Repräsentativität - Fakt, Fake oder Fetisch? Die Sicht der betrieblichen Marktforschung

Hans-Willi Schroiff (InnoChainge)

Von Prof. Dr. Hans-Willi Schroiff, Corporate Vice President Global Market Research, Henkel AG

Es ist wohl eine der beliebtesten Fragen in einer Marktforschung-Präsentation (vorzugsweise von aufstrebenden Jung-Managern): "Ist das denn auch repräsentativ?" Und mit dieser Frage ist vieles ausgedrückt – profunde Marktforschungs-Kenntnis, kritische Grundhaltung, und ein nahezu faustisches Streben nach Urteilssicherheit. Und auch auf der anderen Seite, der Seite der Marktforschung-Dienstleister, wird ständig und eifrig beteuert, dass diese Studien natürlich repräsentativ sei und dass gerade dieses Institut über bislang ungeahnte Möglichkeiten der Ziehung einer aussagefähigen Stichprobe verfüge.

Damit wird natürlich "Repräsentativität" zu einem ganz wesentlichen Qualitätsmerkmal innerhalb der Marktforschung. Und das ist zunächst einmal gut so. Dennoch dürfen wir sowohl als Nutzer als auch als Anbieter von Marktforschungs-Dienstleistungen keinesfalls den Blick dafür verschließen, dass eine echte Repräsentativität wohl kaum zu erlangen ist. Hier hat sich in der Branche ein gesunder Pragmatismus etabliert, man ist eben so repräsentativ, wie man unter einem vertretbaren Investitionsvolumen eben sein kann. Und das bedeutet natürlich nicht, dass eine Aussage wertlos wird, nur weil man in einer Stichprobe keine ultimative Repräsentativität gewährleisten kann. Man kommt eben so nah, wie es für praktische Belange erforderlich ist.

Natürlich wird es Zielsetzungen von Untersuchungen geben, in denen bestimmte Formen von Repräsentativität geradezu unabdingbar sind. Ich denke hier an Themen zu Forschung, wo im Rahmen der Beweisführung vor Gericht die so genannten "geltenden Verkehrskreise" befragt werden müssen, um juristisch akzeptierte Aussagen treffen zu können. Ich denke auch, dass das Wissensdefizit bei den meisten Omnibus-Umfragen einen hohen Grad an Repräsentativität voraussetzt.

Dazwischen gibt es eine Art "Grauzone". Das sind alle diejenigen Studien, in denen wir zum Beispiel definierte Teilsegmente eines Marktes oder bestimmte psychologische Verwendergruppen untersuchen. Hier wird die klassische Repräsentativität im Sinne der invaliden Abbildung der Verhältnisse in einer Grundgesamtheit eigentlich nicht in allen Fällen benötigt. Hier reicht meines Erachtens die Formulierung eines wohl überlegten Kriterienkatalogs als Grundlage für die Bestimmung, welche Personen im Rahmen der Untersuchung befragt werden sollen. Und schließlich sehe ich einen Bereich in der Marktforschung, in der unter Umständen vielleicht sogar eine klassische Repräsentativität einfach hinderlich ist: in dem breiten Feld der Innovationsforschung zum Beispiel sehe ich es als durchaus vorteilhaft an, mit Personen zu interagieren, die eben gerade nicht die wesentlichen Charakteristika existierender Nutzergruppen oder Marktsegmente aufweisen. Gerade hier halte ich es für erforderlich, auch bei der Auswahl von Befragten unter Umständen völlig aus dem bestehenden Stichproben-Charakteristika auszubrechen. Das würde sicherlich die Findung von neuen innovativen Konzepten erleichtern. Dass die natürlich hinterher wieder in der Zielgruppe auf Akzeptanz getestet werden müssen, steht außer Frage.

Und so kann man ganz locker allgemein formulieren, dass Repräsentativität in unterschiedlichen Facetten von Marktforschungs-Fragestellungen eine unterschiedliche Bedeutung hat. Ich würde es einmal holzschnittartig so sagen: je explorativer, desto weniger Bedeutung - je konfirmatorischer, desto mehr Bedeutung. Das erscheint auf den ersten Blick trivial und ist es wohl auch. Schließlich gilt noch die Maxime: Repräsentativität ja, aber nicht um jeden Preis. Das bedeutet, dass ich mir als betrieblicher Marktforscher immer wieder die Frage stellen muss, wie das Verhältnis einer abgesicherten Erkenntnis in Relation steht zu den Finanzmitteln, die ich dafür aufwenden muss. Ich meine, dass man hier mit Augenmaß agieren sollte: wenn ich für eine bestimmte Entscheidung 80 % aller Grundgesamtheit in einer Stichprobe repräsentieren kann und die verbleibenden 20 % nur unter großen finanziellen Aufwand, dann sehe ich keinen Grund, warum eine abgesicherte Unternehmensentscheidung nicht auch auf der Basis der leicht erreichbaren 80 % gefällt werden könnte.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden – es geht nicht um die leichtfertige Aufweichung von grundlegenden Standards der empirischen Erkenntnisgewinnung, es geht um vertretbare Entscheidungen, die nach dem Ermessen eines Fachvertreters die Validität der betrieblichen Entscheidung nicht grundsätzlich beeinflussen. An der Entscheidung ändert sich nichts, lediglich die Urteilssicherheit nimmt ab. Diese Abwägung muss man einem professionellen betrieblichen Marktforscher zutrauen.

 

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