Sekundärforschung / Desk Research: Vom Stiefkind zum Hoffnungsträger der Marktforschung?

Gensch, Sebastian (infas 360)

Von Sebastian Gensch, Consultant bei infas 360

In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die privatwirtschaftliche Marktforschung aus der Sozialforschung heraus. Beide Disziplinen teilen seit dem die Vorliebe für Befragungen, um Informationen über das jeweilige Untersuchungsobjekt zu erheben. Doch das Leben dieser Untersuchungsobjekte und auch deren Umwelt haben sich mittlerweile dramatisch verändert. In Zeiten von „Big Data“ existieren derart viele Daten, dass wir derer technologisch, organisatorisch und inhaltlich kaum gewachsen sind. Aber was bedeutet das für die Primärforschung und die bislang eher wenig beachtete Sekundärforschung? Brauchen wir übermorgen überhaupt noch die klassische Befragung?

Neue, frei verfügbare Daten mit hoher Qualität

Der Bestand an verfügbaren Daten wächst rasant. Die Digitalisierung schreitet in privatwirtschaftlichen Unternehmen ebenso voran wie in der amtlichen Statistik. Angestoßen durch die INSPIRE-Richtlinie hat sich bei Letzterer einiges geändert, besonders hervorzuheben wäre hier die Novellierung des BstatG am 01.08.2013. Seitdem füllen sich die Open-Data Portale wie etwa GENESIS-Online oder GovData stetig mit Content. Doch auch hier sind noch einige Hürden zu nehmen, wie ein Blick auf die Angebote der unterschiedlichen statistischen Landesämter zeigt. Vergleicht man diese, wird schnell klar, dass der Föderalismus einer einheitlichen Datenstruktur abträglich ist, was die Beantwortung länderübergreifender Fragestellungen behindert. Dass dennoch basierend auf diesen Daten herausragend wissenschaftlich gearbeitet werden kann, beweisen die seit 1999 mit dem Gerhard-Fürst-Preis ausgezeichneten Master- bzw. Bachelorarbeiten und Dissertationen.

„Big Data“ – Freund oder Feind?

Die Marktforschung steht vor einem gravierenden Paradigmenwechsel. Denn die Grundleistung jedes Projektes für den Kunden bleibt die effiziente Auftragserfüllung. In Zeiten von Big Data bedeutet dies jedoch, zu prüfen ob die zur Beantwortung der Fragestellung notwendigen Informationen nicht irgendwo im unerschöpflichen frei zugänglichen Datenpool bereits existieren. Somit gilt es in einer Voruntersuchung zuerst einmal sowohl die Bestandsdaten des Auftraggebers, aber vor allem den vorhandenen Datenmarkt nach bereits existierenden Informationen zu screenen. Allein die sozialen Medien sind ein unerschöpflicher Quell an hoch aktuellen Informationen. Und in unendlich vielen Online-Verzeichnissen und -Portalen lassen sich weitere Daten und Informationen finden. Zunehmend werden verfügbare Daten von Spezialisten gesammelt, aufbereitet und kostengünstig angeboten. Erst wenn der gesamte Datenmarkt gescannt ist, stellt sich die Frage, ob die klassische Primärdatenerhebung etwa durch Befragungen im konkreten Einzelfall überhaupt noch erforderlich ist. 

Selbstredend birgt „Big Data“ auch Risiken, welche jedoch von entsprechend qualifizierten Datenprofis erkannt und ausgeglichen werden können. Der „Big Data“-Datenpool bietet heute allein aufgrund der schieren Menge und Interaktivität enormes Potential.

Die akuten Probleme der Marktforschung

Das Geschäftsmodell der meisten Marktforschungsanbieter ist bis heute hauptsächlich auf Primärerhebungen ausgerichtet. Die Wissens- und Erkenntnisgenerierung aus dem vorhandenen „Big Data“-Datenpool steht somit in direkter Konkurrenz zu den etablierten Wertschöpfungsmodellen der Institute. Themen wie Data-Mining oder Data-Warehousing gehören für viele Anbieter noch nicht zum Tagesgeschäft. So wurde in den letzten Jahren leichtfertig und wenig differenziert ein nicht unerheblicher Teil der Sekundärdaten mit dem Ruch der Unseriösität, Unbrauchbarkeit und Unglaubwürdigkeit gebrandmarkt. Und das, obwohl solche Daten längst datenschutzkonform zur Klärung von speziellen Fragestellungen hätten eingesetzt werden können.

