rheingold Institut: Deutschsein als rastloser Suchprozess

Köln - Die deutsche Angst und die Selbstzweifel der Deutschen werden im In- und Ausland immer wieder belächelt und lösen Erstaunen aus. Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor Inflation, Angst vor lahmender Konjunktur - laut einer aktuellen Umfrage der GFK machen sich die Bürger in keinem europäischen Staat mehr Sorgen als in Deutschland. Aus psychologischer Sicht sei das allerdings nicht schlimm und verwundert wenig. Denn diese Angst sei Ausdruck einer rastlosen und suchenden Haltung, sie sei produktiv und motiviert zu gesteigerter Beweglichkeit - im Kopf und im Handeln, so das rheingold Institut.

Tausende Interviews führe das Institut jedes Jahr für Jahr undgewinne dadurch einen Einblick in die Seele des Landes. Eine wichtige Erkenntnis fasst Dipl. Psychologe Stephan Grünewald zusammen: „Die Deutschen sind mit erreichten Zuständen oder Ergebnissen kaum zufrieden. Es fällt ihnen schwer, mit Blick auf geleistetes ihren Frieden zu finden. Alles wird hinterfragt, umgestellt, angezweifelt und relativiert. Deutschsein ist kein Zustand, sondern ein rastloser Suchprozess. Während andere Nationen wie z.B. Amerika Stabilität und Zuversicht in einer gefassten Identität wie dem „amerikanischen Traum“ finden, haben die Deutschen keine klar gefasste Identität. Sie sind immer auf der Suche nach sich selbst. Identität bedeutet hierzulande nicht tradierte Selbstgewissheit, sondern notorischen Selbstzweifel.“

Dieser von Unruhe befeuerte Suchprozess, der das Wesen der Deutschen charakterisiere, sei nichts Negatives, sondern eine wichtige Quelle der Schöpferkraft. Grünewald weiter: „Die innere Betriebsamkeit, die Unruhe und die eigene Rastlosigkeit führen zu einem Werkeln, zu einem Probieren und Experimentieren, zu kreativen Denkanstößen und Erfindungen. Schon das Werkeln im Keller, in der Gartenlaube oder im Hobbykeller ist mehr als nur banale Bastelei, es ist die Keimform des künstlerischen, technischen und philosophischen Wirkens.“ Die Angst vor brüchigen Verhältnissen und drohenden Konjunktureinbrüchen versuchen die Deutschen zum Beispiel durch häusliche Stabilisierungs- und Renovierungsmaßnahmen zu bannen. Je größer ihre Unruhe in Krisenzeiten ist, desto stärker würden Heimwerkermärkte aufgesucht. „Im Basteln und Bauen strebt man das souveräne Gefühl an, der Desolatheit des Daseins aktiv entgegentreten und die Welt eigenhändig gestalten zu können.“

Und dieser Antrieb zum Werkeln, zum Erfinden und zur Bündelung der eigenen Schöpferkraft - resultierend aus der stetigen Unzufriedenheit mit dem bereits Erreichten - befeuere auch den Willen, immer weiter zu optimieren und zu verbessern. Dies funktioniere nicht nur im Kleinen, im eigenen Keller, sondern auch im Großen: in der Industrie und in der Wissenschaft. Es führe zu großen Erfindungen und technischem Fortschritt, zu Höchstleistungen und Ingenieurskunst. Und es fördere und motiviere zu träumen, querzudenken und bislang unbetretene Wege zu gehen. Der Weg sei das Ziel, nicht das Ankommen.

Die tiefe Sehnsucht nach einem anderen Leben und die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden gehören, so Stephan Grünewald, unzertrennlich zum Wesen deutscher Identität. Das schöpferische Träumen und das Zweifeln bzw. die german angst seien psychologisch betrachtet Geschwister: Viele Deutsche besäßen die fast schon seismographische Gabe, vor allem das zu sehen oder zu spüren, was nicht gut läuft oder eine Fehlentwicklung werden könnte. Aber der notorische Selbstzweifel banne auch die Gefahr, sich sattsam in einem Gefühl von Größe oder Überlegenheit einzurichten. Die deutsche Angst werde im Ausland zwar oft belächelt, da sie nicht zum Klischee des gradlinigen Deutschen passen will. Aber sie sei ein sinnvoller Mechanismus, denn sie antizipiert mögliche Gefahren und Probleme. Sie motiviert zu Wachsamkeit und Beweglichkeit und verhindert sich gemütlich im schönen Augenblick einzurichten.

Dieses Thema behandelt auch das 2013 erschienene Buch von Stephan Grünewald: „Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss“.

ah

 

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