"Blick über den großen Teich" – GreenBook-Blog Plädoyer für eine neue Mentalität in der Marktforschung

In unserer neuen Kooperation mit GreenBook werfen wir regelmäßig einen Blick auf die amerikanische und internationale Marktforschung: Ein gedankenreiches Interview von Robin Wedewer mit Larry Friedman, PhD, über die Notwendigkeit, sich als Marktforscher beständig weiterzuentwickeln.

Robin: Sie haben geschrieben, dass es für Marktforscher notwendig sein wird, eine neue Mentalität zu entwickeln. Können Sie mir erklären, was Sie damit meinen?

Larry: Es gibt gerade zwei große Trends im Marketing und in der Marktforschung, die einen massiven Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Marktforscher denken und wie sie an ihre Aufgaben herangehen sollten.

Erstens bedeutet die digitale Transformation des Marketings, dass es unser gegenwärtiges Ziel sein muss, die richtige Botschaft zur richtigen Zeit am richtigen Ort an die richtige Person zu bringen. Das muss auf digitalem Wege geschehen und darum werden gerade große Anteile der Marketingbudgets in diesen Bereich verschoben. Das bedeutet auch, dass es eine absolute unternehmerische Notwendigkeit darstellt, Digital Marketing Platforms (DMPs) aufzubauen und zu optimieren. Marktforscher, egal ob sie eher quantitativ oder qualitativ ausgerichtet sind, müssen sich fragen: „Wie kann ich die DMP meines Unternehmens oder meines Kunden optimieren?“ Wenn Sie sich diese Frage nicht klar beantworten können, werden Sie Ihren Job früher oder später verlieren oder Kunden an Berater verlieren, die hierauf eine Antwort gefunden haben.

Zweitens müssen wir anerkennen, dass sich der Hauptgrund, warum Marktforschung vor hundert Jahren entstanden ist, heute verändert hat. Mit dem Aufstieg des wissenschaftlichen Management im frühen 20. Jahrhundert mussten Marketingfachleute erkennen, dass die Informationen, die sie benötigten, um informierte Entscheidungen zu treffen, einfach nicht vorhanden waren. Diese mussten erst erworben werden. Die Marktforschung entstand aus dieser Notwendigkeit heraus.

Quantitative und qualitative Methoden wurden entwickelt und mit der Zeit weiterentwickelt. Bis vor ein paar Jahren machte das Sammeln und Erheben neuer Daten die Kernaufgabe der Marktforschung aus.

Heute allerdings mangelt es uns nicht mehr an Informationen; wir ertrinken förmlich in ihnen. Alle Arten von Daten von überall her – soziale Medien, Forschungsdaten, Alexa, Kameras im öffentlichen Raum und so weiter. Diese Daten stammen aus keiner Insights-Abteilung, sie werden von allen Menschen im Unternehmen produziert und müssen auch von allen Menschen im Unternehmen genutzt werden, nicht nur vom Marketing.

Insights sind heute nicht nur die Aufgabe der Insights-Abteilung, sondern eine Funktion des gesamten Unternehmens.

Die Herausforderung besteht nun darin, herauszufinden, wie diese Daten zu managen, zu gebrauchen und bestenfalls um neue Daten zu ergänzen sind, um bestimmte Lücken zu schließen. Die Schwierigkeit für die Marktforschung liegt aber darin begründet, dass Marktforscher nicht unbedingt diejenigen sind, die für diese Aufgabe am besten qualifiziert sind. Das könnten eher Data Scientists oder technologieaffine Marketing-Experten sein, die täglich mit ihren DMPs arbeiten. 

Beide Trends weisen darauf hin, dass nicht nur ein ganz anderes Set an Fähigkeiten als in der Vergangenheit von Nöten ist, sondern auch eine ganz andere Mentalität, damit Marktforschung und Marktforscher nicht langsam, aber sicher in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Robin: Also umfasst eine neue Mentalität mehr als das bloße Aufgreifen von Online-Technologien. Wie aber sähe diese neue Mentalität speziell für qualitative Marktforscher aus?

