Wohnen Stadtflucht oder Landflucht – Zwischen Klimawandel, Infrastruktur und Wachstum

Wohin zieht es die deutsche Bevölkerung – aufs Land oder in die Stadt? (Bild: Adobe Stock – debararr)
Immer mehr Menschen zogen in den vergangenen Jahren in die Städte. Wie die Statistik zeigt, lebten 2020 etwa 77,5 Prozent der Deutschen in Ballungszentren. Prognosen zufolge soll sich die Zahl bis zum Jahr 2050 auf 84,3 Prozent erhöhen. Als Vorteile des urbanen Lebens gelten neben kurzen Arbeitswegen auch die abwechslungsreichen Freizeit- und Kulturangebote. Doch der Trend scheint sich zu ändern.
Die meisten Metropolen mit mehr als 500.000 Einwohnern verzeichnen noch im Jahr 2019 ein Wachstum. Demnach gab es mehr Zuzüge als Fortzüge. Am höchsten war der sogenannte Wanderungssaldo in Berlin. Hier wohnten im Jahr 2019 23231 Menschen mehr als noch 2018. Stuttgart und Bremen als einzige Städte hingegen wiesen mehr Fortzüge als Zuzüge auf.
Der Klimawandel und die Stadt- und Landflucht
Als eines der brisantesten Themen der Gegenwart ist es nicht irrelevant, zunächst einen Blick auf den Klimawandel und den Zusammenhang zwischen ihm und dem Zuwachs der Städte zu werfen. Dazu kann grundsätzlich erst einmal gesagt werden: Vor allem größere Städte sind vom Klimawandel und dessen Folgen stark betroffen, sie tragen aber gleichzeitig auch zum Klimawandel bei.
Und das in drastischer Form. So nehmen Städte zwar nur etwa drei Prozent der Erdoberfläche ein, sie verbrauchen aber global über 70 Prozent der verfügbaren Energie. Außerdem emittieren sie über 70 Prozent des globalen energiebezogenen CO2-Ausstoßes.
Fakten wie diese sind öffentlich und etliche Berichte sind zugänglich, in denen sich ähnliche Hinweise finden. Letztlich sind sie Vorwarnungen: Mit einem Zuwachs der Stadtbevölkerung und einem globalen Wachstum der Städte, wird auch der CO2-Ausstoß der Menschheit weiter ansteigen. Dennoch ziehen die Menschen bislang weiter in die Städte und vom Land ab.
Erstaunlich ist das auch, weil die meisten Deutschen den Klimaschutz als eine wichtige Zukunftsaufgabe erachten. Ganz generell ist das Thema Klimawandel – aktuell nach der Corona-Pandemie – das „Topthema“ unter den Deutschen. 69 Prozent der Deutschen stimmen so auch beispielsweise der Aussage zu, dass man zukünftige Generationen im Stich lassen würde, wenn die Menschen jetzt nicht gegen den Klimawandel kämpfen. So das Ergebnis einer internationalen Studie des Markt- und Meinungsforschungsunternehmens Ipsos. Vor allem der vermeintliche Mangel eines klaren Plans der Politik wird vermisst.
Der Verzicht auf einen Umzug vom Land in die Stadt wird als persönliche Verhaltensänderung im Kampf gegen den Klimawandel allerdings wohl seltener in Betracht gezogen. Stattdessen möchte man vor allem auf den Kauf neuer Produkte verzichten und Verpackungsmüll reduzieren.
Abwanderung durch hohe Mieten und Corona
Ob diverse Prognosen zur Abwanderung vom Land der Wirklichkeit standhalten werden, bleibt abzuwarten: Wer in einer deutschen Großstadt lebt, muss mittlerweile enorm hohe Kosten für die Miete zahlen. In den vergangenen Jahren haben die Mietpreise bei gleichbleibenden Gehältern deutlich angezogen. Folge ist, dass immer weniger Menschen sich ein Leben in der Stadt leisten können. Hinzu kommt die Corona-Krise, die künftig zu einer verstärkten Abwanderung aus den Metropolen führen könnte.
