Martins Menetekel Referenzkurve oder schon Prognosekurve?

In dem lesenswerten Beitrag von Horst Müller-Peters zur Wahlforschung bei den US-Präsidentschaftswahlen wurde darüber diskutiert, warum die Prognosen zum Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahl wieder so weit daneben lagen.
Wie sieht es hier in Deutschland mit den Prognosen zur Ausbreitung oder dem Stoppen der Corona-Pandemie aus?
Im April/Mai konnte ich eine Prognosekurve entwickeln, die wochenlang den Verlauf der Fallzahlen mit einem Fehler kleiner als 0,75 Prozent von den tatsächlichen geglätteten Zahlen abbildete. Das ist derzeit nicht möglich. Wir sind immer noch nicht in einem stabilen Zustand, in dem sich die Parameter, die den Prozess bestimmen, nicht ändern. Deshalb müssen wir noch von einer Referenzkurve sprechen. Das ist eine Exponentialfunktion, die garantiert nicht das Verhalten auf Dauer abbildet. Wir können an ihr ablesen, ob und ab wann Limitierungsmaßnahmen wirken. Das aber ist schon eine ganze Menge!
Sehen wir uns ein ideales Bild an, dick sind eine Exponentialfunktion und ihre 1. und 2. Ableitung geplottet, grün ist das S einer Verhulstfunktion, braun die Glockenkurve ihrer 1. Ableitung, blau der Zweierflügel der 2. Ableitung, siehe auch 2. Beitrag am 21. August.
Bis zum Wert t = 3,3 ist grün noch sehr gut durch eine Exponentialfunktion approximierbar, ihre Ableitung entfernt sich aber schon stark von braun, die noch gut bis zum Wert t = 2,5 angenähert wird. Aber die zweite Ableitung von Verhulst, die blaue Kurve, zeigt schon ab einem Wert von t unter 2, dass es ein limitierter Wachstumsprozess ist. Wenn wir am Anfang einer Kaskade oder zweiten Welle einer Pandemie sind, reicht es nicht aus, die Fallzahlen anzunähern, wir müssen uns erste und zweite Ableitung der Fallzahlen ansehen, trotz aller systematischen Schwierigkeiten, Grenzprozesse für tagesdiskrete Zeitreihen überhaupt zu bilden.
Stand der Pandemie heute:
Blau hat die Exponentialkurve leicht in der richtigen Richtung nach unten verlassen. Das deutet limitiertes Wachstum an. Aus Presseberichten wissen wir, dass tatsächlich schon seit einigen Tagen der Besuch zum Beispiel von gastronomischen und kulturellen Einrichtungen vermindert wurde. Für das Virus wird es ungemütlicher!
Was macht der tägliche Zuwachs?
Da sah es bis vorgestern so aus, als wenn ein Maximum erreicht wäre: Das zeigt den Wendepunkt der Fallzahlen an. Das waren Zahlen vom Wochenende und Montag. Dieser Trend hat sich nicht stabil fortgesetzt.
Der Feinindikator zweite Ableitung:
Hier haben wir einen Nachlauf, da die zweite Ableitung nicht tagesaktuell bestimmt werden kann. Bis Ende Oktober ging sie nach unten und zeigte an, dass zumindest die Zuwächse einen Wendepunkt hatten. Aber sie muss die Zeitachse t schneiden und negativ werden, um ein Fallen der Zuwächse anzuzeigen. Davon sind wir weit(?) entfernt.
Fazit: Derzeit hoffen wir, dass der Wendepunkt der Fallzahlen täglich kommen kann. Die Parameter der ersten und zweiten Ableitung der Fallzahlen geben dazu keine Veranlassung.
Also wagen wir zwei "Prognosen":
Noch ca. zehn Tage wird die zweite Ableitung positiv sein, damit steigen auch die täglichen Zuwächse auf einen Wert um die 25.000 oder mehr, und Deutschland wird noch lange mit dem Virus kämpfen müssen. Die Rate der Fallzahlen der an und mit Corona Gestorbenen steigt noch voll exponentiell. In Korrelation dazu wird es in den Krankenhäusern zu Engpässen kommen.
Über den Autor:
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.
Aus dieser Reihe zuletzt von Martin Lindner auf marktforschung.de erschienen:
Halloween naht und damit das kalte Grausen
Entgleitet uns die Kontrolle?
Wie kritisch ist die derzeitige Entwicklung?
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