Larry: Auf der diesjährigen IleX Konferenz war eines der zentralen Themen, mit dem uns die Kunden immer wieder konfrontiert haben: „besser, schneller und günstiger. Zwei von drei sind nicht mehr gut genug.“ Nun stellen Automatisierung und Technologie ganz klar die Lösung für die Variablen „schneller“ und „günstiger“ in dieser Gleichung dar. Man kann Befragungen von Einzelpersonen und Gruppen online an ganz unterschiedlichen Orten der Welt durchführen, was sehr viel Zeit und Aufwand und damit auch Geld einspart. KI-basierte Ansätze zur Textanalyse sollten uns die größten analytischen Schindereien ersparen können. Das sollte (Kunden)marktforschern erlauben, einen größeren Fokus auf das zu legen, was sie als wirklich relevant für die jeweilige Sache erachten. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, ob das wirklich mit „besser“ gemeint ist.

Ich glaube, dass eine wirkliche Mentalitätsfrage für qualitative Marktforscher darin besteht, ihre eigene Rolle im Marketingprozess neu zu denken. Heute ist der ganze Zeitprozess deutlich komprimierter; es gibt weit weniger Übergaben, weniger Einzelprojekte und deutlich mehr integrierte Programme. Wenn immer stärker in Teams zusammengearbeitet wird, wird es mit der Zeit immer schwieriger, ganz klar zu unterscheiden, wer nun Marketingfachmann, wer qualitativer Marktforscher, wer quantitativer Marktforscher und wer Werbefachmann ist. Die Grenzen werden hier vollkommen verschwimmen und darum müssen Marktforscher in Zukunft wesentlich vielseitiger sein und über ein breiteres Set an Fähigkeiten verfügen. Diese Fähigkeiten umfassen dann nicht nur spezifische Marktforscherfertigkeiten, sondern ein vertieftes Verständnis für das Geschäft des Kunden, für die Herausforderungen, mit denen seine jeweilige Branche in dieser Zeit der Umbrüche konfrontiert ist. Dieses Set an Fähigkeiten muss Hand in Hand mit einer Mentalität gehen, die sich an Fragen wie „Wie kann ich meinem Kunden dabei helfen, mehr Waren zu verkaufen?“ und nicht bloß „Kann ich eine Focus Group für Sie durchführen?“ orientiert.

Robin: Es scheint so, als könnte das eine echte Gelegenheit für uns darstellen, um uns viel stärker in das Geschäft unserer Kunden oder unserer Unternehmen einzubetten und eher als Berater denn als Verkäufer aufzutreten – was heute schon oft der Fall ist.

Larry: Ich denke, dass das eines der spannenden Ergebnisse dieser Veränderungen sein wird. Sicherlich sind diese Veränderungen immer mit Ängsten verbunden, aber sie bergen auch ein riesiges Potential für all jene, die diesem Wandel offen gegenüber stehen und ihn richtig zu händeln wissen.

Viele Arten von Informationen, die die Welt für uns bereithält, würde man üblicherweise dem Aufgabenbereich von qualitativen Marktforschern zuordnen. Ich denke hier zum Beispiel an Diskussionen zu beliebigen Themen in den sozialen Medien, das Teilen von Bildern und Fotos oder Videoaufnahmen von Menschen in der Natur. Unternehmen treten heute zunehmend über Chatbots mit ihren Kunden in Kontakt. Machine Learning hat sich im Bereich der sozialen Medien so weit entwickelt, dass entsprechende Analysen herausfiltern können, um was es in Unterhaltungen geht, welche Motivationen, Emotionen und Gefühle zum Ausdruck kommen usw. Damit gehen sie weit darüber hinaus, was wortbasierte Analysen noch vor wenigen Jahren leisten konnten und dabei, ehrlich gesagt, auch mit einer Genauigkeit operieren, die jene weit übersteigt, mit der einzelne Programmierer oder Analysten zu arbeiten im Stande sind.

