Dr. Julia Nitschke, eye square Quo vadis, qualitativer UX Research?

Typischerweise finden UX Tests vor Ort unter direkter Beobachtung statt. Immer häufiger werden diese inzwischen auch Remote durchgeführt. Allerdings kann dies noch einige Hindernisse mit sich bringen, zum Beispiel wenn Technologien wie Eye Tracking eingesetzt werden sollen. (Bild: eye square)
Im Bereich User Experience Research sind qualitative UX Tests mit Verhaltensbeobachtung und Interview bei uns nach wie vor das am stärksten nachgefragte und auch das effizienteste Mittel, um aufschlussreiche Erkenntnisse für die nutzerzentrierte (Weiter-)Entwicklung von digitalen Angeboten zu gewinnen.
Das direkte Beobachten wie die eigenen Nutzer mit einem Produkt interagieren, welche Hürden oder Verständnisprobleme sich dabei zeigen, lässt unsere Kunden direkt erleben, wie die Nutzer das Angebot erleben und was optimiert werden sollte. Das sind oft die einzigen direkten Berührungspunkte mit der eigenen Nutzerschaft. Außerdem motiviert es die internen Teams bis hin zu den Entwicklern ungemein, die App oder Website noch besser auf die Nutzerbedürfnisse auszurichten. An dieser Wichtigkeit von qualitativem UX Research wird sich sicherlich auch in den kommenden Jahren kaum etwas ändern.
Trotzdem verzeichnen wir Trends und Veränderungen innerhalb dieses Ansatzes, die wir im Folgenden kurz umreißen und ihr Potenzial für die Zukunft einschätzen wollen. Es sind die Themenkomplexe: Lab oder Remote? Agil und fokussiert oder die ganze Customer Journey im Blick? Und: Welche Rolle werden digitale Tools spielen können?
1. Lab oder Remote?
Pandemiebedingt hat sich eine gravierende Umstellung für qualitative UX Tests bereits vollzogen: Die Durchführung „remote“ mit Screensharing statt im Lab. Tatsächlich gab es das hin und wieder auch schon vor 2020, aber die Durchführung im Lab – oft auch mit der Beobachtung durch den Einwegspiegel – war doch die übliche Vorgehensweise.
Nachdem dann im März 2020 so einige geplante Studien erst einmal abgesagt bzw. verschoben werden mussten, war die Planung der Tests per Videokonferenz und mit Screensharing erst eine Art Fallback-Lösung, mit der man eher leben konnte, als über Monate keine UX Tests durchzuführen.
Tatsächlich funktioniert dieser Ansatz allerdings inzwischen so gut, dass eine überwiegende Rückkehr ins Lab aus unserer Sicht zumindest fraglich ist: Die Rekrutierung von Teilnehmern ist einfacher, die Teilnehmer können auch problemlos landesweit eingeladen werden, und die Moderatoren können sogar von zu Hause die Interviews führen. Die Auftraggeber können sehr gut am Livestream den Interviews folgen und auch live beobachten, wie die Teilnehmer am Desktop oder per Smartphone das zu testende Produkt nutzen. Alle Beteiligten haben also weniger Aufwand und müssen nicht den Weg ins Lab machen, ohne dass es Einbußen beim Erkenntnisgewinn gäbe.
Selbst das gemeinsame Beobachten im Team lässt sich digital durchführen, indem gemeinsam an einem digitalen Bord gearbeitet wird.
Unsere Einschätzung ist, dass auch zukünftig nur im Lab getestet wird, wenn es gute Gründe dafür gibt, wie beispielsweise den Einsatz von Eye Tracking, das nach wie vor stationär besser funktioniert.
2. Agil und fokussiert oder die Customer Journey mit den verschiedenen Touchpoints im Blick?
Die beiden anderen Trends der letzten Zeit betreffen eher den Umfang und die Fragestellungen der UX Studien: Fokussiert, schnell und agil vs. das Betrachten der Customer Journey mit ihren verschiedenen Touchpoints.
Bei fast allen Auftraggebern haben sich die Produktentwicklung und auch die Arbeitsweise insgesamt hin zu deutlich mehr Agilität entwickelt. Das bedeutet auch, dass es nicht mehr oft sehr große Releases mit Hunderten von Änderungen an der Seite oder der App gibt, sondern stetig kleinere Optimierungen oder einzelne neue Features herausgebracht werden. Dieser Arbeitsweise muss sich natürlich auch der UX Research anpassen. Statt großer, umfassender Studien, die die Experience des kompletten Angebots aufdecken sollen, gibt es häufigere, kleinere und fokussiertere UX Tests, die dann oft nur einen bestimmten Bereich, wie beispielsweise eine Antragsstrecke oder ein bestimmtes neues oder optimiertes Feature untersuchen sollen.
Für den Research bedeutet das im Alltag meist ein Setup wie: Ein Tag Durchführung mit 5-8 Teilnehmern, intensive Beobachtung und gemeinsames Sammeln der Beobachtungen an einem digitalen Board und anschließend eine kurze und ganz präzise Zusammenfassung der UX Issues mit Empfehlungen zur weiteren Verbesserung – möglichst alles innerhalb weniger Tage, so dass das Team direkt weiter damit arbeiten kann. Bei einer starken thematischen Fokussierung ist das durchaus auch machbar und hilft im Prozess schnell weiter.
