Alexandra von Cukrowicz, Bonsai Lab Stärken stärken

(Bild: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose)
Qualitative Forschung – persönlich, subjektiv und tief
Die qualitative Forschung war seit ihrer Entstehung Kritik und Herausforderungen ausgesetzt. Das hat qualitativ Forschende aber nicht beirren können, sondern stark gemacht für das, was kommt. Das zeigte sich auch in der Corona-Krise. Jetzt gilt es, sich auf alte Werte zu besinnen, sie mit Neuem zu verbinden und so die Zukunft zu gestalten. Doch worauf bauen wir auf?
Der Siegeszug der qualitativen Forschung verlief nicht ohne Stolpersteine. Zu subjektiv, nicht standardisierbar, nicht repräsentativ und damit wenig aussagekräftig, mit einem Wort: unwissenschaftlich – so die vernichtenden Urteile der Kritiker seit Anbeginn. Vieles davon stimmt, qualitative Forschung ist nicht repräsentativ. Wir sprechen nur mit wenigen Menschen, dafür aber ausführlich, unvoreingenommen und offen. Wir wollen das Individuum tief und umfassend verstehen, um auf dieser Grundlage Rückschlüsse auf Bedürfnisse und Motivationen führen zu können.
Dieses tiefe Eintauchen in unterschiedliche Lebenswelten macht unseren Forschungsbereich aus. Dabei gehört das Verstehen des Kontexts, das sozio-kulturelle Konstrukt, das Menschen prägt, in meinen Augen so sehr dazu wie die Befragung selbst. Für mich steht gute, qualitative Forschung auf drei Säulen:
- die Befragung an sich,
- das implizite Verstehen durch (persönliche oder heute auch KI-gestützte) Beobachtung,
- das Erfassen des sozio-kulturellen Kontexts.

