Steffen Konrath, evAI Small Data: Mit Kontextinformationen Unternehmen steuern

Alle disruptiven Veränderungen in Märkten sind Small-Data-Ereignisse und nicht prognostizierbar, meint Steffen Konrath von evAI. Dennoch können Unternehmen den Ereignisraum ermitteln und sich auf Unbekanntes vorbereiten.

Textdaten enthalten betriebswirtschaftlich relevante Kontextinformationen, (c) evAI Intelligence GmbH

Ob es um die Außenwahrnehmung eines Unternehmens in bestehenden oder um den richtigen Eintritt in neue Märkte oder die Beurteilung von Trends geht – in Textdaten finden sich meist Informationen, die uns Einblicke in das Regelwerk von Märkten ermöglichen. Wettbewerbsänderungen, Lobbyingstrukturen und Marktbarrieren können kontinuierlich gemessen und Veränderungen im Zeitablauf protokolliert werden. Ein Small-Data-Ansatz hilft uns dabei, noch unbekannte Einflussgrößen zu verstehen und uns auf mögliche Ereignisse vorzubereiten.

Kontext-Informationen im Unternehmensalltag

Nehmen wir das Beispiel eines Schweizer Herstellers für Messgeräte, der den Markteintritt in den US-amerikanischen Markt plant. Erste Versuche sind in der Planung. Die Vertriebsleitung arbeitet bereits an der optimalen Strategie, während die Unternehmensführung noch mit der Frage beschäftigt ist, ob Akquisition oder ein eigenes Vertriebsteam in den USA die bessere Option ist. Marktdaten stehen nicht zur Verfügung, da spezielle Märkte meistens nicht von den bekannten Research-Instituten analysiert werden.

In unserem Anwendungsbeispiel ist der mögliche Markt inhaltlich abgrenzbar: Messgeräte für Lkws sollen genutzt werden, um auf den Zustand der Straßen und deren Lebenszyklus zu schließen. Prognosen über Reparaturzyklen von Straßenbelägen sind bei Vorliegen entsprechender Messreihen möglich. Unser Markt ist der für die Wartung der Highways. So können wir passende Datenquellen sinnvoll thematisch einschränken und kontinuierlich Daten zum Themenfeld anreichern.

Unsere Daten über US-Highways, Reparaturen und beteiligte Unternehmen wie auch staatliche Institutionen oder Entscheidungsträger liegen in Form von Texten vor. Sie enthalten nicht nur die Informationen über die Marktakteure, ihr Zusammenwirken und wechselseitige Abhängigkeiten, sondern auch Informationen über die diskutierten Themen. Was beschäftigt die US-Industrie in diesem Umfeld tatsächlich? Was sagen uns die Themen über den gegenwärtigen Lebenszyklus des Marktes, über Early Adopters, Reifegrad oder Sättigung? Was sind mögliche Ansatzpunkte für die eigenen Narrative, um den wirklichen Marktbedarf zu adressieren? Welche Unternehmen werden am häufigsten genannt, und tauchen in ihrem Zusammenhang auch staatliche Stellen auf? Werden Hinweise auf mögliche Marktbarrieren in den öffentlichen Informationen genannt, die bei einem Markteintritt entscheidend sind?

Das beschriebene Szenario des Schweizer Unternehmens ist einer von vielen möglichen Anwendungsfällen:

Der Vernetzungsgrad der Unternehmen erzählt uns etwas über den Reifegrad. Verbindungen in die Politik weisen auf die Entscheider und marktrelevanten Akteure hin. Mögliche Partner lassen sich so ermitteln, aber auch die relative Wettbewerbsstärke. Aufgrund der Themenanalyse zeigen sich Ansatzpunkte für eigene Produkte oder Dienstleistungen, die am tatsächlichen Bedarf ansetzen und mögliche Wettbewerbsschwächen nutzen können.

Die Ermittlung der Themenfelder, in denen das Unternehmen wahrgenommen wird, erlaubt die durchgehende Überprüfung der Positionierung und des Product-Market-Fit, sprich der Eignung, ein Problem, das wir empirisch im Markt messen, auch tatsächlich aus Marktsicht lösen zu können.

Aus der täglichen kontinuierlichen Erhebung und Analyse erhalten wir ein Marktmodell. Das Modell selbst ist dann ergebnisoffen, wenn es auch Themen semantisch klassifiziert, die wir nicht a priori festlegen müssen. Der semantische Kontext, in dem ein Unternehmen tatsächlich wahrgenommen wird, spiegelt die Positionierung und den Product-Market-Fit. Er zeigt, ob ein Unternehmen im Problemumfeld auch wahrgenommen wird und daher bei Entscheidungen überhaupt eine Rolle spielen kann.

