Ein Fazit von Hartmut Scheffler Schon angekommen? – Überlegungen zum dossier.PLUS Nachhaltigkeit

Hartmut Scheffler zieht ein Fazit über das dossier.PLUS "Nachhaltigkeit" (Foto: picture alliance / Westend61 | Philipp Waterman).
Zum ersten Mal gab es bei marktforrschung.de das neue Format des dossier.PLUS und dies zum Thema „Nachhaltigkeit“ (in der Markt- und Sozialforschung). Artikel, Webinare, Podcast – Interviews: mit ganz unterschiedlichen Formaten wurden ganz unterschiedliche Aspekte abgedeckt.
Ein sehr breites Thema
Holger Geißler nannte an einer Stelle Nachhaltigkeit einen „Kofferbegriff“, irgendwie passt alles hinein. Das Dach sind die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales mit den darunter gelisteten 17 Zielen der UN. Von diesen Zielen betrifft nur eine Minderheit das Thema Umwelt in verschiedenen Facetten. Darüber hinaus stehen nicht wenige Ziele im Widerspruch zueinander, zum Beispiel die sozialen Ziele weltweit einerseits mit den damit verbundenen Belastungen der Ökologie andererseits.
Mit wenigen Ausnahmen haben sich alle Autoren und Autorinnen, Webinare, Interviews speziell und ausschließlich mit dem Ökologiethema im Zusammenhang mit der Markt- und Sozialforschungsbranche beschäftigt. Dies ist der Fokus, auf den sich die einzelnen Unternehmen und die Branchenverbände konzentrieren. Auch dort sind die Begriffe vielfältig und nicht trennscharf. Unter der Überschrift „Nachhaltigkeit“ werden Umweltschutz allgemein, Ressourceneinsparung, CO2 Reduzierung abgedeckt. Dies ist durchaus kein Nachteil bei der Behandlung dieses Themas, muss aber bei den unterschiedlichen Facetten der Beiträge immer wieder berücksichtigt werden.
Die Relevanz von Nachhaltigkeit für die Marktforschung
Bedenkt man, dass die Marktforschungsbranche nicht zu den größten umweltverschmutzenden und ressourcenvernichtenden Branchen gehört, stellt sich die Frage: Warum ist das Thema dennoch relevant?
Zum einen, weil man trotzdem im eigenen Unternehmen beginnen kann und zum zweiten, weil die Marktforschung für alle Branchen und Unternehmen, sozusagen für die Gesamtheit der Verursachenden von Nachhaltigkeits- und Umweltproblemen arbeitet. Marktforschung sollte – dies zieht sich als roter Faden durch viele Artikel – das Thema durchdringen, für das Thema sensibilisieren, Vorbildfunktion übernehmen.
Unter der weit gefassten Überschrift geht es also im Schwerpunkt um den Bereich der Ökologie und dort um Aufgaben und Möglichkeiten der Marktforschung, eine aktive beziehungsweise aktivere Rolle einzunehmen. Das nötige Bewusstsein haben, Bewusstsein schaffen, mit eigenen Maßnahmen und der methodisch – forscherischen Durchdringung des Themas voranzugehen. Dafür liefert das Dossier viele positive Beispiele.
Der erste Fokus: Intern etwas bewegen
Gar nicht branchenspezifisch, sondern grundsätzlich beginnen Maßnahmen im eigenen Haus. Viele Artikel beschreiben, welche Initiativen im Unternehmen bereits eingeführt wurden. Beispielhaft zu nennen sind hier die Aktivitäten von APPINIO, Ipsos, SKIM und sd vybrant. Am weitesten geht das von Sonja Dlugosch von sd vybrant präsentierte Maßnahmenpaket, das auch soziale Aspekte berücksichtigt. Und mit der Frage nach der Auswahl von Auftraggebenden auch eine ökonomisch–ethische Frage anreißt.
Festzuhalten bleibt, dass eine relevante Anzahl von Anbietern der Markt- und Sozialforschung das Thema hausintern bereits in Maßnahmenkataloge umgesetzt haben. Auch wenn die Branche in UK weiter scheint, auch in Deutschland finden sich mit installierten Steuerungsgruppe einer Vereinbarung der Branche zu „Netto 0 -2026“ bereits ambitionierte bis hin zu mutigen Ansätzen.
Wo ist der Anpack?
Eine Kernfrage stellt sich früh: Soll das Thema auf individueller Ebene, im einzelnen Betrieb oder mit übergeordneten Vereinbarungen, mit Branchenzielen, mit Richtlinien angegangen werden.
Freiwillig und individuell oder vorgeschrieben und geregelt? Diese Diskussion bleibt interessant.
Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Überlegungen zu den Fallstricken der Nachhaltigkeit von Dirk Ziems et al. von concept m. Was die Autoren aufzeigen, gilt branchenübergreifend: Es gibt eine Vielzahl von Fallstricken für die Implementierung. Allen voran nicht eingehaltene Behauptungen, verbales wie tatsächliches Greenwashing im weitesten Sinne. Wer das Thema nicht wirklich ernst nimmt und im ganzen Unternehmen lebt, wird in eine der vielen lauernden Fallen geraten.
