Applied Science Radio killed the Videostar? Zur (neuen) Wirksamkeit von Audiowerbung

Vorwort
Herzlich Willkommen zu unserer neuen Kolumne Applied Science auf marktforschung.de! Mit der Kolumne wollen wir relevantes, aber oftmals leider schwer zugängliches Wissen aus der Marketing- und Marktforschungstheorie in die Praxis übertragen.
Wir haben beide berufliche Hintergründe sowohl in der Marktforschungspraxis als auch in der akademischen Forschung. Neben unseren Professuren für E-Commerce und Marketing an der NORDAKADEMIE Hochschule der Wirtschaft Elmshorn/Hamburg und der Fachhochschule Wedel haben wir 2020 zusammen die Digital-Marketing-Insights Beratung smart impact gegründet. Hier setzen wir für unsere Kunden anspruchsvolle Projekte an der Schnittstelle zwischen Marktforschung, Marketing und Machine Learning um. Durch das Leben zwischen den beiden Welten “Forschung” und “Praxis” wissen wir um die Herausforderungen, aber auch die großen Chancen, die sich aus der Übertragung und Anwendung neuer Forschungserkenntnisse in den praktischen Marketing-Alltag ergeben. Und genau das war für uns der entscheidende Anstoß zu dieser Kolumne, in der wir ab sofort in regelmäßigen Abständen aktuelle und ausgewählte Insights aus der wissenschaftlichen Marketing-Forschung aufbereiten und mit einem Fokus auf deren praktische Relevanz für Entscheidungen in Marketing und Marktforschung präsentieren möchten.
Und jetzt wünschen wir Ihnen viel Freude und natürlich auch den ein oder anderen Insight bei der Lektüre!


Alte und neue Benchmarks zur Werbevermeidung
"Ohne ein besseres Verständnis über Werbevermeidung werden Marketingentscheider wahrscheinlich weiterhin Zielgruppenreichweiten falsch einschätzen, was zentral für die Anpassung ihrer Mediaplanung ist." Mit reichlich Pathos beginnt die neue Studie „A New Benchmark for Mechanical Avoidance of Radio Advertising - Why Radio Advertising is a Sound Investment“ des Ehrenberg-Bass-Instituts für Marketingwissenschaft. Nach der Lektüre stellen wir fest, dass so viel Pathos tatsächlich angebracht war. Immerhin wurde der bestehende Benchmark zur "mechanischen" Werbevermeidung beim Radiohören (also z.B. durch ein Senderwechsel, „Muten“ oder Ausschalten) von Werten zwischen zehn Prozent und 33 Prozent, teilweise auch 50 Prozent, auf drei Prozent runterkorrigiert! Selbst wenn man in der Planung bislang optimistisch von zehn Prozent Vermeidung ausgegangen ist, also von 100 "Vermeidern" pro 1.000 Kontakten, entspricht das einer Korrektur um 70 erfolgte Kontakte pro 1.000 Kontakte. Bei einem Radio-TKP von 5.00 Euro wären das satte 0.35 Euro Ersparnis pro gebuchten 1.000 Kontakten.
Ein Vergleich mit TV-Werbung
Setzen wir das noch weiter in den Kontext: Für TV-Werbung zeigen Analysen, dass TV-Werbeblöcke im Schnitt lediglich 29 Prozent (!) der Zuschauer erreichen. Die verbleibenden 71 Prozent vermeiden die Werbung aktiv, d.h. kognitiv, physisch oder mechanisch. Kognitive Vermeidung, die 41 Prozent der Fernsehwerbung betrifft, beschreibt die Umlenkung der Aufmerksamkeit durch die Beschäftigung mit etwas anderem, wie Lesen, Surfen mit dem Smartphone oder Hausarbeit. Physische Vermeidung, die 21 Prozent der Fernsehwerbung ausmacht, umfasst z.B. das Verlassen des Raumes, was Sehen und Hören der Werbung beeinträchtigt bis unmöglich macht. Die mechanische Vermeidung schließlich macht neun Prozent der Fernsehwerbevermeidung aus. Da es keine verlässlichen Zahlen zur kognitiven und physischen Vermeidung von Radiowerbung gibt, sollte man fairer- und logischerweise auch nur die mechanische Vermeidung zwischen den beiden Mediengattungen vergleichen, also die neun Prozent für TV mit den jetzt drei Prozent für Radio. Zumindest bei der mechanischen Vermeidung ist Radio also deutlich performanter als gedacht, v.a. auch im direkten Vergleich mit TV. Bei den anderen beiden Formen der Werbevermeidung können auch die Autoren der Studie nur mutmaßen. In Anlehnung an deren zentrale Abbildung 1 "Advertising Avoidance on Radio and Television" haben wir folgende Graphik mit der Ergänzung um den neuen Werbevermeidungs-Benchmark erstellt:

