Interview mit Dr. Nico A. Siegel (TNS Infratest Sozialforschung) Sozialforschung gestern, heute und morgen

Nico A. Siegel (TNS Infratest Sozialforschung)

Dr. Nico A. Siegel ist Managing Director bei TNS Infratest Sozialforschung.

marktforschung.dossier: Herr Dr. Siegel, TNS Infratest weist eine lange Tradition in der Sozialforschung auf. Wie hat sich der Bereich Sozialforschung in Ihrem Unternehmen entwickelt?

Nico A. Siegel: Vor 30 Jahren hätte wohl kaum einer meiner Kolleginnen und Kollegen bei Infratest geglaubt, dass sich die Sozialforschung in unserem Institut so gut entwickeln würde. Gerade in den letzten 10 Jahren war das Wachstum der Sozialforschung beachtlich. Doch zurück zu Ihrer Frage nach den Wurzeln: Dass die Sozialforschung als eigenständiger Unternehmensteil von Infratest erfolgreich aufgebaut werden konnte, lag vermutlich am Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Erstens, es gab einzelne Personen bei Infratest mit guter sozialwissenschaftlicher Ausbildung und viel Leidenschaft für die Sache. Hinzu kam zweitens, dass stärker als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik, in den 80er und 90er Jahren Sozialsurveys zum festen Bestandteil der wissenschaftlichen Infrastruktur wurden. Bei Infratest hatte schließlich drittens der renommierteste Sozialforscher einen ausgeprägten Riecher für langfristige Entwicklungen: Bernhard von Rosenbladt, der die Sozialforschung bei TNS Infratest maßgeblich als eigenständigen Forschungszweig etabliert hat.

marktforschung.dossier: Sie haben das Wachstum der Sozialforschung in den vergangen Jahren angesprochen. Worauf führen Sie dies zurück?

Nico A. Siegel: Das kann man mit einem, die ganz großen gesellschaftliche Fragen aufgreifenden Statement beantworten, oder auch sehr pragmatisch. Das Interesse an den verschiedenen Facetten des menschlichen Lebens und Zusammenlebens in unserer Gesellschaft ist in Wissenschaft, Politik und übrigens auch in der Wirtschaft nach wie vor groß. Wenn man Menschen als „soziale Wesen“ begreift und ausreichend viel über die wichtigsten sozialen Werte der Menschen und der sozialen Strukturen und Veränderungsprozesse, in denen sie leben, kennt, dann kann man zentrale gesellschaftliche Trends besser verstehen als wenn man beispielsweise nur politische und wirtschaftliche Trends analysiert. 

Ganz praktisch spiegelt sich dies unter anderem im Auf- und Ausbau der öffentlich finanzierten sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschungsinfrastruktur. Vor allem große Längsschnittstudien und kleinere „Exzellenzprojekte“ haben davon besonders profitiert. Zunehmend wichtiger wurde dabei die „Anreicherung“ klassischer, fragenbasierter Surveydesigns durch zentrale Fragestellungen aus den Verhaltenswissenschaften, insbesondere der Psychologie und der Experimentalökonomie. Viel mehr Sozialwissenschaftler als noch vor 20 Jahren zeigen heute keine Scheu mit Psychologen, Biologen und Medizinern interdisziplinär zu kooperieren - mit dem Effekt, dass die Sozialwissenschaftler in „interdisziplinären Forschungsverbunden“ erfolgreicher beim Einwerben von Forschungsgeldern sind. 

marktforschung.dossier: Die eher praktisch orientierte Auftragsforschung für Ministerien oder andere staatliche Organisationen haben Sie nicht genannt. Hat sie an Bedeutung verloren?

Nico A. Siegel: Nein, keinesfalls. Auch die so genannte „Ressort“-Forschung, die wichtige soziale Indikatoren als Grundlage beispielsweise für die Sozialberichterstattung liefert, ist eher durch Expansions- als durch Schrumpfungsprozesse gekennzeichnet. Dies gilt neuerdings vor allem für Evaluationen in der Bildungs-, Familien- oder Arbeitsmarktpolitik. Aber auch unsere Studien zur Alterssicherung in Deutschland für das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales zeigen, dass der eher klassische Bedarf an „kontinuierlicher Gesellschaftsbeobachtung“ weiterhin existiert. Das gilt beispielsweise für die Alterssicherung ebenso wie für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Zuge der Hartz-Reformen. Außerdem kann in Deutschland durch Machtwechsel auf Bundesebene im Vergleich zu stärker zentralisierten Mehrheitsdemokratien wie Großbritannien die etablierte Langzeitbeobachtung in Ministerien im Zuge eines Machtwechsels nicht so einfach aus den Angeln gehoben werden. Koalitionsregierungen und der Föderalismus sorgen dafür, dass wir hierzulande stetiger unterwegs sind als in anderen politischen Systemen. Und durch die Rahmengesetzgebung der EU werden Evaluationen im Zuge eines verpflichtend vorgeschriebenen mehrstufigen Impact Assessments für ausgabenschwere öffentliche Programme auch zunehmend Pflicht. 

