Fachartikel von Mareike Oehrl Self-Tracking – ein unverstandener Hype?

Mit der verstärkten Aufmerksamkeit für die Selbstvermessung ist auch die Neugierde vieler gestiegen, was die Selbstvermesser antreibt: Wollen sie sich zwanghaft selbstoptimieren oder versuchen sie nur, ihren Alltag zu dokumentieren und mit den so gewonnenen Daten über den Alltag nachzudenken? Und was bewegt sie dazu, diese teils sehr intimen Daten im Internet vor einer breiten Öffentlichkeit zu veröffentlichen?
Diese Fragestellungen waren für uns der Anlass, das Phänomen Selbstvermessung einmal genauer unter die Lupe zu nehmen: In einer qualitativen Studie mit 18 Selbstvermessern untersuchten wir deren Motive und fokussierten dabei auf ihre Online-Kommunikation über Selbstvermessung.
Self-Tracking, Quantified Self, Lifelogging – Selbstvermessung hat viele Namen
Obwohl Selbstvermessung kein neues Phänomen ist, herrscht bislang noch eine große Begriffsvielfalt und auch -verwirrung: Selbstvermessung wird synonym mit Begriffen wie Self-Tracking, Lifelogging und Quantified Self verwendet. Unter Selbstvermessung verstehen wir die aktive Erfassung verschiedener körperbezogener Daten, die sowohl handschriftlich als auch elektronisch erfolgen kann. Dabei ist die Auswertung der erfassten Daten jedoch keine notwendige Bedingung. Bei der Selbstvermessung zeigt sich jedoch eine gewisse wissenschaftliche Herangehensweise bezüglich der Messung sowie das Streben nach Verbesserung.
Nicht nur die persönliche, sondern auch die technische Einstellung zählt
Unter Online-Verhalten verstehen wir wiederum einerseits das Teilen von Daten, andererseits die Kommunikation über diese Daten. Der Austausch der Daten wird dabei durch Apps und Devices gefordert und gefördert: Einige veröffentlichen diese – ohne Zustimmung des Nutzers – zumindest in der eigenen App. Andere wiederum überlassen es dem Nutzer, wo er diese Daten teilt. Das zeigt, dass das Sharing-Verhalten der Befragten zunächst durch die Apps und Devices selbst, also technische (Vor-)Einstellungen, beeinflusst wird. Erst in einem nächsten Schritt kann dann der Nutzer selbst entscheiden, ob er jenseits der vorgegebenen Möglichkeiten ein Teilen mit anderen Personen erwägt.
Sharing is caring? – Ja, aber nur mit Gleichgesinnten!
Unsere Ergebnisse zeigen: Für das Teilen von Daten ist entscheidend, wer diese zu Gesicht bekommt. Dabei geht es weniger um die Anzahl der Personen, sondern mehr um deren Zusammensetzung. Die Self-Tracker möchten überwiegend nur solchen Personen einen Einblick in ihre Daten gewähren, die entweder auch Selbstvermesser sind oder über das entsprechende Fachwissen verfügen. So teilen etwa Jogger eher ihre Daten untereinander. Denn sie sind davon überzeugt, dass nur so Daten richtig interpretiert und geteilt werden können.
Als Konsequenz teilen Selbstvermesser ihre Daten bevorzugt lediglich in kleineren, intimeren Gruppen. Dies sind speziell der Selbstvermessung gewidmete Foren, Facebook-Gruppen oder In-App-Gruppen, die die gleichen Parameter tracken. Durch das gemeinsame Interesse entsteht zum einen die Fähigkeit zur Einordnung der Werte. Zum anderen fühlen sich die Befragten in einer Gruppe gleichgesinnter Selbstvermesser wohler und akzeptierter als unter Freunden und Bekannten. Hier sind sie unter sich und müssen – wie einige Befragte betonen – keine negativen Reaktionen auf ihre Daten beziehungsweise Posts befürchten. Von solchem negativen Feedback wissen Selbstvermesser sowohl aus dem Online- als auch dem Offline-Leben zu berichten. Ihr Tracken wird von Personen, die sich nicht selbst vermessen, häufig als übertrieben, pathologisch und narzisstisch wahrgenommen; das Teilen mitunter als Prahlerei.
