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Achim Kirschhofer, IMAS International GmbH SPIEGEL- Reflex: Die übersehenen Seiten in der "Akte Marktforschung"

Achim Kirschhofer, IMAS International GmbH
Von Achim Kirschhofer, Geschäftsführer IMAS
Ist das, was das Nachrichtenmagazin mit Blitz und Donner über das Netz jagte, die in Stein gemeißelte Wirklichkeit, oder doch nur eine zum Zerrbild verformte Fratze, entstanden aus der Wölbung eines Rasier-SPIEGELS, der auch kleinen entzündeten Stellen einen erschreckende Überdimensionalität verleiht?
Kein Zweifel: Auch ein Rasierspiegel hat eine wichtige Funktion, denn er macht die Miniaturen einer Gesichtspartie besser erkennbar. Dennoch müssen sich die professionellen Sittenwächter die Frage gefallen lassen, welche Rolle eigentlich die Medien im Umfragegetriebe spielen. Sind sie selbst auf der Bühne der Informationsvermittlung eher Faust oder Mephisto?
Medien als Mitverantwortliche des Methodenverfalls
Die Nachschau enthüllt ein merkwürdig gespaltenes Verhältnis zwischen Presse und Demoskopie. Unverkennbar ist das Bestreben der Medien, ihren Vorrang als alleiniges Sprachrohr der Öffentlichkeit zu behaupten und eine ausgeprägte Scheu, ihre Deutungshoheit für jegliches Geschehen mit der Umfrageforschung teilen zu müssen. Andererseits stellen demoskopische Befunde für Fernsehen, Radio und Print ein unverzichtbares Mittel zur Aufwertung ihres Nachrichten- und Unterhaltungsnutzens dar. In ihrer notorischen Sucht nach griffigen Inhalten fragen Medien nicht nach der Machart von demoskopischen Ergebnissen. Es interessiert sie weder die Stichprobengröße, noch die Auswahlmethode, noch die statistische Repräsentanz, noch der Ausschöpfungsgrad, noch die methodengerechte Fragestellung. Die Redaktionen achten letztlich auch nicht auf die Reputation und fachliche Erfahrung eines Instituts. Umfrageergebnisse sind für die Medien in erster Linie Behelfe für das Erzeugen von Spannungen. Sie dienen nicht der diagnostischen Betrachtung von politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zuständen, sondern dem Infotainment.
Die Unlust, – häufig freilich auch die Unfähigkeit – der Medien, demoskopische Qualität einzufordern, nutzt den Scharlatanen, Abenteurern und Raubrittern und geht zulasten der seriösen Institute, die mit beträchtlichem finanziellen Aufwand um eine qualitätsorientierte Forschung bemüht sind. Gerade die Medien könnten jedoch mit mehr Willen und besserem Methodenverständnis einen wesentlichen Beitrag zur Qualitäts- und damit auch Existenzsicherung der seriösen Marktforschungsunternehmen leisten.
Folgen und Rückschlüsse
Welche Rückschlüsse sind aus der Online-Philippika des SPIEGEL zu ziehen? Wir selbst, das IMAS, dürfen uns von den Vorwürfen des Nachrichtenmagazins unberührt fühlen, wollen uns aber nicht mit einem Rückzug auf die triviale Formel: "Es gibt weiße und schwarze Schafe" begnügen. Wir wollen auch nicht verhehlen, dass wir die Schar der schwarzen Schafe in unserer Branche für zu groß halten. Insofern begrüßen wir das vom SPIEGEL vollzogenen Aufdecken des Unrats. Wir fassen es auf als einen Weckruf, der längst überfälligen Diskussion über die Missstände in der Marktforschung.
Was uns an der SPIEGEL-Serie allerdings nicht gefällt, ist die Kurzsichtigkeit der Recherche und die Einseitigkeit der Vorwürfe gegen die Felddienstleister von Telefon- oder face-to-face- Umfragen. Auffallend still verhielten sich die Sittenwächter des Nachrichtenmagazins gegenüber der Online-Forschung. So dass unversehens der Eindruck entstehen mag, es handle sich bei ihr um die einzig seriöse und nicht um die in Wirklichkeit manipulationsanfälligste Form der Umfrageforschung. Auch andere qualitäts-bestimmende Merkmale wurden von den schreibenden Kriminalisten offenkundig nicht erkannt und folglich nicht thematisiert.
Paganinis dominieren den demoskopischen Zeitgeist
Nicht enthalten in der demoskopischen Checklist der Missstände war insbesondere der beklagenswerte Verlust des methodischen Grundwissens bei vielen heutigen Betreibern, aber auch Auftraggebern der Umfrageforschung. Vorbei ist die Zeit, in der unter Praktikern förmliche Religionskriege über die bestmöglichen Auswahlverfahren ausgefochten wurden oder in der man über Skalenanalysen (wie etwa der von Guttman, Thurston oder MacKitty) debattierte, bis die Wangen glühten. Passé ist auch das Nachdenken über Fragetechniken, Rangreiheneffekte, die Sinnhaftigkeit semantischer Differenziale, die Abwehr von Interviewereinflüssen, oder die erforderlichen Ausschöpfungsgrade von Stichproben. Die moderne Maxime der Branche lautet "Tempo". Im demoskopischen Zeitgeist dominieren nicht mehr Theoriekenntnis und Methodenbewusstsein, sondern die technische Virtuosität im Umgang mit Web-Programmen. Die Marktforscher mutieren zu demoskopischen Paganinis. Sie beherrschen nach den Idealvorstellungen ihrer modernistischen Deuter den Computer so, wie der italienische Teufelsgeiger einst sein Instrument beherrschte und sind imstande, immer schnellere Töne zu produzieren.
Wo bleibt die analytische Erkenntnis?
Aber wo bleibt die Melodie, – in der Übertragung auf die Marktforschung: die analytische Erkenntnis? Paganini war letztendlich ein Virtuose, nicht mehr. Seine Capricci sind vergessen. Tempo allein ist nicht alles. Das gilt erst recht für die Marktforschung. Bei ihr können systematische Denkprozesse und methodische Gewissenhaftigkeit nicht beliebig durch pseudoanalytische Showeffekte ersetzt werden. Es sei denn, man begnügt sich mit Fastfood. Dann sollte man sich über Ernährungsschäden allerdings nicht beklagen.
Ein Fazit
Was Not tut, ist nicht nur die Befreiung der Marktforschung von betrügerischen Elementen, sondern auch die Abkehr von Amateurhaftigkeit, Dilettantismus und einer hauptsächlich im Bereich der Online-Umfragen wuchernden Scharlatanerie. Es geht um die Rückbesinnung auf die methodischen Fundamente und letztendlich um die Rettung des nach wie vor tauglichsten und wertvollsten Instruments für die Massendiagnose. Eine vertrauenswürdige, gut funktionierende Demoskopie ist heute dringlicher denn je für die fundierte Reaktion auf den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel.
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