Rezension: Noelle-Neumann im posthumen Kreuzverhör

Von Nils Glück, marktforschung.de
Ein neues Buch über die Pionier-Forscherin Elisabeth Noelle-Neumann sorgt in Allensbach für Unruhe. Zu heftig rütteln die Recherchen des Historikers Jörg Becker an den Grundfesten des renommierten Demoskopie-Instituts. Ein Nachspiel ist garantiert – doch wie spektakulär ist das Buch wirklich? Eine Besprechung.
Eines muss man Elisabeth Noelle-Neumann (1916 – 2010) lassen: Sie wusste sich ins Gespräch zu bringen. Nicht jede deutsche Intellektuelle kann von sich behaupten, bereits im Alter von 21 Jahren zum Thema im US-amerikanischen Repräsentantenhaus geworden zu sein. Elisabeth Noelle, so hat es der Historiker Jörg Becker für sein jüngstes Buch recherchiert, hat selbst das geschafft. 1938 habe ein Komitee des Hauses über „un-amerikanische Propaganda in den USA“ beraten und dabei auch auf eine Austauschstudentin aus Deutschland hingewiesen, die ebensolcher Propaganda verdächtigt werde.
Jörg Beckers im April erschienenes Werk „Elisabeth Noelle-Neumann: Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“ verspricht ein Enthüllungsbuch über die tatsächliche Gesinnung und Sozialisation der Forscherin zu sein, die als Mitbegründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) die öffentliche Wahrnehmung deutscher Politik entscheidend mitgeprägt hat. Becker will dieses Bild gerade rücken, macht bereits im Vorwort seine antifaschistische Stoßrichtung deutlich. Eine Odyssee durch Archive im In- und Ausland soll demnach dabei helfen, der selbstbewussten Eigendarstellung der Noelle-Neumann etwas entgegenzusetzen.
Becker beginnt mit einer Spurensuche in den 1930er Jahren, untersucht Studienorte und Studienrichtungen auf Hinweise einer möglichen Nähe Noelles zu den Nationalsozialisten. Die Reise der Studentin nach Amerika wird zu einem Dreh- und Angelpunkt dieser Untersuchung: Zwar sei die junge Akademikerin wie viele andere Deutsche gezwungen gewesen, mit dem NS-Regime zu kooperieren, um ihre Laufbahn nicht zu gefährden, lautet der Tenor. Dennoch listet Becker zahlreiche Indizien dafür auf, dass die junge Noelle auffällig wenig Distanz zu, und an vielen Stellen sogar Sympathie für die Nazis empfunden haben muss. Neben den oben beschriebenen Propaganda-Aktivitäten im Sinne des Dritten Reichs ist es vor allem ein „Nazi-Artikel“ (Zitat Becker) der Publizistin in einer amerikanischen Studentenzeitung, der diesen Verdacht nährt. Viele Rechtfertigungen Noelle-Neumanns in ihrer 2006 erschienenen Autobiografie „Die Erinnerungen“ seien vor diesem Hintergrund nicht glaubwürdig, resümiert der Autor – laut US-Zeitungsberichten sei sie bereits damals ein „strong sympathizer of the Hitler program“ gewesen.
Auch am Grundstein ihrer späteren Karriere als Meinungsforscherin rüttelt Becker gewaltig. Er listet weitere Belege in der Doktorarbeit der Elisabeth Noelle auf, die eine Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut vermuten lassen. Zudem habe ein Mitarbeiter des NS-Propagandaministerium den Großteil der Recherchen für die 1940 eingereichte Dissertation übernommen, argumentiert Becker. Obwohl Becker der Doktorandin zugesteht, ihre Arbeit sei „ganz sicherlich wissenschaftsgeschichtlich innovativ“, so sieht er etwa die geringe Anzahl der publizierten Rezensionen der Arbeit als Beleg für deren geringe Qualität. Eine genaue Beleuchtung der publizistischen Tätigkeiten der NS-Jungjournalistin Noelle schließlich lässt die ungute Vermutung aufkommen, die clevere Akademikerin habe sich mit dem Regime nicht nur abgefunden, sondern während der Kriegsjahre gezielt das eine gelassen, und das andere nicht getan: Weder habe sie sich in eine passive Distanz begeben, noch aktiv Widerstand geleistet. Noelle wusste sich offenbar zu arrangieren.
Viele der Schilderungen Beckers im rund 250-seitigen Haupttext wären in den insgesamt 936 Fußnoten besser aufgehoben. Doch während sich die ausführlichen NS-Recherchen Beckers bisweilen ermüdend lesen, weil sie bis zu den Lebensläufen einzelner Rezensenten der Dissertation Noelles reichen, so gestalten sich die Kapitel über den Neuanfang nach 1945 spannend wie ein Kriminalroman. Mit ehrenwert-emsiger Akribie, die nebenbei etwa die Mitgliedschaft des Schauspielers Horst Tappert in der Waffen-SS zutage förderte, geht Becker zu Werke und macht deutlich, dass es für die elitäre Akademikerin niemals eine „Stunde Null“ gegeben haben kann. Vielmehr nutzte die Pionier-Forscherin ihre alten Kontakte in die nationalistisch-konservative Oberschicht, um in Windeseile neue Projekte in Angriff zu nehmen.