Vor allem aber – und das ist bei vielen Befragten ein wichtiger, aber nur selten explizit erwähnter Grund – geben in diesen Gruppen alle Mitglieder ihre Daten preis. Somit ist man nicht der einzige, der seine Werte zeigt, sondern kann sich gleichzeitig mit anderen vergleichen: Aufgrund dieses Austauschprozesses ist die Akzeptanz in der Gruppe für eigene Werte um ein Vielfaches höher als im eigenen Facebook-Profil.
"Mein Schlaf gehört mir!" – Intimität beeinflusst massiv, welche Daten geteilt werden
Neben den Personen, die die Daten zu Gesicht bekommen, spielt auch die Art der zu teilenden Daten eine Rolle. Die Bereitschaft, seine Daten mit anderen zu teilen, hängt davon ab, ob auch andere diese Daten als Messwert erachten. Man könnte auch von der individuell wahrgenommenen Legitimität der jeweils vermessenen Parameter sprechen.
Sport- oder Bewegungsdaten werden von den meisten befragten Selbstvermessern geteilt, da sie Leistung darstellen sowie für einen gesunden, erstrebenswerten Lebensstil stehen. Dies legitimiert aus Sicht der Befragten das Teilen.
Ernährungsdaten hingegen werden nur in Ausnahmefällen geteilt. Sie werden als defizitär und damit negativ wahrgenommen. Im Gegensatz zu Bewegungsdaten verkörpern sie nämlich keine Leistung, sondern Verzicht: Wer Kalorien zählt, tut nichts für seinen Körper, er enthält im nur etwas vor.
Bei Körperdaten spielt die Intimität der Daten eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Bereitschaft, diese mit anderen zu teilen. Für die Mehrheit der Befragten sind diese zu intim, da Schlafdauer, Puls oder Blutdruck deutliche Rückschlüsse auf die eigene Lebensweise und Gesundheit zulassen. Daneben repräsentieren sie – ähnlich wie Ernährungsdaten – keine Leistung, weswegen ihr Teilen als wenig legitim erscheint.
Narzissmus, Optimierungswahn oder kommunikativer Austausch? Was motiviert Selbstvermesser, ihre Daten zu teilen?
Zuletzt interessierten uns noch die hinter dem Teilen steckenden Motive bei der Online-Kommunikation von und über Selbstvermessungsdaten. Wir fokussieren dabei auf drei Motive: Selbstdarstellung, sozialer Vergleich sowie soziale Unterstützung. Warum genau diese drei? Nun, die Apps und Devices legen durch ihre Sharing-Funktionen nicht nur das Teilen nahe, sondern sie ermöglichen damit vor allem auch Kommunikation mit anderen. Indem die Nutzer etwa Körperzustände in Zahlen überführen und visualisieren, machen sie Selbstdarstellung und Vergleichsprozesse möglich – mit sich selbst oder insbesondere auch mit anderen. Allerdings könnten Selbstvermesser das Teilen von Werten auch für einen anderen Zweck nutzen – zur gegenseitigen Unterstützung.
Das Teilen von Daten ist auch Selbstdarstellung: Indem eine Person ihre Daten teilt, sagt sie damit auch immer etwas über sich selbst aus. Bei Bewegungsdaten etwa, dass sie sich um ihre Fitness kümmert. Bisherige Studien zur Selbstdarstellung online und insbesondere in sozialen Netzwerken zeigen, dass Nutzer den Eindruck, den sie mittels ihres Posts auf andere machen, kontrollieren. Dies zeigt sich auch bei den Selbstvermessern: Sie teilen nur solche Daten und Ergebnisse, die zu einer positiven Darstellung der eigenen Person beitragen, wie sportliche Erfolge oder herausragende Werte; Niederlagen werden unterschlagen. So berichtet beispielsweise ein Befragter, dass er jeden seiner Läufe auf Facebook poste. Aber bewusst diejenigen weglasse, bei denen er nach wenigen Minuten wegen Unlust oder einer schlechten Tagesform aufgehört hat.