Das damit verbundene Risiko ist natürlich, das „große Ganze“ aus dem Blick zu verlieren, also wie sich das Erleben dieser einen Optimierung in das gesamte Erleben des Nutzers dieses Angebots bzw. dieser Marke einfügt. Fragen danach, was die Nutzer eigentlich an diesem Produkt im Vergleich zum Wettbewerb schätzen, in welchen Fällen und warum doch der Wettbewerb bevorzugt wird und auch die Frage danach, was der Teilnehmer an bisherigen Erfahrungen mit diesem Anbieter mitbringt, werden im agilen UX Test meist höchstens gestreift. Natürlich versucht man solcherlei Fragen zumindest anzureißen, durch ein Vor- und Nachinterview, das über das einzelne zu testende Feature hinausgeht.
Aber wir sehen parallel zum Trend hin zu mehr Agilität, dass auch dieses „große Ganze“, also das Verstehen der Zielgruppen und ihrer Customer Journey mit den verschiedenen Berührungspunkten über die Zeit, ein gefragtes Thema ist. Dies sind dann die größeren und seltener durchgeführten Studien, die dafür aber sehr auf gründliches und ganzheitliches Verstehen ausgerichtet sind.
Meist werden diese geplant, wenn es irgendeine Art von Neuausrichtung geben soll oder eine Erweiterung des bisherigen Angebots. Spätestens dann tauchen Fragen danach auf, für wen das eigentlich geplant wird – und was den potenziellen Nutzern dabei besonders wichtig wäre etc.
Hierfür gibt es neben Tiefeninterviews ein schönes Spektrum an erhellenden Methoden wie Tagebuchstudien, die Aufschluss darüber geben, welche Nutzungsanlässe und -situationen es „im echten Leben“ eigentlich gibt. In diesem Bereich gibt es durch die Digitalisierung viele neuere Ansätze, die einen großen Mehrwert bringen. So kann man Online Communities über Themen diskutieren lassen, oder Diaries per Smartphone jederzeit zugreifbar machen, dabei auch mit den Teilnehmern chatten oder sie bitten, Fotos oder Videos hochzuladen.
Was das Spektrum agil oder möglichst allumfassend betrifft ist unsere Einschätzung also ein Klares: Beides!
Es ist gut und wünschenswert im Sinne benutzbarerer und attraktiver Produkte, regelmäßig und niedrigschwellig einzelne Features auf ihre UX hin zu testen, solange parallel auch die Bedürfnisse der Zielgruppen im Ganzen nicht aus den Augen verloren werden. Für beide Ansätze gibt es tolle neuere digitale Tools, die die Studien noch spannender und aussagekräftiger machen.
Womit wir zum nächsten und letzten Aspekt kämen: Digitale Tools in der qualitativen UX Forschung.
3. Digitale Tools für die qualitative UX Forschung
Spannende Tools für den Einsatz bei Home-Use-Studien wurden eben schon genannt.
Ganz selbstverständlich ist auch an der Durchführung klassischer UX Tests vieles digitaler geworden: Remote-Studien werden per Videokonferenz durchgeführt und Auftraggeber können am Livestream von überall zusehen und mit den Interviewern chatten. Trotzdem bleiben wie bereits beschrieben das Beobachten der Interaktion und das Verstehen, warum bestimmte Schwierigkeiten im Umgang mit einem Produkt auftreten, das Herzstück der UX Tests.
Eine Technologie, die seit Jahren erfolgreich eingesetzt wird und besonders hilft zu erklären, ob Nutzer Elemente beispielsweise gesehen oder Texte überhaupt gelesen haben, ist das Eye Tracking.
Für moderierte Remote-Setups über Videokonferenzen mit Screensharing gibt es bisher leider keine Lösung, die über die Webcam beziehungsweise die Kamera des Smartphones funktioniert. Für standardisiertere und unmoderierte Anwendungsfälle wie auch Pretests von Bewegtbild im Bereich Brand & Media Research ist es anders, da gibt es sowohl für das Smartphone als auch für die Webcam am Desktop gut einsetzbare Lösungen. Für qualitative UX Studien hoffen wir sehr auf baldige Weiterentwicklungen, so dass Eye Tracking auch für remote durchgeführte moderierte UX Tests einfach eingesetzt und aggregiert ausgewertet werden kann.
Auch die Emotionserkennung ist ein spannendes Feld, das vielleicht durch KI-Lösungen noch weiter profitieren könnte. Zwar gibt es bereits Facial-Expression-Tracking (FET), das über die Webcam funktioniert, und für unmoderierte standardisierte Verfahren erfolgreich eingesetzt werden kann. Ein Einsatz in den ja sehr dynamischen, qualitativen moderierten UX-Studien ist aber eher von limitiertem Mehrwert, da es kaum aggregiert darstellbar ist.
Interessant könnte es werden, wenn Tools gut und genau Emotionen in der Stimme der Teilnehmer erkennen könnten. Auch wenn dies nur zur Unterstützung des Interviewers dienen würde, könnte das eine spannende Erweiterung der Möglichkeiten sein, beispielsweise versteckte Frustrationen aufzudecken, auf die der Interviewer dann direkt eingehen könnte. Auch bei der Auswertung aufzeigen zu können, was emotional bei der Nutzung geschieht – zumindest, wenn laut gedacht wird – wäre eine hilfreiche Ergänzung, um das Erleben der Benutzer darzustellen.
Über Dr. Julia Nitschke

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