Dass viele dieser Seilschaften noch Jahre zuvor unter dem Hakenkreuz gediehen waren, stellte laut Becker für die Forscherin kein größeres Problem dar. Becker will mit Hilfe eines Gutachters etwa nachgewiesen haben, wie Noelle einen übersetzten Entnazifierungsbescheid nachträglich gefälscht haben muss. Ehemann Erich Peter Neumann, selbst ein ehemaliger engagierter NS-Kriegsreporter, soll eine Steuerschuld in Tübingen vor der Währungsunion in das neue Institut für Demoskopie investiert haben, statt sie ordnungsgemäß abzuführen. Und ganz so glanzvoll wie bislang gedacht seien die Anfänge des Allensbacher Instituts gar nicht gewesen, schreibt Becker: „Die Initiative zur Gründung dieses Instituts ging ganz eindeutig von französischer Seite aus“, befindet Becker, und meint damit die französischen Besatzer, die am Bodensee eine privatwirtschaftlich-akademisch anmutende Tarnung für Meinungsstudien über die deutsche Jugend gesucht hätten. Weil das IfD sich nicht an Abmachungen gehalten habe und nach Privatkunden strebte, so Becker, sei die Kooperation schließlich auseinandergebrochen.
Becker porträtiert die ersten Aktivitäten des IfD nach dem Krieg als zwielichtig, weil von politischen Interessen überlagert: „Die methodische Einheit von Spitzeltätigkeit und Propaganda vor 1945 mutierte unter den Bedingungen bürgerlicher Demokratie zu einer Einheit von Meinungsforschung und Politikberatung.“ Noelle-Neumanns Ehemann sei mehr Lobbyist der Adenauer-Regierung gewesen als unabhängiger Empirie-Unternehmer, so Becker. Der Historiker meint belegen zu können, „dass das IfD in seiner Gründungsphase nichts anderes als ein von der Regierung und der CDU bezahlter Think Tank war“. Dies sei ein „staatlich-korporatistischer Zugriff auf den mündigen demokratischen Wähler durch das Gespann IfD/Bundesregierung“.
Zunächst NS-Mitläuferin, dann willfährige Spielfigur mächtiger Politiker und Unternehmer – ist das die Geschichte der Elisabeth Noelle-Neumann? Vieles an dieser These klingt nach der Lektüre des Buches plausibel, doch Becker macht einen Kardinalfehler, indem er in die Rolle des Anklägers schlüpft, dabei aber nur nebenbei entlastende Momente nennt. So ist es beispielsweise zu einseitig, Noelle-Neumann eine Anbiederung an einflussreiche Machtzirkel nach 1945 anzulasten, ohne das stürmische Chaos und den alles dominierenden Aufstiegsopportunismus im Nachkriegsdeutschland zu beachten. Wer als Unternehmer oder aufstrebender Akademiker nach 1945 Erfolg haben wollte, musste gewieft sein, griff dabei auch gerne in die Trickkiste oder gar zu illegalen Mitteln, wenn die Besatzer einmal wegschauten. Kontakte und die nötige Flexibilität waren in einer Zeit, als der Schwarzmarkt gedieh und selbst der Kölner Erzbischof zum Diebstahl ermunterte, das A und O. Und nicht zuletzt greift der Vorwurf der politischen Abhängigkeit hier zu kurz, weil Noelle-Neumann als Meinungsforscherin selbst eine der größten direkten Profiteure der neuen demokratischen Ordnung samt Recht auf freie Meinungsäußerung war. Deren vielfältige Etablierung musste sie schon allein aus professionellem Eigennutz befürworten.
Ebenso ist es dem Autor anzulasten, dass er bisweilen ins Spekulative abdriftet, wenn die (letzte) Sicherheit fehlt. Das ist schlicht unredlich. So sieht er bereits in der Tatsache, dass die junge Noelle in die USA reisen durfte, ein klares Indiz für deren Propaganda-Auftrag. Die US-Behörden hätten die Studentin zudem beobachtet, schreibt Becker – um diese Anlastung umgehend selbst zu relativieren: „Das FBI hatte nicht nur Elisabeth Noelle, sondern alle deutschen Austauschstudenten im kritischen Visier.“ Der Tenor des Buches ist scharf, teils sogar feindselig gegenüber der gleichsam posthum Verhörten. Ist Beckers Skepsis gegenüber den elitären Machtzirkeln, aus denen Noelle-Neumann stammte, sicherlich verständlich, so wirkt seine Kritik an der IfD-Methodik und deren Zahleninterpretationen wenig fundiert. Hier verschweigt Becker, dass das neue Instrument der Demoskopie Jahrzehnte brauchte, um die heutigen Standards zu erreichen (wobei über diese Standards auch weiterhin gestritten wird und gestritten werden muss). Und auch die Kommerzialisierung von wissenschaftlicher Forschung für Zwecke des politischen Lobbyismus ist kein Grund, sich darüber aufzuregen – viel eher stellt sich die Frage, weshalb Becker nicht analysiert, inwiefern die Emnid-Konkurrenz, die gesamtwirtschaftliche Lage und die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber der jungen Meinungsforschung Gründe für das opportunistisch-kapitalistische Handeln des Wirtschaftsunternehmens IfD Allensbach gewesen sein mögen.