Die drei Säulen der qualitative Forschung (Grafik: Bonsai Lab)
Auch die Analyse arbeitet weitgehend ohne Hypothesen. Ausgehend vom Verstehen des Befragten und angereichert mit semiotischem und kulturellem Kontext entstehen Erkenntnisse, die das „Warum?“ erklären, das die quantitative Forschung oftmals offenlassen muss.
Es entwickelten sich spannende Ansätze wie die ethnographische Forschung, die sich aus dem Methodenpool der Ethnographie bediente. Teilnehmende Beobachtung hieß das Zauberwort: Der Forschende bleibt als Teil der Gruppe in einer Rolle des Beobachtenden, um kulturelle Zusammenhänge und Strukturen der Gemeinschaft zunächst einmal ohne Wertung aufzunehmen. Ich gebe zu, dass diese Art der Forschung sehr viel Spaß machen kann, zum Beispiel, wenn ich mit jungen Leuten zum Thema Rauchen um die Häuser zog, zum Thema Haare färben mit Frauen beim Friseur war oder sie im Badezimmer beobachten durfte. Auch begleitetes Shopping, um den Einfluss von Marke auf das Einkaufsverhalten von Freundinnen zu beobachten, war spannend. Und so war die qualitative Forschung vor allem auf den persönlichen Kontakt angewiesen und bezog daraus ihre Kraft.
Digitalisierung – Herausforderung & Chance
Bis in die Anfänge des neuen Jahrtausends war der persönliche Kontakt die Basis unserer Profession. Aber auch vor uns machte die Digitalisierung keinen Halt: Menschen sind fasziniert von digitalen Services, lieben Gamification und sind vielfach besser online als offline erreichbar. Hinzukam die Verheißung, dass die digitale qualitative Forschung Geld und Zeit sparen würde. Und so fing die qualitative Forschung – zunächst einmal sehr zaghaft und verhalten – an, digitale Methoden auszuprobieren. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine erste Online-Gruppendiskussion vor ca. 20 Jahren: Heute würde man sie wohl eher als Diskussionsforum bezeichnen, denn es handelte sich um einen schriftlichen Austausch ohne Video. Wir waren zwei Moderatorinnen,denn schon die schlichte Fähigkeit der Teilnehmenden, zu tippen, war sehr unterschiedlich. Oft antwortete jemand erst auf eine Frage, wenn der Rest der Gruppe bereits beim nächsten Thema angelangt war. Unser Fazit damals: Wir haben online im Prinzip die gleichen Erkenntnisse gewonnen wie offline – aber sie waren weniger klar, häufig fehlte der Kontext, um das Geschriebene einordnen zu können.
Seit diesen Tagen ist viel passiert. Online-Communities, Online-Interviews, digitale „Hausaufgaben“ oder auch Online-Gruppendiskussionen sind heute ein wesentlicher Bestandteil moderner Forschung. Wichtig dafür war die fortschreitende, technische Entwicklung sowohl auf Seiten der Forschenden als auch bei den Teilnehmenden. Denn was nützt es, wenn der Forschende über Highspeed-Internet verfügt, aber auf der anderen Seite jemand sitzt, der seine Kamera nicht einschalten kann?
Da kam die Pandemie wie ein Katalysator genau zum richtigen Zeitpunkt. Von einem Tag auf den anderen mussten alle Projekte online durchgeführt werden. Und das war wirklich eine Herausforderung, denn im Lockdown 2020/2021 war an persönlichen Kontakt nicht zu denken. So haben wir auch ethnographische Interviews und Shopping Missions als Video-Tagebuch digital durchgeführt. Auch Workshops mit Kunden, Co-Creation-Prozesse und Ideation sind mit der richtigen Vorbereitung und Technik sowie der Anpassung der Tools durchführbar. Und siehe da: Es funktioniert!
Also Ende gut alles digital?
Ich beantworte diese Frage mit einem klaren JEIN. Die Wahl der Methode entscheidet sich wie immer auf Grundlage der Fragestellung. Technik um der Technik willen zu nutzen, war noch nie eine gute Idee. An alten Gewohnheiten festzuhalten aber auch nicht. Die Zukunft wird den agilen und experimentierfreudigen, qualitativen Forschenden gehören, die keine Angst vor Rückschlägen haben, sondern einfach Neues ausprobieren, mit Altem verknüpfen und so die reichhaltigsten Insights gewinnen und zum Beispiel:
- In WhatsApp-Befragungen Deutschlands beliebtesten Messenger-Dienst nutzen, um nebenbei, intuitiv und auf Augenhöhe mit Menschen in Kontakt zu treten.
- KI nutzen, um Auswertungen von großen Textmengen und Bildern und/oder Sentiment-Analysen durchzuführen.
- Teilnehmende Beobachtung mit Eye Tracking, Facial Coding oder Tonalitätsanalysen unterstützen, um sozial erwünschtes Antwortverhalten zu enttarnen.
- Mit Virtual und Augmented Reality neue Möglichkeiten einer Technologie zur Interaktion nutzen, deren Höhepunkt noch längst nicht erreicht ist. Denn bereits heute zeigt sich, dass AR und VR deutlich besser geeignet sind, persönlichen Kontakt herzustellen, als herkömmliche Videokonferenzen.
Und so steht unserer Branche eine weiterhin spannende und herausfordernde Zeit bevor, die auch von uns Forschenden neue Skills abverlangt. Datenverknüpfung ist für mich in diesem Zusammenhang das Schlüsselwort. Und zwar nicht nur in der alten Logik der Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Daten. Vielmehr geht es darum, die Ergebnisse moderner, technischer und spielerischer Elemente zusammenzubringen mit tiefgehenden Insights – mit impliziten Messungen, bereits vorhandenen (Kunden-)Daten, realen Absatzzahlen sowie semiotischen und kulturellen Analysen. So werden wir die Realität noch besser abbilden. In diesem Sinne bietet uns die Digitalisierung so viele Möglichkeiten – nutzen wir sie! Denn das wahre Leben lässt sich nicht simulieren.
Über Alexandra von Cukrowicz

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