Zu diesem Schluss kommt das ifo-Institut aus München. „Die Corona-Pandemie könnte dem bestehenden Trend der Abwanderung aus Stadtzentren in den Speckgürtel einen starken Schub geben“, heißt es in einer Pressemitteilung. Nach einer Studie, die das Institut gemeinsam mit dem Immobilienportal immowelt durchgeführt hat, planen 13 Prozent der Teilnehmer aus Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern, die Stadt in den kommenden zwölf Monaten zu verlassen, heißt es dort. Fast die Hälfte der Befragten habe angegeben, dass die Corona-Pandemie ihre Entscheidung beeinflusst habe.
Menschen wollen in die Speckgürtel
Auch Interhype registriert eine Tendenz zur Stadtflucht, zur Suburbanisierung, wie dieses Phänomen auch genannt wird: Wollten im Jahr 2016 noch 63 Prozent ein Haus in einer Stadt mit 500.000 und mehr Einwohnern kaufen, seien es im ersten Halbjahr 2020 nur noch 57 Prozent gewesen.
Die Befragung zeigt außerdem auf, dass es die Stadtbewohner zunehmend in Mittel- und Kleinstädte zieht und nur wenige Wohnen auf dem Land vorziehen (drei Prozent/2020). Auch die Baufinanzierer gehen davon aus, dass die Pandemie und die Möglichkeit des Homeoffice die neue Landlust der Städter befördert. Wenn es mobiles Arbeiten erlaube, dass der Arbeitsweg nur noch zweimal in der Woche anfalle, entstehe zeitliche und finanzielle Ersparnis, die das Eigenheim in ländlichen Gebieten sowie in Klein- und Mittelstädten zu einer leistbaren und praktikablen Alternative werden ließen. Voraussetzung müsse jedoch eine gute Infrastruktur sein.
Dorf wird zum Sehnsuchtsort

Landregionen und Döfer als Sehnsuchtsorte (Bild: Adobe Stock – Wild Tarp)
Viele ländliche Regionen haben in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen erheblicher Abwanderung gekämpft. Hier fehlen Arbeitsplätze, die Bevölkerung überaltert, die Infrastruktur ist häufig kaum attraktiv. Für Städter galten Dörfler oft als Hinterwäldler. Mittlerweile scheint vielen Familien das Land als Sehnsuchtsort zu gelten, an dem sie sich entfalten können.
Dabei ist die beobachtete Abwanderung eine Entwicklung, die im Grunde in Widerspruch zu der sonst vielbeschworenen Landflucht steht. Schon lange vergreisen die Dörfer, Unternehmen wandern ab, junge Erwachsene ziehen massenhaft in die Stadt. Zwischen 2008 und 2014 zogen rund 250.000 Deutsche mehr in die Ballungszentren als Städter aufs Land.
Vielleicht ist das Verhalten der umzugswilligen Stadtmenschen, Landluft vorzuziehen, lediglich die Konsequenz der herrschen Zustände in den Städten: Verkehrsinfarkte, Wohnungsknappheit, Horrormieten lassen den Wunsch nach Ruhe und Überschaubarkeit größer werden.
Drei Gründe für gebremstes Wachstum
Das gebremste Wachstum in den deutschen Großstädten durch Corona interpretiert auch das Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, das Einwohnermeldedaten der 15 größten Städte in Deutschland ausgewertet hat. Drei Gründe nennen die Forscher für die entgegen aller Prognosen schwindenden Zuwächse: Weniger Geburten, eine geringere Zuwanderung und mehr Todesfälle im Corona-Jahr 2020. Das durchschnittliche Minus beziffern die Leipziger mit 0,18 Prozent. Mit München, Hamburg und Leipzig hätten lediglich drei Städte bei dem Vergleich etwas zulegt. Für das laufende Jahr geht das Institut ebenfalls von geringeren Wachstumsraten in den Städten aus.
Wie es aussieht, wurden im ersten Corona-Jahr 2020 langjährige Trends der Einwohnerentwicklung in Deutschlands 15 größten Städten gebremst beziehungsweise unterbrochen,
so die Forscher.
