Sind wir innovativ oder tun wir nur so?

Oliver Tabino (Q | Agentur für Forschung)

Oliver Tabino (Q | Agentur für Forschung)

Von Oliver Tabino

Keine Ahnung, ob das eine subjektive Beobachtung ist oder empirisch nachweisbar, aber die Zukunft der Marktforschung wird so heftig diskutiert, wie schon lange nicht mehr. Natürlich vor allem innerhalb der Branche, denn außerhalb unserer Branche dürfte das Thema Marktforschung ziemlich uninteressant sein. Das ist zwar schmerzlich fürs Mafo-Ego, aber nicht verwunderlich.

Wo geht’s denn hier zur Selbsterkenntnis?

Eigentlich geschieht es uns ja recht! Wir Marktforscher stehen unter Innovations-Druck. Nur, wer innovativ ist, wird überleben, zukunftsfähig sein und den Angriffen auf die Marktforschung aus anderen Branchen und Sektoren Stand halten oder gar für sich nutzen können. So wird gesagt, geschrieben, geposted, vorgetragen. Wieso soll es uns nicht anders ergehen wie dem Rest der Welt? Jahrzehntelang konnten wir (scheinbar) unsere eigenen Probleme verlagern auf andere, nämlich auf unsere Kunden. Alles haben wir getan, um von uns selbst abzulenken. Die meisten unserer Kunden befinden sich in einem dauerhaften Innovations-Hamsterrad. Marketer und Werber müssen immer und immer wieder Impulse schaffen, um die Aufmerksamkeit von potenziellen Kunden zu erhaschen. Produktentwickler und F&E-Abteilungen sollten am besten die Innovationspipeline für die nächsten 10 Jahre befüllt haben und stehen unter enormem Druck. Das Haifischbecken ist voll und wird immer voller: Trendgurus tummeln sich ebenso wie Marktforscher oder eben ganz neu die Crowdsourcer und Co-Creation-Anhänger. Aber: Das Allheilmittel wurde noch nicht gefunden. Die Blockbuster-Innovations-Planer mit 100%er Erfolgsgarantie gibt es nicht. Oder doch? Wenn ja, dann könnte man ja das Risiko einer erfolgsbeteiligten Entlohnung eingehen und nicht auf Festpreise setzen, aber das nur als Nebenidee.

Ketzerisch gesagt, eine Branche oder deren Unternehmen, die sich der eigenen Nabelschau verweigern, nicht imstande sind, selbstkritisch zu sein und sich nicht dauerhaft, als Bestandteil des genetischen Codes, um das Thema Zukunft, Veränderungen, gesellschaftlichen Wandel und seine Auswirkungen und Innovationen kümmern, hat versagt und seine Berechtigung verwirkt. Die Zukunft der Profession sollte meines Erachtens Dauerthema und nicht temporäres Schwerpunkt-Thema sein. Wer sind also die Olivettis der Marktforschung?

Also gut, Heilsbringer Innovation.

Themenschwerpunkte des diesjährigen BVM-Kongresses waren „innovative Instrumente, wegweisende Beispiele und komplexe Ansätze“. Im BVM Inbrief (Aprilausgabe) ist zudem der interessante Artikel „Innovation findet an den Systemgrenzen statt“, der sich ganz offensichtlich mit dem Thema „Innovation“ beschäftigt. Auf Basis der neuen Systemtheorie wird die Behauptung aufgestellt, dass Innovationen nur an den Systemgrenzen möglich sind. Wenn man dieses, zugegebenermaßen hier verkürzt dargestellte, Theorem weiterdenkt und ich es richtig interpretiere, dann könnte man die Frage stellen, inwieweit beispielsweise Verbände überhaupt in der Lage sind, wirklich innovativ zu sein. Oder zumindest als Innovations-Treiber und Förderer zu fungieren? Ähnliches würde dann für große Player aus der Branche gelten. Und, wie in vielen anderen Branchen werden ja innovative Unternehmen oder Ideen aufgekauft und nicht selbst entwickelt, weil eben die Organisation, die Institution sich mitten im System befindet und kaum Kontakt zu den Systemgrenzen hat. Das heißt für mich, nicht nur wir selbst als Instituts-und Betriebsmarktforscher, und Teil dieses Systems müssen uns ständig hinterfragen, sondern auch unsere Verbände, Medien und anderen Akteure. Wir alle sind dafür verantwortlich, dass Positives und Erhaltenswertes Bestand hat und Negatives oder Bedrohliches angegangen wird und dass es genügend Spielräume gibt, die das Austesten und Überschreiten der oben genannten Systemgrenzen erlaubt.