marktforschung.dossier: Sie haben Psychologen und Ökonomen genannt, die heutzutage häufiger Analysen auf Grundlage von Daten aus Gesellschaftssurveys durchführen als früher. Könnten Sie hierfür Beispiele nennen?

Nico A. Siegel: Ach, da würden mir viele Namen und Themen einfallen. Das würde unser Gesprächsformat aber wohl sprengen… nehmen Sie nur mal so grundlegende Fragen, wie risikobereit Menschen im Umgang mit Geld sind. Hierzu gab es seitens der Wirtschaftswissenschaften schon lange verschiedenste Experimentaldesigns. Diese wurden aber ähnlich wie gängige psychologische Testverfahren zu verschiedenen Kompetenzen oder der Neigung zu prosozialem Verhalten bis vor 10, 15 Jahren nicht in großen Flächen-Stichproben und über sämtliche soziale Schichten oder Altersgruppen der Bevölkerung in der Bundesrepublik hinweg durchgeführt. Erst im letzten Jahrzehnt wurden diese Messkonzepte Schritt für Schritt sozusagen „feldtauglich“ für Befragungen im Haushaltskontext gemacht. Dadurch können, zum Beispiel in so renommierten Langzeitstudien wie das Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das wir im Auftrag des SOEP im DIW durchführen und maßgeblich zur Armuts- und Reichtumsberichterstattung in Deutschland herangezogen wird, robuste Aussagen zur Wirkung von unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften oder sozialen Einstellungen auf wichtige Lebensbereiche getroffen werden.

marktforschung.dossier: Und welche Fragen stehen dabei konkret im Mittelpunkt?

Nico A. Siegel: Zum Beispiel warum es manchen Menschen besser gelingt als anderen die Bedürfnisse des Augenblicks zurückstellen, um langfristig durch einen „Belohnungsaufschub“ im „Jetzt“, „Später“ mehr zum Konsumieren zu haben. Solche und eine Vielzahl anderer Fragen können heute viel treffsicherer und robuster beantwortet werden als vor 10 oder auch nur 5 Jahren.  Das gleiche gilt für die Frage, ob genetische Abstammung und familiäre Herkunft unsere Entwicklung über die gesamte Lebensspanne stärker prägen als Schule, Beruf oder die „peers“ im Freundeskreis. Wer hier auf einfache Schwarz-Weiß-Antworten setzt, der wird eher enttäuscht. Aber die Frage, inwieweit „nature or nurture“ unsere Entwicklung beeinflussen, kann heute für verschiedene Lebensbereiche besser, weil differenzierter beantwortet werden als noch vor 10 oder 20 Jahren. Zumindest behauptet daher auch keine Ernst zunehmende politische Kraft mehr, dass Intelligenz zu mindestens 80% vererbt sei und Investitionen in die Förderung von Kindern aus benachteiligten sozialen Schichten im Endeffekt auf die Verschwendung von Steuergeldern hinauslaufen. So etwas würde heutzutage wohl elektoralem Suizid gleichkommen.

marktforschung.dossier: In der Marktforschung werden heute häufig zwei Trends ganz wesentlich als Katalysatoren eines umfassenden Wandels in der Branche genannt. Erstens die Digitalisierung und zweitens die viel engere Verknüpfung von Ergebnissen aus Datenerhebungen mit wirksamen Handlungsempfehlungen. Wie sieht das künftig in der Sozialforschung aus?

