Stephan Teuber, GIM Schraube locker! Marktforschung als Commodity?

Stephan Teuber, GIM
"Das metrische Wir" entlastet und belastest
Als unverbesserlicher Optimist gehe ich selbstverständlich erst einmal davon aus, dass manche Einkaufsverantwortliche tief in ihren (vielleicht doch nicht so forschungsfernen) Herzen ahnen, dass Research- und Beratungsleistungen eben nicht allein auf der Preisdimension differenzieren. Dass es mehr gibt, als rein metrische Bewertungsdimensionen. Doch ihre professionelle Rolle verlangt ihr "metrisches Wir" (um Steffen Maus' großartiges Buch zu zitieren*). Sie entlasten damit etwaiges latentes Unbehagen am metrischen Vergleich inkommensurabler Objekte dadurch, dass sie individuell designte Leistungen einfach egalisieren. Folge: der Preis ist am Ende tatsächlich das letzte, was unterscheidbar macht. Wir Forscher wiederum kennen dieses beklemmende Gefühl, das bei alldem in uns hochkriecht: man ersinnt möglichst kreative Lösungsansätze, gibt das Angebot ab - und wird am Ende doch auf ein standardisiertes Methodenbriefing zurückverwiesen. Oder man findet die eigenen Ideen in einem Rebriefing wieder, das im best case an alle Teilnehmer einer Ausschreibung geht, im worst case nur an die billigsten. Diese Logik bestraft jedoch Ideengeber! Entweder, indem sie ihrer originären Ideen enteignet werden oder indem sie schlimmstenfalls aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. Das wirft die Frage auf: Wieviel Commodity ist Marktforschung eigentlich bzw. wie viel darf sie sein?
Von der unmöglich möglichen Standardisierung
Als Forscher kann ich erstmal nicht anders: Research kann keine Commodity sein. Die soziale, kulturelle und psychische Realität, die wir erforschen, ist dafür zu komplex, dynamisch und unvorhersehbar. Jede Fragestellung verlangt nach konkreten Lösungsansätzen, jede Situation erfordert gegebenenfalls spezifische Zugänge. Und unsere Auftraggeber? Sie kommen zu uns mit unterschiedlichsten konkreten und spezifischen Erkenntnisinteressen. Mit Standards können diese in der Regel nicht bedient werden. Hand aufs Herz: im Laufe meines langjährigen Forscherlebens sind mir tausende von Kundenfragestellungen untergekommen. Mir ist rückblickend kaum ein Fall in Erinnerung, bei dem wir mit exakt identischem Design oder exakt identischer Methode das Forschungsinteresse des Kunden adäquat hätten befriedigen können. Vielmehr wurde stets um den aus unserer Sicht besten Weg gerungen, jene Insights zu generieren, die Kunden gebraucht haben.
Lose-Lose-Situation für Alle
Daneben hat es auch den Anschein, dass bisher Anbieter von sog. "Produkten" diese zwar in ihrem Angebotsportfolio hatten, dass in der Praxis deren Erfolg jedoch begrenzt war - natürlich von bekannten Ausnahmen abgesehen. Die Kunden verlangten nach Antworten auf ihre Fragen und wollten sich nicht vorschreiben lassen, wie sie ihre Fragen nach Maßgabe der Produkte zu stellen hätten. Dies scheint sich nun zu ändern - und zwar aus zwei Richtungen: Durch die "Kommodifizierung" der Forschung auf der Nachfrageseite (Einkauf) ebenso wie durch ihre Standardisierung auf der Anbieterseite (DIY etc.). Manche Einkaufslogik verhindert oder bestraft gar individuelle Lösungsvorschläge. Denn wer hier über ein gewisses Maß hinaus in Vorleistung geht, gefährdet seine Position im Ausschreibungsverfahren und geht zugleich ein ökonomisches Risiko ein, denn: diese Leistung wird im Rahmen der Egalisierung von Angeboten prinzipiell nicht vergütet. Die Nachfrager von Forschung verhindern damit tendenziell selbst, dass ihnen ein Spektrum von Möglichkeiten angeboten wird, da dies für die Anbieter von Forschung immer schwieriger darzustellen ist. Das klingt alles in allem nach einer lose-lose-Situation für alle Beteiligten. Leider.