Da nur positive Werte dargestellt werden, bedarf es einer Legitimation, um nicht als Angeber zu erscheinen. Daher werden Gefühle geschildert, die als ehrlich und authentisch gelten. Diese sollen die Leistung für andere nachvollziehbar machen und sie so weniger angeberisch erscheinen lassen. Ein weiteres Stilmittel der Authentizität stellt zudem das Posten von Fotos dar, die die egoistische Motivation hinter dem Post verschleiern sollen. Dazu werden zusätzliche Informationen zu den Daten geliefert – etwa Fotos der Laufstrecke –, oder aber statt des Nutzers selbst eines seiner Utensilien fotografiert.
Ihr Teilen begründen viele Befragte auch damit, dass sie andere nicht nur an ihren Erfolgen und guten Werten teilhaben lassen möchten, sondern auch, um von ihnen Anerkennung und Motivation zu erhalten. Damit befinden wir uns schon beim zweiten Motiv, das wir untersuchen wollten: der sozialen Unterstützung. Im Internet findet man diese in zwei Formen: der informationellen und der emotionalen Unterstützung. Emotionale Unterstützung beschreibt den Beistand, der sich in Form von Zuneigung, Trost, Zuhören oder Zuspruch ausdrückt. Die informationelle Unterstützung hingegen zeigt sich in fachlichen Ratschlägen und Informationen.
Wann suchen Selbstvermesser überhaupt online nach Unterstützung? Und wenn sie diese suchen: Wann ist es eher ein emotionaler, wann eher ein informationeller Austausch? Eine Antwort auf diese Fragen liefern zwei Faktoren: Die Online-Suche nach Unterstützung beginnt erstens, wenn man offline keine Austauschmöglichkeiten – wie einen Lauftreff – nutzen kann oder will. Zweitens ist die intrinsische Motivation der Selbstvermesser zu beachten: Selbstvermesser, die stark involviert sind und viele Parameter vermessen, benötigen keine oder nur wenige emotionale Unterstützung, sondern eher informationelle. Dies trifft besonders auf die Personen der Quantified-Self-Bewegung zu: Sie sind davon überzeugt, sich selbst durch die Erhebung und Auswertung möglichst vieler Daten besser verstehen zu können. Als Folge benötigen sie niemanden, der sie zur Selbstvermessung motiviert. Eine extrinsische Motivation mittels emotionaler Unterstützung ist für sie daher uninteressant. Im Gegensatz dazu stehen Tracking-Anfänger, die häufig an sich selbst oder dem Sinn der Aufzeichnung zweifeln. Entsprechend suchen erfahrene Self-Tracker eher nach informationeller Unterstützung im Web: Wie kann man einen Parameter besser vermessen oder wann findet das nächste Quantified-Self-Meetup statt? Emotionale Unterstützung wird demzufolge von Personen gesucht, die erst seit Kurzem oder nur wenige Parameter vermessen. Sie suchen einerseits nach Motivation und Aufmunterung durch andere bei schlechten Leistungen oder Motivationstiefs. Andererseits möchten sie aber auch Respekt und Anerkennung für ihre Leistungen erfahren.
Likes und Claps: Anfeuern per App
Die meisten Selbstvermesser suchen nicht nur, sondern geben auch selbst emotionale Unterstützung, wenn sie entweder besonders gute Leistungen anderer anerkennen oder sie bei schlechten Leistungen aufmuntern wollen. Bei einigen Befragten kommen zudem Anfeuerungsaktionen, die in den Apps integriert sind, zur Anwendung. Dies ist bei Runtastic die Möglichkeit, sich über Likes auf Facebook während des Laufs anfeuern zu lassen; bei Freeletics heißt diese Funktion Clap. Zusätzlich können bei beiden Apps die geposteten Werte kommentiert werden. Im Vergleich zeigt sich, dass Clap und Like gegenüber dem Kommentar eine andere Wertigkeit aufweisen. So erscheinen erstere als oberflächliche Zeichen des Wahrnehmens einer Leistung, während der Kommentar persönlicher ist und durch die Worte auch von einer tiefergehenden Beschäftigung mit den Werten zeugt. Aufgrund dieser Eigenschaften wird er auch zur Beziehungspflege zwischen den Beteiligten verwendet.