Nico A. Siegel: Auch hier muss ich Sie vielleicht enttäuschen, eine einfache Antwort gibt es nämlich nicht. Vielleicht zuerst einmal auf der „Meta-Ebene“: mit forecasts für die nächsten 10 bis 15 Jahre wäre ich nicht nur bei finanziellen Performanzindikatoren für mein eigenes Unternehmen eher vorsichtig, geschweige denn für makrosoziale oder volkswirtschaftliche Prognosen. Man denke nur an den aus heutiger Sicht schier unglaublichen Vorhersagefehler der Mehrheit von US-amerikanischen Ökonomen vor der Finanzkrise 2009. Oder an den Mauerfall im November 1989 und die Frage, warum kein etablierter Politikwissenschaftler oder Soziologie hierzulande noch während der großen Leipziger Montagsdemonstrationen im September ’89 das Ende des DDR-Regimes prognostizierte. Fest steht aber: Die Marktforschung bedient sich bereits weit häufiger Methoden von Online- und Mobilerhebungen als es die Sozialforschung macht – und sie setzt bereits viel stärker auf social media Analysen oder „touchpoint“ Erfahrungen. Der Einstieg in „online“ und „mobile“ hat aber auch in der Sozialforschung schon an einigen wichtigen Stellen stattgefunden. Allerdings gebremster als beispielsweise in der Konsumgüterforschung. Die „Offline Erstbefragung“ wird in der Sozial- wie in der Politikforschung zumindest in den nächsten Jahren die Oberhand behalten, zumindest solange in Deutschland nur „offline“ rekrutierte Stichproben für eine solide statistische Infrastruktur in Frage kommen. Allerdings sollte man auch nicht übersehen, dass wir mit wissenschaftlichen Auftraggebern bereits anspruchsvolle Online- und Mobile Befragungen entwickeln. 

marktforschung.dossier: Wie sieht es mit konkreten Handlungsempfehlungen in der Sozialforschung aus?

Nico A. Siegel: Im Vergleich zu wirtschaftlichen Unternehmen sind Entscheidungsprozesse in der Politik durch verfassungsrechtliche und andere formale Vorgaben häufig langwieriger und formalisierter. Zudem zeichnen sich viele politische Felder durch eine hohe Komplexität in der Sache aus. Wer aufgrund medialer Aufmerksamkeitsrituale allzu schnell simple Kurzfristlösungen für langfristig gewachsene Probleme formuliert, tut dies auf Kosten seiner eigenen Seriösität. Kein erfahrener Politik-Profi erwartet nämlich ernsthaft, dass man bei uns „Quick win-Beratung“ für die großen politischen Probleme kaufen kann. Bei einem solchen Versuch würden wir relativ unfreundlich aus den Räumen unserer Auftraggeber verwiesen. Bei den Inhalten von Politik verhält es sich meist so, wie es der Heidelberger Soziologe Max Weber einmal trefflich zusammengefasst hat: „Politik ist das beharrliche Bohren dicker Bretter“. Für das Bohren mit ausreichend langem Atem sind dabei weniger wir als Treuhänder eines belastbaren Wissens über die Gesellschaft verantwortlich als die Berufspolitiker. Und die machen in Deutschland im Übrigen ihre Arbeit häufig gar nicht so schlecht – zumindest lehrt das der Blick auf andere Länder in und außerhalb der EU.

marktforschung.dossier: Das heißt keine „Insights“, sondern strikter neutraler Datenerheber?

Nico A. Siegel: Nein, nicht ausschließlich. Aber wenn „Insights“, dann im wörtlichen Sinn, das bedeutet: keine monokausalen Erklärungen oder gar Prognosen, sondern auf Grundlage ebenso elaborierter wie robuster Analysen belastbare Aussagen zu den zentralen Problem bzw. Fragen des Auftraggebers. Ist das Problem ein komplexes Gesellschaftliches, kann ich den zentralen Befund zwar meist nicht in einem Satz, aber häufig in einem Absatz verdichten. Wo die Sozialforschung in den vergangenen Jahren näher an die Trends der Marktforschung im Hinblick auf konkrete Handlungsempfehlungen für Einzelmaßnahmen herangerückt ist, ist der sehr spezialisierte Zweig von „Behavioral Economics“-Studien. Dieser findet in anderen Ländern bereits sehr viel mehr Beachtung als in Deutschland, zum Beispiel in den USA und Großbritannien. „Wirksam regieren“, einer solchen Initiative hat sich ja auch unsere Bundeskanzlerin verschrieben. Bei unseren Studien in diesem Feld geht es um die Entwicklung oder den Test von Politikmaßnahmen, zum Beispiel von Aufklärungskampagnen für gesunde Ernährung oder Verbraucherschutzmaßnahmen beim Thema Finanzen. Hier setzen wir verschiedene experimentelle Designs ein, testen im Feld alternative Labels oder Produktinformationen auf ihre Wirksamkeit. Aus solchen behavioral economics Studien lassen sich am ehesten Handlungsempfehlungen ableiten, wie man gut gemeinte politische Initiativen effektiv konzipieren kann oder das Verhalten von Bürgern über längere Zeitperioden möglichst nachhaltig verändern kann. 

marktforschung.dossier: Herr Dr. Siegel, herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch!

 

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