Leben auf dem Land schon vor Corona beliebt
Doch auch in den Zeiten vor Corona zog es Familien vermehrt in die Speckgürtel der Metropolen. Wie passt das mit der Statistik zusammen, die in der Vergangenheit stetige Zuwächse verzeichnete?
Die Zuwächse in den Metropolen, zu diesem Schluss kommt das Institut der Deutschen Wirtschaft, IW, hängen in erster Linie mit der gestiegenen Zahl der Singles und Zuwanderer zusammen. Für das Kölner Institut hat das Wachstum der Städte in Deutschland, allen voran Berlin mit jährlich 1,4 Prozent sowie Hamburg und München um je 1,1 Prozent bis 2019 eine „historische Dimension erreicht. Wohnungssuchende Familien verließen wieder häufiger die Ballungsräume, wohingegen junge Deutsche und Migranten zum Studieren oder Arbeiten in die Metropolen zögen. Den Grund für die Abwanderung sahen die Forscher 2019 in den steigenden Preisen für Wohnraum in den Zentren.
Städte: Enger, überfüllter, teurer

Das Leben in Städten soll zukünftig immer komfortabler werden (Bild: Adobe Stock – BullRun)
Die Städte in Deutschland werden immer grüner, Stadtplaner planen Quartiere immer nachhaltiger, es gibt mehr alternative Wohnformen in den Metropolen, und immer mehr Initiativen kümmern sich darum, mehr Natur in die Ballungszentren zu bringen und diese dort zu erhalten.
Trotzdem gibt es über die reine Landsehnsucht vermehrt Gründe, die das Leben im Dorf oder in der Kleinstadt für viele Familien attraktiver machen. Zum Beispiel die Möglichkeit, im Homeoffice mehr von zu Hause aus arbeiten zu können, begünstigt offensichtlich die Stadtflucht in die Speckgürtel. Die neuen Landbewohner bestehen allerdings nicht überwiegend aus Freiberuflern, die überall dort arbeiten können, wo ein Schreibtisch und eine gute Internet-Verbindung vorhanden sind – auch Ärzten, Lehrern und Handwerkern gefällt das Landleben mehr und mehr. Vor allem die 30 bis 50-Jährigen wollen raus aus der Stadt.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Meisten Familien gegründet und ziehen aufs Land und bleiben in den meisten Fällen auch dort. In Baden-Württemberg zum Beispiel zogen in den Jahren zwischen 2017 bis 2019 16 von 1000 Familien aus den neun größten Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern.
Im Vergleich: Im Zeitraum von 2008 bis 2010 waren es acht Familien und damit die Hälfte, die sich für ein Leben auf dem Land entschieden. Für das Statistische Landesamt Baden-Württemberg spricht einiges dafür, dass sich an diesem Trend nichts ändern werde, wenn die durch Wohnungsknappheit bedingten hohen Wohnungskosten nicht sinken würden.
Schlechte Infrastruktur ist ein No-Go
Für die Gemeinden können sich die Zuzüge lohnen. Dafür müssen sie jedoch eine vernünftige Infrastruktur schaffen, um für umzugswillige Städter attraktiv zu sein. Ländliche Regionen mit schlechter Infrastruktur profitieren wenig von der Stadtflucht. Vor allem eine gute Breitbandversorgung sowie eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sind Kriterien, nach denen Städter ihren neuen Wohnort auswählen. Von den 294 Landkreisen in Deutschland verzeichnen derzeit 284 ein positives Wanderungssaldo. Besonders die Nähe zu Großstädten beschert den Kommunen zusätzliche Einwohner.
Natürlich hat das auch Folgen: Durch das große Interesse an ländlichem Wohnen ziehen auch hier die Immobilienpreise stark an. In den vergangenen fünf Jahren sind die Preise durchschnittlich um 57,8 Prozent gestiegen, mehr als in den Städten, wo das Preiswachstum bei durchschnittlich 43,9 Prozent liegt. Die deutlichste Steigerung der Angebotspreise verzeichnet das Berliner Umland, es folgt die Region Stuttgart.
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