Das methodische Setting der Ehrenberg-Bass-Studie
Wenn es um einen praktisch relevanten Insight wie die Etablierung eines neuen Benchmarks geht, ist selbstverständlich auch die kritische Frage nach Güte und Verlässlichkeit von Datenbasis und -analyse der Studie notwendig. Wir nehmen gleich vorweg, dass die Studie methodisch-technisch sehr gut gemacht ist. Im Gegensatz zu in früheren Benchmarkstudien verwendeten Self-Reports arbeiten die Autoren mit einem passiven Messansatz und erfassen die Hörerdaten über tragbare Personenmessgeräte (Portable People Meter). Insgesamt 800 Panelteilnehmer wurden mit entsprechenden Personenmessgeräten ausgestattet und ein Jahr lang beim Radiohören begleitet. Die Messungen erfolgten dabei minutengenau und bei 17 großen, kommerziellen Sendern in Vancouver, Kanada. So konnten insg. fast drei Millionen Radiominuten und über 800.000 Radiospots im Datensatz erfasst werden. Inwieweit Ergebnisse aus der Analyse kanadischen Hörerverhaltens auf andere Länder übertragbar sind, muss jeder für sich selbst beurteilen.
Wrap-up & Take-Aways
Das wichtigste Ergebnis der Studie ist eindeutig der proklamierte neue Maßstab für die "mechanische" Vermeidung von Radiowerbung in Höhe von drei Prozent. Ein zweiter spannender Insight ist, dass die Werbevermeidung signifikant höher ausfällt, wenn ein Musikblock unterbrochen wird. Bei sprachbasiertem Content (Nachrichten, Interviews, Reportagen etc.) ist die Vermeidung geringer, weil der Kontrast zur Werbung nicht so groß ist. Dieser Nachteil wird allerdings in der Regel durch die höhere Reichweite von großen Musiksendern ausgeglichen.
Dass Radiowerbung in seiner Wirksamkeit von Marketern und Mediaplanern eher unterschätzt als überschätzt wird, zeigen auch weitere kürzliche Veröffentlichungen, die sich oftmals mit crossmedialen Kombinationen wie TV-Radio, TV-Radio-Online oder TV-Radio-Online-Print auseinandergesetzt haben. Für eine vertiefte Lektüre sei daher auf Lin et al. (2013), Danaher & Dagger (2013) und Russo et al. (2020) verwiesen.
Insgesamt bleibt der Eindruck, dass Radio einen bisweilen zu Unrecht unterschätzten Kanal darstellt, trotz der Unsicherheiten hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes von physischer und kognitiver Vermeidung. Wir werden weiterhin gespannt beobachten, ob sich das im Kontext des neuen Benchmarks, der Einführung der Digitalradiopflicht/DAB+ und Bestrebungen seitens der Vermarkter zur Adressierbarkeit und programmatischen Buchbarkeit von Radio (und Podcasts) ändern wird.
/jj
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