge entwickeln, die dem Erkenntnisinteresse nicht dienlich sind. Auf der anderen Seite müssen sie spüren, wann sich Themen in der Diskussion entwickeln, die interessant genug für eine inhaltliche Vertiefung sind.

Die wichtigste Aufgabe der Moderation ist es jedoch dafür zu sorgen, dass die Identifikation der Teilnehmer mit dem Thema der Community hoch ist, um so aus einer incentive-getriebenen extrinsischen Motivation eine möglichst inhalts-getriebene intrinsische zu machen.

Zuletzt ein paar Worte zur internen "Vermarktung" von Community-Projekten. Die Möglichkeiten als Auftraggeber, live und aktiv am Community-Leben teilzunehmen, ist nicht hoch genug zu bewerten. Erfolgreiche Community-Projekte setzen jedoch auch voraus, dass organisatorisch im Vorfeld ein paar Gedanken aktiv ausgetauscht wurden.

Community Projekte benötigen Aufgeschlossenheit bei den internen Auftraggebern, denn eingefahrene Denk- und Rollenmodelle stehen auf dem Prüfstand. Ich habe es schon einige Male erlebt, dass die klassisch getrennte Organisationsstruktur von betrieblicher Marktforschung und Marketing dazu geführt hat, dass man sich nicht einigen konnte, in welchen Bereich eine Research Community fällt. Klar ist, dass die Grenzen zwischen Verantwortlichkeiten verwischen können. Online Research Communities fallen nicht "natürlich" in die Verantwortlichkeit der betrieblichen Marktforschung. Aber mit Hilfe der Methode kann sie ihre internen Kunden näher an die Lebensrealität der Konsumenten holen, moderiert, strukturiert und in den allermeisten Fällen mit jeder Menge vorher unbekannter Ergebnisse.

 

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