Robin: Welche Unternehmenstypen machen heute die größten Fortschritte im DMP-Bereich – jene, die sich so aufstellen, dass die Bereiche inkorporieren, die traditionell qualitativen Marktforschern vorbehalten waren?

Larry:  Traditionelle qualitative Marktforscher scheinen davon überzeugt zu sein, dass Big Data lediglich Aufschluss über das Was, nicht aber über das Wie geben können. Ich glaube, dass diese Haltung hoffnungslos naiv ist angesichts dessen, was heute bereits mithilfe von Machine Learning und künstlicher Intelligenz möglich ist. Die Leistungsfähigkeit ähnlicher Analyseverfahren für Bilder und Videos machen ebenfalls große Fortschritte. Die Software, die dies zu leisten im Stande ist, steht spezialisierten Social Media- und Technologieunternehmen wie Accenture und IBM (von denen manche direkt an der Gestaltung von DMPs für Marketingexperten beteiligt sind) ebenso wie Facebook und Google heute schon zur Verfügung. Auch Unternehmen im Bereich Kundenmarketing (und Insights) arbeiten damit. Ich finde es sehr interessant, dass Kundenmarktforscher stärker von Social-Media-Analysen Gebrauch machen als die Anbieter selbst, wie aus dem GRIT Report für die letzten Jahre hervorgeht.

Ich bin daher davon überzeugt, dass aus unterschiedlichsten Richtungen Konkurrenz erwächst und es nicht vollkommen klar ist, wer hierbei die Gewinner und die Verlierer sein werden. Die Wettbewerbslandschaft ist jedenfalls großen Veränderungen unterworfen.

Robin: Welche Fähigkeiten müssen sich qualitative Marktforscher denn mitbringen, wenn die traditionellen Grenzen zwischen Marketing und qualitativer bzw. quantitativer Marktforschung zusehends verschwimmen oder sich gänzlich auflösen und sich der Fokus immer mehr auf DMP verschiebt?

Larry: Wenn man davon ausgehen kann, dass die Zukunft zunehmend in integrierten Programmen liegt, würde ich sagen, in Data Science versierte qualitative Marktforscher einen großen Wert für das jeweilige Gesamtteam haben können. Man muss in der Lage sein, im Gespräch mit den anderen Teammitgliedern mitzuhalten und seinen Teil zu erfüllen.

Robin: Data Science ist ein riesiges Feld. Worauf, würden Sie sagen, sollten sich qualitative Markforscher konzentrieren, wenn sie ihre Fähigkeiten verbessern wollen?

Larry: Eine der zentralen Aufgaben von Data Science besteht darin, verschiedenste Datensets mit einem großen Set zu verbinden, die dann zusammen analysiert werden können, um daraus tiefere Erkenntnisse zu gewinnen oder (noch besser) Voraussagen treffen zu können, die man niemals erhalten hätte, wenn man sich nur mit einem Datenset befasst hätte. Das ist selbst für Spezialisten ein schwieriges Unterfangen. Eine der Herausforderungen liegt darin, dass die Analyse bei solch großen Datensets in viele verschiedene Richtungen gehen kann. Es hilft natürlich, wenn man dabei mit guten Hypothesen arbeiten kann. Wer mindestens ein passables Wissen darüber hat, wie Data Science funktioniert, kann auch als qualitativer Marktforscher dabei helfen, gute Hypothesen zu generieren.