Meine These: einige Unternehmen werden sehr weit gehen und das auch aktiv zu ihrer Positionierung nutzen, andere werden sich zumindest auf Ressourcenschonung und nachhaltige Produkte konzentrieren, andere werden sehr lange nichts tun.
Der zweite Fokus: Daten, Erkenntnisse, Verstehen
Die größte Übereinstimmung aller Beiträge ist, dass eine wesentliche Rolle der Marktforschung die sein kann, Verbraucher zu verstehen und dafür fundierte Daten, Informationen und Erkenntnisse an Auftraggeber zu liefern. Das Verstehen des Verbrauchers ist Kernkompetenz der Markt- und Sozialforschung. Beim Thema der Nachhaltigkeit kann dies eine Vielzahl von Aspekten abdecken. Das fängt mit Grundlagenforschung und methodischer Weiterentwicklung an, um das Problem der sozialen Wünschbarkeit im Antwortverhalten, das Problem des „Mind– Do–Gaps“ mit methodisch geeigneten Verfahren anzugehen und in seiner Relevanz für Einstellung und Verhalten messen zu können. Es geht weiter über allgemeine Studien zum Verstehen der Einstellungsmuster und Verhaltensmuster im Rahmen von Nachhaltigkeit.
Der nächste Schritt sind auftragsbezogene Analysen zu Produkten und Dienstleistungen unterschiedlichster Branchen. Immer häufiger wird das Thema der Nachhaltigkeit in solchen Untersuchungen entweder durch den Auftraggeber oder – hier kann eine starke beratende Funktion der Marktforschung liegen – durch die Marktforschungsinstitute integriert.
Und schließlich gehören hierzu auch Untersuchungen zu Werten und Wertewandel. Diese Rolle der Marktforschung als Verstehende und Erkenntnislieferant kann im Themenzusammenhang gar nicht überschätzt werden, und hier dürfte unstrittig die klare Aufgabenstellung für alle in Markt- und Sozialforschung Beschäftigten liegen – bei Instituten wie in der betrieblichen Marktforschung.
Also: Methodenoptimierung, (eigene) Forschung, verstehen, beraten und empfehlen.
Ein paar Beispiele aus dem Dossier gefällig? Nachhaltigkeit im Reality-Check (NORDLIGHT RESEARCH), der Green Radar von INNOFACT, der GfK-Nachhaltigkeitsindex (Daten im Zeitverlauf) bis hin zur Studie „Values & Vision 2030“ der GIM. Im Podcast hierzu hat Hannes Fernow eine für mich zentrale Aussage im Hinblick auf den Erfolg von Maßnahmen im Bereich der Nachhaltigkeit gemacht:
Geschichten des Gewinnens, nicht des Verzichts erzählen!
Ein Großteil der Rolle der Marktforschung wird festzumachen sein an den klassischen kundenindividuellen Untersuchungen. Je nach Branche, je nach Produkt, je nach Zielgruppe sind die Herausforderungen und Möglichkeiten unterschiedlich. Produktpositionierung, Ingredienzen und Verpackung, Kommunikation: Alle Fragen sind individuell mit jeder Studie neu zu stellen und zu lösen.
Aufgabe der Marktforschung ist neben Validität und Reliabilität auch Objektivität.
Die Aufgabe ist also von der Branche ohne Ideologie, dafür mit hoher Objektivität, mit geeigneten Methoden und validen und reliablen Daten und den daraus abgeleiteten Empfehlungen anzugehen.
So und nur so kann und wird die Marktforschung einen großen Impact in Richtung Nachhaltigkeit im Bewusstsein wie im Verhalten erzielen können.
Wenn einzelne Anbieter noch weiter gehen wollen: Dann Kunden aktiv auf das Thema ansprechen, entsprechende Forschungen vorschlagen, vorhandenes Wissen (zum Beispiel zum Wertewandel) bereitstellen. Kurz: das Thema aktiv bespielen!
Der dritte Fokus: Die ethische Frage
Darf Marktforschung Unternehmen mit nicht nachhaltigen Strategien / Produkten / Dienstleistungen helfen? Müssen Anfragen solcher Absender abgelehnt, Jobs abgelehnt werden? Was tun, wenn beim Marktforschungsunternehmen Wachstum und Rendite vorgegebene Unternehmensziele sind, wenn der Erhalt und Ausbau von Arbeitsplätzen eine hohe soziale Relevanz hat?
Dieses wohl heißeste Thema ist im Rahmen des Dossiers nur an wenigen Stellen angerissen, aber nicht intensiv weiter diskutiert worden.
Meine Meinung: Über eine Vorbildfunktion in der eigenen Organisation und über eine aktive Thematisierung des Themas im Kundenkontakt ist weit mehr zu erreichen. Wirksamkeit ist nur im Dialog, nicht in der Verweigerung zu erzielen.