Inkrementalismus vs. Disruptive Ideas

Große Reden haben wir geschwungen (ich nehme mich selbst nicht aus) und über innovative Ideen schwadroniert. Aber was haben wir getan? Die 50. Conjoint-Variante vorgestellt. Oder das Design von Online-Fragebögen mit netten Gimmicks aufgehübscht? Oder Fragetechniken aus den unterschiedlichsten Bereichen der Psychologie adaptiert? Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann sind das keine bahnbrechenden, weltverändernden Innovationen, sondern Optimierungen auf kleinster Ebene. Marktforschung 2.1.1. auf die Ebene Marktforschung 2.1.2. gebracht. Für einen Paper-Award genug, aber um der Branche eine neue Ausrichtung zu geben oder neue Horizonte zu eröffnen, viel zu wenig.

Luke Williams beschreibt in seinem aktuellen Buch „Disrupt“ den Unterschied zwischen Optimierungen oder inkrementellen Innovationen und disruptiven Ideen. Solche Ideen überschreiten Systemgrenzen, sie stellen in ihrer Radikalität ganze Branchen, Sektoren oder allgemeiner gesagt Denkbilder in Frage und haben eventuell auch die Kraft, diese zu verändern. Im Moment fallen mir nicht so viele Ideen oder Innovationen in der Marktforschung ein, die diese Kraft entwickelt haben. Einige von Ihnen werden sagen: die Online-Forschung. Andere wiederum werden das Thema Social Media anbringen.
Es lohnt sich jedoch immer auch bei Hype-Themen genau hinzusehen, denn es lässt sich darüber streiten, ob so etwas wie Social Media Monitoring eine disruptive Idee ist und echte Systemgrenzen überwindet oder nicht. Und, ob wir uns innerhalb kürzester Zeit bereits im Stadium der Optimierungs-Innovationen befinden also immer mehr vom Selben machen und der Mehrwert für uns und unsere Kunden kaum erkennbar ist? Egal wie die Bewertung ausfällt, Social Media hält uns auf jeden Fall den Spiegel vor und konfrontiert uns mit einer entscheidenden Frage: Was ist unser Geltungsbereich heute und in der Zukunft? Welche Pfründe sind zu verteidigen und welche Systemgrenzen müssen wir mit breiter Brust erobern? Bringen uns Open Data Anwendungen und kostenlose Research-Tools an die Existenzgrenzen oder eröffnen sich dadurch neue Chancen?

Gerade wurde von Derwent Capital Markets der erste “social-media based Hedge Fund” aufgelegt. Angeblich mit 25 Millionen Pfund Kapital. Mit dem Ziel, basierend auf Twitter-Sentiment Analysen die Trading Strategie zu verbessern. Ist das nun eine Chance für Statistiker und Daten-Modellierer oder eine Gefahr? Gibt es neue Wertschöpfungs-Ketten für die Markt- und Sozialforschung? Wo gibt es Chancen und Möglichkeiten? Wo stehen wir uns als Branche selbst im Weg? Wo können wir unsere Kompetenzen sinnvoll einbringen und am besten noch kapitalisieren? Wo sind andere besser? Wo könnte es weh tun? Und eine große Frage: Wo und wie könnten Markt- und Sozialforscher die Welt verändern?

Eines dürfte klar sein. Sich an die Systemgrenzen zu begeben, bedeutet immer Neuland zu betreten, den gewohnten Grund zu verlassen, Veränderung zuzulassen, Risiken einzugehen und Kontinuität aufzugeben. Das ist nicht immer einfach. Besonders nicht für starre Organisationen. Wenn wir als Branche diesen Weg beschreiten, dann werden wir Fehler machen und aus diesen lernen. Dann werden wir streiten müssen, um uns wieder zu vertragen (oder nicht). Dann werden wir uns immer und immer wieder herausfordern müssen. Dann werden wir aber auch eine Generation von Marktforschern brauchen, die querdenken, die Verantwortung übernehmen und keine Risiken scheuen.

Der Umgang mit Social Media lehrt uns noch etwas Wichtiges: Social Media bedeutet nämlich immer wieder eine Art von Kontrollverlust. Diesen werden wir mit Sicherheit in Zukunft noch häufiger erleben. Und wir werden lernen damit umzugehen oder Kontrollverlust sogar zu genießen und als Chance zu begreifen.

Deswegen gilt für mich mehr als je zuvor: I love Mafo!

 

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de