Sich von dieser Position zu verabschieden und den Erkenntnisreichtum zu akzeptieren, der aus „Big Data“ generierbar ist, erscheint manchem undenkbar und ist doch in Zukunft unverzichtbar.

Die neue Marktforschung

In Zukunft wird die Sekundärforschung aus dem Schatten der Primärforschung treten und somit die Marktforschung verändern. Das Wissens über Sekundärdaten wird in den Fokus gerückt:

  • Märkte (Wo gibt es was, zu welchem Thema?), 
  • Quellen (Woher kommen diese Daten?), 
  • Verifizierung (Sind die Daten valide und aktuell?),
  • Wissensgenerierung (Wie lassen sich bestehende Daten integrieren und kombinieren, um neue Erkenntnisse zu generieren?),
  • Dateneinkauf und Lizenzthemen (Welche Rahmenbedingungen sind zu beachten? Welche Lizenz wird benötigt?),
  • Datenschutzkonformität (Welche Sekundärdaten darf ich nutzen? Wie muss ich Daten erheben? Unter welchen Bedingungen darf ich sie auswerten und die Ergebnisse verwenden?),
  • Operationalisierbarkeit von Wissen (Welche Strategie, welche Aktionen für Vertrieb und Marketing lassen sich ableiten?),
  • Primärerhebungen auf Basis akribischer Sekundärforschung (Welche Fragestellung ist jetzt noch nicht beantwortet? Welche neuen Fragestellungen ergeben sich aus dem Unternehmens- und Sekundärdatenstudium? Wo muss mittels Befragungen präzisiert werden?).

Mit zunehmender Datenverfügbarkeit und der viralen Interaktivität der heutigen digitalen Medien zeigt sich, wie heterogen und extrem individuell Menschen leben. Kundenzufriedenheitsbefragungen, Sensorikstudien, Designstudien, Storetests usw. sind auch zukünftig State of the Art. Aber Achtung, auch hier sind interaktive digitale Trackingsysteme und Anwendungen wie Shopkicks bereits auf dem Vormarsch, die exakt messen, wie lange ein Kunde im Shop und dort an welcher Auslage verweilt und was er letztendlich kauft. Und auch wenn soziale Medien in der Regel nur die Spitzen von Meinungen widergeben, so lässt sich daraus doch sehr kurzfristig und nahezu „live“ die Stimmung in der Zielgruppe in Bezug auf bestimmte Produkte, Dienstleistungen oder Aktivitäten ablesen und bei weiteren Maßnahmen berücksichtigen.

Gemeinsam mit den beim Auftraggeber vorhandenen Kunden- und Interessentendaten können sie zur Beantwortung vieler Anforderungen von Unternehmen allein durchaus ausreichend sein. Auch diese Einschätzung kann und muss von Marktforschern künftig erwartet werden können – auch wenn dies zu Lasten der etablierten Primärforschung geht.

Auch um die Ergebnisse durchgeführter Primärforschungsaufträge – die immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der Gesamtheit zeigen können – zu verifizieren und zu objektivieren, bietet sich der Abgleich mit der aggregierten vorhandenen Unternehmens- und Sekundärdaten-Vielfalt an. Nur so kann das Befragungsergebnis optimal eingeschätzt werden.

Fazit

Die Primärmarktforschung muss das bisherige Stiefkind der Sekundärforschung als Chance und Bereicherung begreifen. Die Sekundärforschung, das Desktop-Research, ist einer der kommenden Megatrends in der Marktforschung. Wenn sich die Marktforschung auf die klassischen Erhebungsinstrumente zurückzieht, werden naturgemäß andere Anbieter diese Position besetzen. Am Ende ist immer im allerersten Sinne des Auftraggebers zu handeln, nämlich eine wirtschaftliche und effiziente Lösung für die bestehenden Fragestellungen zu finden. Und natürlich muss der Auftraggeber diese Leistung anerkennen und bezahlen. Auch das wird ein Lernprozess sein.

 

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