Der vierte Fokus: Zertifikate und Siegel
Hier geht es nicht um gesetzliche Vorschriften, wie zum Beispiel Konsequenzen aus dem Lieferkettengesetz oder für größere Unternehmen die Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts. Hier geht es um die Frage, ob ein Siegel Vertrauen und Transparenz schafft, um die „Guten“ von den „Bösen“ zu unterscheiden hilft. Hier sind berechtigte Zweifel angebracht: siehe Aktionismus, Beliebigkeit und Durchsichtigkeit vieler Ökolabels. Weltweit soll es mehr als 100 Umweltzeichen geben!
Hier geht es sehr schnell um die Glaubwürdigkeit und um das Vertrauen in Siegel im Allgemeinen und einer Zertifizierung oder eines Siegels für nachhaltige Marktforschung im Speziellen. Nichts wäre schlimmer, als wenn die Branche in den Geruch von Greenwashing, von „Freikaufen durch Zertifikate“ käme.
Die Konsequenz? Wenn schon Siegel oder Zertifikate, dann EIN allgemein anerkanntes und von der gesamten Branche getragenes Siegel – also eine Initiative der Branchenverbände?! Das bringt uns zum letzten Thema des Dossiers.
Der fünfte Fokus: Die Rolle der Verbände
Als langjähriger Vorsitzender des ADM kann ich einer Behauptung in einem Dossier-Interview deutlich widersprechen: Aktivitäten der Verbände richten sich nicht nach dem „schlechtesten“ oder langsamsten Mitglied. Aber: Verbände brauchen für ihre Maßnahmen eine breite Mehrheit, damit diese Maßnahmen dann auch durch alle Mitglieder getragen und umgesetzt werden. Checks & Balances sind ein Kernelement erfolgreicher Verbandsarbeit. Nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner oder irgendeinen faulen Kompromiss zu finden, sondern um Maßnahmen auch wirksam werden zu lassen.
Und ja, das braucht Zeit, weil solche Positionspapiere, Normen und Regeln der Verbände nicht alle Nase lang geändert werden können. Hier braucht es im wahrsten Sinne des Wortes Nachhaltigkeit zum Thema Nachhaltigkeit.
Dies erklärt die aktuelle - und auch unter anderem im Interview mit Sebastian Goette (Vorstandsmitglied ADM) - klar herausgearbeitete Situation.
Was können, was sollten möglicherweise die Verbände tun?
- Alle Aspekte des Themas strukturieren und eine klare Position formulieren.
- Empfehlungen erarbeiten, wie Mitglieder nachhaltig wirtschaften können.
- Die Frage beantworten, ob ein Siegel / ein Zertifikat hilfreich und der Sache förderlich ist oder doch nur Verwaltungsaufwand und Bürokratie bedeutet.
Der ADM – das hat Sebastian Goette klar gemacht – hat diese Themen auf der Agenda. Hier zählen die Qualität und Relevanz der Entscheidungen und Maßnahmen, nicht allein die Schnelligkeit.
Ausblick
Ohne die KI - Frage geht es auch hier nicht: kann KI ein Mittel zur Lösung sein? Prof. Dr. Mario Schmidt beantwortet dies im Interview wie folgt: KI zerstört viele Fähigkeiten der natürlichen Intelligenz, die man für die Lösung der Probleme bräuchte. Wir werden sehen…
Die Politik sagt, dass Nachhaltigkeit die Grundlage aller politischen Entscheidungen sein sollte. Das Dossier hat gezeigt, wie das Thema in der Markt- und Sozialforschung angekommen ist. Es dürfte sicherlich nicht das letzte Dossier zu diesem Thema sein.
Ich persönlich glaube, dass immer mehr Institute sich interne Regeln, Verhaltenskodizes und Nachhaltigkeitsziele auferlegen werden. Und diese natürlich mit gutem Recht auch kommunizieren und dadurch Multiplikatoreneffekte erzielen werden.
Ich glaube, dass nachhaltiges Wirtschaften in der Branche ein Hygienefaktor werden wird.
Ich glaube, dass das Forschungsthema weiter wächst - von der Weiterentwicklung der Methodik zu Nachhaltigkeitsinhalten bis hin zu übergreifenden Erkenntnissen aus der Werteforschung oder aus Nachhaltigkeitsindices.
Zurück zur Überschrift: Ist das Thema Nachhaltigkeit in der Branche angekommen? Meine Antwort: FAST ANGEKOMMEN, zumindest auf dem Weg.
Über die Person
Hartmut Scheffler ist Diplom-Soziologe und Stadt –, Raum – und Regionalplaner. Von 1980 an in der Marktforschung tätig, seit 1990 bis 2020 Geschäftsführer des Emnid Institutes Bielefeld, später TNS Emnid, dann TNS Infratest, Kantar TNS, Kantar Deutschland. Mitglied in verschiedenen Beiräten und Branchenverbänden, unter anderem ADM (12 Jahre Vorstandsvorsitzender, seit 2021 Ehrenmitglied), BVM (dort 2009 als Forscherpersönlichkeit des Jahres geehrt). Seit Juli 2020 im Ruhestand, seit Januar 2021... mehr
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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