Zu guter Letzt untersuchten wir, inwiefern Selbstvermessungsdaten auch zum sozialen Vergleich herangezogen werden. Es zeigt sich, dass die Befragten die eigene Leistungsverbesserung als wichtigstes Ziel des Tracking nennen – wichtiger, als den Vergleich oder Wettkampf mit anderen. Die Self-Tracker vergleichen ihre Werte von heute mit Vergangenheitswerten und könne so das Erreichen ihrer Ziele überprüfen. Das Vergleichen mit sich selbst ist somit zumindest auf den ersten Blick sehr wichtig.
Allerdings kann durch weitere Nachfragen ein tieferer Einblick in soziale Vergleichsprozesse gewonnen werden. Als Folge scheinen die zuvor getroffenen Aussagen teilweise sozial erwünscht zu sein – zumindest in Bezug auf die leistungsorientierten Bewegungsdaten. Es werden de facto nämlich insbesondere Lateral- und Aufwärtsvergleiche angestellt – also Vergleiche mit gleichstarken oder besseren Personen. Soziale Vergleiche im Bereich von Ernährung und Vitaldaten finden übrigens nur in Ausnahmefällen statt.
Lateralvergleiche werden vor allem durchgeführt, um die eigene Leistung kontrollieren zu können. Wenn man sich mit anderen vergleicht, die das gleiche Niveau haben, kann man abgleichen, ob man dieselben Fortschritte macht oder weniger erfolgreich trainiert. Hinter diesem Vergleich steckt demnach das Bedürfnis, mit anderen mithalten zu können. Als Vergleichsstandard suchen Selbstvermesser Personen aus, die ihnen hinsichtlich ihrer körperlichen Voraussetzungen ähnlich sind. Die Verortung unter Gleichwertigen spielt demnach eine Rolle.
Aufwärtsvergleiche hingegen werden von Selbstvermessern vorgenommen, die auf Verbesserung und Motivation aus sind. Dies trifft insbesondere auf die Mitglieder der Quantified-Self-Bewegung zu, für die der Aufwärtsvergleich die einzig relevante Vergleichsart darstellt, da sie ausschließlich nach Verbesserung streben. Bessere Sportler spornen an, selbst mehr Zeit in das Training zu investieren und so die eigene Leistung steigern zu können. Zwischen Männern und Frauen treten hier Unterschiede bezüglich des Vergleichsstandards auf: Während Frauen sich eher an leicht besseren, aber erreichbaren Anderen orientieren, vergleichen sich Männer eher mit deutlich besseren, schwer erreichbaren Anderen.
Selbstvermesser suchen online nach Unterstützung, nicht primär nach Vergleichsmöglichkeiten
Unsere Analyse zeigt, dass das Teilen von Selbstvermessungsdaten online zunächst durch die wahrgenommene Legitimität und Intimität der Daten beeinflusst wird. Als legitim werden solche Daten angesehen, die Leistung repräsentieren. Dies trifft vor allem auf Sport- und Bewegungsdaten zu. Sie sind zugleich aber auch wenig intim – im Gegensatz zu Ernährungs- und Vitaldaten lassen sie nicht so tiefe Blicke auf die Gesundheit und Lebensweise zu und werden daher eher geteilt.
Das Datenteilen an sich wird dabei aber nicht nur durch das soziale Umfeld beeinflusst, sondern auch motiviert: Selbstvermesser teilen ihre Daten, um soziale Unterstützung zu erhalten oder sich selbst durch den Vergleich mit anderen zu verbessern.
Die Autorin

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