Datenbasierte Unternehmensführung

Unter Sekundärforschung wird laut Wikipedia-Eintrag die „Beschaffung, Verarbeitung und Interpretation von bereits existierendem Datenmaterial“ verstanden. Das zugrundeliegende Datenmaterial wird daher nicht für eine spezielle Forschungsanfrage erhoben, wie es bei der Primärmarktforschung üblich ist. Es kommen grundsätzlich interne wie externe Quellen in Betracht.  In unserem Beispiel sind es alle Datenquellen, die für ein bestimmtes Themenfeld wie „Wartung der Highways“ von Bedeutung sind. Das können Artikel, aber auch TV- und Radiosendungen, Analystenberichte oder Social-Media-Beiträge sein.

Qualitative Daten, wie man sie in Texten als unstrukturierte Daten findet, sind dabei reich an betriebswirtschaftlich relevanten Informationen. Wie Credit Suisse 2019 bereits analysierte, wächst die Datenmenge unstrukturierter Daten exponentiell.

Die bisher verwendeten Marketingwerkzeuge, z. B. für Markenmonitoring oder Social Listening, ermöglichen diesen Ansatz nicht, weil sie die semantischen Informationen, in denen betriebswirtschaftliche Informationen verschlüsselt vorliegen, nicht auswerten. Sie zählen nur Häufigkeiten von Worten aus, ohne den tatsächlichen Kontext inhaltlich zu verstehen. So kann ein Unternehmen zehn- oder hundertmal erwähnt oder geteilt worden sein. Entscheidend ist, ob der Firmenname in marktrelevanten Themenumfeldern eingebettet ist oder ob es Inhalte sind, die keinen Einfluss auf die Entscheidungssituation der Zielgruppe haben. Auch die Sentimentauswertung zeigt sich bei einer manuellen Überprüfung als sehr fehleranfällig, sodass man mit ihr keine verwertbaren Ergebnisse erhält, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden sollten. So bleibt nur die semantische Bestimmung der Kontexte. Kontext ist ein mächtiges Werkzeug zur Interpretation von Märkten.

Ein zweiter wichtiger Punkt spielt beim semantischen Ansatz eine Rolle. „Big data needs, well, a ton of big data. But change starts with small data“, schreibt Martin Schwirn in seinem Buch „Small Data, Big Disruptions“ über die Bedeutung von Small Data. Es sind deshalb „wenige Daten“ verfügbar, weil es noch keine Historie für derartige zukünftige Ereignisse gibt und damit auch keinen Erfahrungsschatz. Alle zentralen Veränderungen in Märkten sind Small-Data-Ereignisse und damit ohne Geschichte. Statische Verfahren greifen nicht und mathematische Prognosen sind bei seltenen Ereignissen nicht möglich. Durch Small-Data-Analysen kann aber der mögliche Zukunftsraum ermittelt werden. So können sich Unternehmen auf denkbare Szenarien vorbereiten und ihre Märkte auf Signale für ein tatsächliches Eintreten untersuchen.

Kontext als Wettbewerbsvorteil

Der Anwendungsvielfalt von Small-Data-Analysen sind keine Grenzen gesetzt. Markteintritte werden erleichtert, weil sich Wettbewerbssituationen und Marktregeln für neue und für bestehende Märkte aus beobachtbaren Daten (Texten) ableiten lassen. Überraschungen zeigen sich immer wieder auch in bestehenden Märkten. Die Rolle im eigenen Markt wird wegen mangelnder Außenperspektive oft über- oder unterschätzt. Durch unstrukturierte Daten ist die Analyse der Marktwahrnehmung von Unternehmen im Unterschied zur internen Analyse, dem Eigenbild, möglich. Die tatsächliche Positionierung in strategischen Themen kann mithilfe einer Datenanalyse, die Kontext versteht, überprüft werden. Sie bietet jederzeit eine aktuelle Messung, ohne auf kosten- und zeitintensive Befragungen setzen zu müssen. Die Korrektur der Positionierung auf Basis möglicher Erkenntnisse senkt die Aufwände im Vertrieb, weil weniger Kraft und Zeit dafür aufgebracht werden muss, mögliche Kunden zu überzeugen, dass man für eine bestimmte Fragestellung der richtige Lösungsanbieter ist. Da unstrukturierte Daten wie Presseartikel, Analystenkonferenzen, TV- oder Radiosendungen immer zur Verfügung stehen, ist auch ein dauerhaftes Monitoring möglich.

Über Steffen Konrath

Steffen Konrath ist Geschäftsführer von evAI Intelligence GmbH mit Schwerpunkt Small Data Analysen auf Basis künstlicher Intelligenz. 2018 gründete er die inzwischen grösste Schweizer KI Community mit über 4.200 Mitgliedern und regelmässigen Veranstaltungen rund um das Thema Anwendungen in der KI und er doziert zum Thema an Hochschulen in der Schweiz. evAI gewann 2021 den Deutschen Startup Pokal und den EY Startup Award, Public Voting.

 

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