Wanted: Erkenntnis auf Knopfdruck!
Dieser Logik folgend, ist es nicht überraschend, wenn inzwischen viele Anbieter selbst den Glauben an "individuelle Forschung" verlieren (diesen vielleicht auch nie hatten) und dabei dank Digitalisierung neue Geschäftschancen wittern. Standardisierte und automatisierte Tools sollen es ganz einfach machen, auf alle denkbaren Fragen denkbar schnelle Antworten zu bekommen, am besten auf Knopfdruck. Die Kompromisse, die hierfür beim Formulieren des Erkenntnisinteresses und von dessen Operationalisierung im Instrument gemacht werden müssen, lassen sich leicht erahnen. Das gilt gleichermaßen für befragende wie beobachtende Methoden. Noch ambitionierter sind Versuche, den gesamten Marktforschungsprozess zu automatisieren und aus einem vordefinierten Datenstrom jeweils die Daten zu selektieren und in Beziehung zu setzen, die für die Beantwortung spezifischer Fragen benötigt werden.
Operationalisierung paradox!
Versuche wie diese "challengen" wiederum überzeugte Forscher. Sie stellen Fragen: Operationalisieren vorkonfigurierte Instrumente und Stichproben tatsächlich das spezifische Erkenntnisinteresse? Beinhaltet der vordefinierte Datenstrom tatsächlich die Daten, die man zur Beantwortung einer Frage benötigt? Und sie antworten: Man darf es bezweifeln! Im ersten Fall wissen wir, wie anspruchsvoll es ist, eine Fragestellung zu operationalisieren. Fertige Operationalisierungen auf eine spezifische Fragestellung anzuwenden, dürfte in der Praxis dazu führen, die eigene Fragestellung zugunsten der vermeintlichen Operationalisierung zu verbiegen. Und im zweiten Fall wissen wir (nicht erst seit Steffen Maus), dass ein Datum nicht einfach ein Datum ist, sondern es erst durch Bedeutung und Interpretation zu einem solchen wird: Erst mit Bezug auf die konkrete Fragestellung lässt sich schließlich entscheiden, ob vermeintlich "gegebene" Daten die geeigneten Referenzen sind. Die verfügbaren Daten zur apriori-Referenz für die Beantwortung der Fragestellung zu erheben, heißt aber wiederum: die Fragestellung wird an den verfügbaren "Daten" mitsamt deren ursprünglicher Aufladung mit Bedeutung ausgerichtet: Operationalisierung paradox!
Die lockeren Schrauben von zwei Seiten festziehen
In beiden Fällen entkoppelt sich die Beantwortung der Forschungsfrage vom originären Forschungsinteresse. In beiden Fällen führt dies tendenziell nicht nur zur Standardisierung und Kommodifizierung von Forschung, sondern auch zu einer Standardisierung der Erkenntnis selbst. Man könnte auch sagen: Standardisierung verstellt den Blick auf das empirisch Wesentliche. Dieser aber rechtfertigt eigentlich die Ausgaben für Forschung. Unser RoI bemisst sich bekanntlich aus dem Wert, den Forschung für erfolgreiche Business-Entscheidungen liefert. Die Kommodifizierung von Forschung droht, diesen Wert zu verringern und damit die Substanz unserer Branche zu erodieren. Ich wünschte mir, dass sich diese Einsicht auf beiden Seiten durchsetzen möge: Nachfrageseitig durch intelligente Einkaufsstrategien (die freilich nach wie vor existieren). Diese vermitteln ernsthaft die Notwendigkeit und Vorteile eines wettbewerblichen Einkaufsprozesses mit den inhaltlichen Anforderungen valider Forschung und ebnen qualitative Unterschiede nicht um jeden Preis ein. Ergo: der Preis sollte - anders als bei Schrauben - nicht das letzte Entscheidungskriterium bleiben. Anbieterseitig durch die Bewahrung der Qualitätsstandards empirischer Forschung, um zumindest die Idee eines empirischen Zugangs zur Welt hochzuhalten gegenüber der Idee einer standardisierten Zurichtung der Welt.
Zum Autor:
Stephan Teuber ist Geschäftsführer der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung mbH. Vor seiner Zeit bei GIM war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Heidelberg tätig. Sein Studium absolvierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München und University of Sussex.
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