Prof. Horst Müller-Peters Präsidentschaftswahl USA 2020 – Erneutes Fiasko bei der Wahlforschung?

"An all die Meinungsforscher da draußen: Ihr habt keine Ahnung, was ihr tut." - Hat Trump recht?
Zugegeben, die Frage "hat Trump recht" klingt etwas ungewohnt in einem Medium wie marktforschung.de, das eine empirisch arbeitende, faktenorientierte Branche vertritt und damit Fake News, falscher Intuition und Wunschdenken naturgemäß mehr als skeptisch gegenübertritt.
Dennoch: Die Vorhersagen zur Präsidentschaftswahl 2020 entpuppen sich für die amerikanischen Wahlforscher als Fiasko. Wenn Sie, liebe Leser und Leserinnen, wie die Mehrheit der Deutschen auf Trumps Abwahl gehofft haben und angesichts der Wahlprognosen einigermaßen beruhigt ins Bett gegangen sind, so hatten Sie beim Aufstehen womöglich das Gefühl, noch in einem (schlechten) Traum gefangen zu sein, so sehr hatte sich das Bild zwischen Vorhersage und Realität geändert. Und möglicherweise haben sie dann noch – zum Beispiel auf Spiegel online – den oben zitierten Satz von Donald Trump an die Adresse aller Meinungsforscher lesen müssen.
Hat Trump also recht? Warum lagen die "Pollster" im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, von dem seit Gallups Zeiten zahlreiche bahnbrechende methodische Entwicklungen ausgingen und noch ausgehen, so falsch?
Déjà-vu aus 2016?
Die Schlappe bei der Vorhersage des Siegers 2016 hat die amerikanischen Wahlforscher bereits viel Ansehen gekostet, war aber aus Expertensicht keineswegs so schlecht wie oft dargestellt: Die Umfragen und Modelle 2016 waren zutreffender, als das äußert knappe Endergebnis am Ende scheinen ließ. Insbesondere die nationalen Umfragen lagen mit einem Fehler von zwei bis drei Prozent sehr nah am finalen Stimmenverhältnis, das ja in der Gesamtheit zugunsten von Hillary Clinton ausgefallen war. Nur die prognostizierte Stimmverteilung in den einzelnen Staaten, und damit die entscheidende Frage nach der Zahl der Wahlmänner und -frauen, war am Ende falsch. In den meisten Fällen aber auch dies knapp und durchaus im Bereich der üblichen Ungenauigkeit von selbst gut konzipierten Umfragen. Indes, so Urteilt die Öffentlichkeit nicht, hier gibt es mit Blick auf das Endresultat nur eine Dichotomie zwischen "richtig" oder – in diesem Falle – "falsch".
Versagen die neuen Methoden?
Seitdem hatten die Pollster viel Zeit zum Nacharbeiten und zum Schärfen ihrer methodischen Instrumente. Julius Lagodny, Politikwissenschaftler an der Cornell University in den USA, sagte dazu Ende Oktober in einem vielgelesenen Interview auf marktforschung.de:
"Ein Problem, das viele Pollster sahen ist, dass sie nicht mit Bildung gewichtet hatten. 2016 waren weniger gebildete weiße Wähler deutlich unterrepräsentiert. Diese haben aber bekannterweise zu großen Teilen für Trump gestimmt. Sehr viele Pollster tun das 2020. Darüber hinaus gewichten viele noch zusätzlich, ob der/die Befragte auf dem Land oder in der Stadt lebt."
Und noch eine weitere Verbesserung sprach er an: "Sehr viel mehr Modelle fokussieren sich zudem inzwischen auf das Electoral College und nicht nur auf Stimmenanteile auf nationaler Ebene. Und die Unterschiede zwischen den Staaten."
Warum konnten die Prognosen also auch – oder insbesondere – bei der Wahl 2020 so falsch liegen?
Versteckte Trump-Wähler?
Gab am Ende das Problem des "Missing not at Random" (MAR) den Ausschlag, indem die Teilnahmebereitschaft an Wahlumfragen unerwartet hoch mit der politischen Ausrichtung korrelierte? Dazu Lagodny: "Zudem können potenzielle Trump-Wähler unentdeckt bleiben, da sie eventuell Umfragen als Teil der Fake-News sehen. Zusammen mit Jonathon Schuldt und Peter Enns haben wir in dem Zusammenhang bereits 2016 'versteckte' Trump-Wähler gefunden."
Wie auch immer: Sollte Trump gewinnen, verlieren – je nach politischer Sicht – nicht nur das Klima und die transatlantischen Beziehungen, sondern auch die Demoskop'innen. Hoffen wir, dass dieses mögliche Versagen nicht als Vorlage für Gesellschaft und Auftraggeber dient, die mit Umfragen arbeitende Wahl-, Sozial- und Marktforschung zu diskreditieren und stattdessen noch alleine auf anfallende Daten, auf Intuition oder auf Wunschdenken zu vertrauen, sondern dass das Erlebnis einen entscheidenden Impuls für die ganze Branche gibt, nicht selbstzufrieden bei den bestehenden Methoden zu verharren, sondern diese noch mehr als bisher zu hinterfragen, zu prüfen und fortzuentwickeln. In den USA, aber ebenso auch hier und auf der ganzen Welt.
Mehr Try und mehr Error
Die Diskussion hierzu ist bereits in vollem Gange, wie unter anderem zahlreiche Beiträge auf marktforschung.de und lebhaft geführte Diskussion auf der Woche der Marktforschung und anderen Veranstaltungen zeigen. Umso bedauerlicher ist es, dass Projekte wie der vom ADM geplante Methodenvergleich angesichts der Corona-Krise ins Stocken gekommen ist. Liebe Profession, rafft euch auf: Seid kritisch und innovativ, probiert aus und schreckt auch vor ganz neuen Ideen nicht zurück. Und vor allem: Testet und vergleicht und streitet darüber wissenschaftlich und nicht idealistisch. Und beschleunigt so die dringend notwendige Evolution faktenbasierter Sozialforschung. Auch wenn es schon etwas abgedroschen klingt: Make Umfrageforschung great again!
Ihr Horst Müller-Peters
Über den Autor:

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