Eine Reaktion aus Allensbach auf dieses in Teilen spektakuläre Buch ist gewiss. Derzeit werden die Archivbestände gesichtet. Auf Anfrage von marktforschung.de teilt das Unternehmen am 24. Mai mit, man habe juristische Schritte gegen die Fälschungsbehauptung im Zusammenhang mit einem Entnazifizierungsbescheid eingeleitet. Ferner lasse der Großneffe und Erbe von Noelle-Neumann, Ralph Erich Schmidt, eine neue „substantielle Biographie“ vorbereiten.
Zu Beckers Vorwürfen, das IfD habe sich als damaliges „Tarninstitut“ rund um das Neujahr 1948 im Streit und unter Missachtung von Vereinbarungen von der Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern verabschiedet, schreibt Rüdiger Schulz von IfD: „Als man erkannte, dass die deutsche Bevölkerung demoskopische Fragen unbefangener und deshalb wahrheitsgetreuer beantworten wird, wenn die Fragen nicht von Mitarbeitern der französischen Besatzungsmacht gestellt werden, wurde Dr. Elisabeth Noelle-Neumann von der französischen Militärregierung die Lizenz erteilt, das Institut für Demoskopie Allensbach als deutsches Markt- und Meinungsforschungsinstitut zu gründen. Von der Gründung an war das Institut unabhängig.“
Auch dem Vorwurf, das Institut sei ein „Think Tank“ der CDU gewesen, tritt das IfD entgegen: Man habe „von Anfang an für verschiedene Auftraggeber aus Wirtschaft, Politik und Medien gearbeitet, von denen keiner die Arbeit dominierte“, schreibt Schulz via E-Mail. „Weder stimmt die Behauptung Beckers, dass Reemtsma das Institut in den Anfangsjahren 'geradezu finanzierte', noch stimmt seine Behauptung, dass das Institut 'in seiner Gründungsphase nichts anderes als ein von der Regierung und der CDU bezahlter Think Tank war'.“
Historiker Becker lastet Erich Peter Neumann an, dieser habe sich 1953 als Wahlkampfplakat-Designer von der CDU instrumentalisieren lassen. „Tests der Werbewirkung von Anzeigen und Plakaten waren und sind sowohl im Bereich der Marktforschung wie in der politischen Forschung ein wichtiges und legitimes Untersuchungsthema“, entgegnet das IfD hierzu. Der Autor habe es offensichtlich versäumt, von den umfangreichen Archivbeständen des IfD Gebrauch zu machen. In Allensbach zeigt man sich pikiert über die „Parteilichkeit“ des Autoren und wirft ihm vor, auf Mutmaßungen und unbewiesene Tatsachenbehauptungen zurückzugreifen.
Doch bei aller Kritik: Dem Image der Wissenschaftspionierin Elisabeth Noelle-Neumann schadet dieses Buch sicher nicht. Ihr unbändiger Drang zur Erforschung einer Bevölkerung samt ihrer Motive, ebenso wie der zur Selbstdarstellung, kommen deutlich zum Ausdruck. Empfehlenswert ist an diesem manchmal anstrengenden Recherchebuch vor allem das Namensregister, das sich wie eine Analyse des IfD-Netzwerks liest. Auch beweist Jörg Becker eindrucksvoll, wie zielstrebig und zugleich vorsichtig Noelle-Neumann bei ihrer Karriereplanung vorging. Dass sie – trotz allem – wegen ihres unangepassten Wesens keinesfalls zum Musterbeispiel einer linientreuen Nationalsozialistin taugt, zeigt auch folgende Begebenheit: Ein Angebot, in die höchsten Kreise der NS-Herrschaft aufzusteigen, schlug sie 1942 aus – Reichspropagandaminister Joseph Goebbels versuchte damals vergeblich, die junge Noelle zu seiner Adjutantin zu machen.
Bibliografische Angaben:
Becker, Jörg: Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus. Schöningh-Verlag, Paderborn 2013. ISBN: 978-3-506-77614-3
Update 27.6.2013: Wie der Verlag eingeräumt hat, befinden sich in dem Buch von Jörg Becker unwahre Tatsachenbehauptungen. Details dazu lesen Sie hier >>
Weitere Pressestimmen:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-92079465.html
http://www.zeit.de/2013/17/elisabeth-noelle-neumann-nationalsozialismus
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2107720/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/2108612/
http://www.suedkurier.de/nachrichten/baden-wuerttemberg/themensk/Elisabeth-Noelle-Neumann-hat-ihre-NS-Vergangenheit-beschoenigt;art417921,6067144
http://www.suedkurier.de/nachrichten/kultur/themensk/meinung/Die-offene-Wunde;art1009798,6046117
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/derricks-vorgeschichte-horst-tappert-war-bei-der-waffen-ss-12162290.html
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