Ein anderer Bereich, der mir in diesem Zusammenhang einfällt, ist die Sprachanalyse. Gute qualitative Marktforscher sind gute Zuhörer; sie machen sich viele Gedanken darüber, was Menschen sagen und interpretieren es. Die Formen von Sprachanalyse, die auf Social Media-Daten oder Customer Experience Chatbot-Daten angewandt werden, könnten von diesen Fähigkeiten profitieren. Deshalb glaube ich, dass es sehr sinnvoll ist, wenn man sich gerade mit diesen Bereichen stärker auseinandersetzt und sich hier neue Fähigkeiten aneignet, um sich als Marktforscher besser für die Zukunft aufzustellen.

Robin: Was bedeutet das für die Dienstleistungen und Produkte, die wir unseren Kunden anbieten?

Larry: Ich denke, dass ein Bereich, der in Zukunft von geringerer Bedeutung für die qualitative Marktforschung sein wird, die Erforschung von Reaktionen auf bestimmte Stimuli wie Konzepte und insbesondere Werbung ist. Statt im Rahmen zahlreicher qualitativer Analysen unterschiedliche potentielle Werbeanzeigen zu diskutieren, ist es einfach schneller, günstiger und besser, verschiedene Optionen online zu stellen, zu schauen, welche davon die positivsten Reaktionen generieren, die Schlechten auszusortieren und mit den Guten weiterzuarbeiten. A/B-Tests bei Werbung sind zunehmend gang und gäbe und ebenso deutlich zweckdienlicher, da sie in die DMPs integriert sind. Also dieser ganze Bereich verliert zusehends an Bedeutung und das betrifft sicherlich auch die quantitative Forschung.

Wenn wir es aber schaffen, das Konzept der integrierten Programme vollständig aufzugreifen, dann sehe ich ebenfalls große Wachstumsbereiche. Während meiner letzten Jahre bei TNS habe ich beispielsweise daran gearbeitet, neue Formen des Brand Trackings zu erarbeiten, die auf verschiedensten empirischen Wahrnehmungsdaten (wie etwa Social Media- Daten oder Suchdaten) beruhten. Diese wurden um sehr viel kürzere mobile Umfragen ergänzt, deren Schwerpunkt darauf lag, uns Insights zu liefern, die wiederum nur sehr schwierig aus den empirischen Wahrnehmungsdaten abzulesen waren.

Diese neue Mentalität in der Marktforschung kann letztlich auch zu einer neuen Zusammenarbeit mit den Kunden führen. Der digitale Wandel geht mit einer Vielzahl von Chancen für jede und jeden von uns einher – wenn wir gut darauf vorbereitet sind und diesem Wandel offen gegenüberstehen. Andernfalls wird uns dieser Wandel sicherlich überrumpeln.

Robin Wedewer ist Präsidentin der Wedewer Group.
Larry Friedman ist Redakteur des GreenBook-Blog uns arbeitet seit über 20-Jahren in der Marktforschung.

Dieses Interview erschien auf Englisch im GreenBook-Blog, USA.

In loser Reihe veröffentlichen wir an dieser Stelle interessante Beiträge amerikanischer und internationaler Autoren, die einen Blick auf den größten Marktforschungsmarkt der Welt und die internationale Markforschungsszene ermöglichen.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Jan Strasser am 26.06.2019
    Einer der besten Beiträge, die ich in den letzten Jahren zum Thema "Zukunft der Marktforschung" gelesen habe. Herzlichen Dank!
  2. Sebastian Götte am 05.09.2019
    Wenn einem Kunden als Anforderung nur "besser, schneller und günstiger" einfällt, würde ich mich fragen, was meine Motivation sein sollte, für ihn zu arbeiten. Diesen Forderungen sehen wir uns als Branche ja immer wieder ausgesetzt, und ich finde das bedenklich. Ich kenne kaum eine andere Dienstleistung, die über die Zeit günstiger wird. Einspareffekte durch technologische Neuerungen schön und gut, aber diese Neuerungen müssen ja auch unter nicht unerheblichen Kosten entwickelt und eingeführt werden. Und wenn der Anspruch unserer Kunden ist, dass wir technologisch immer auf dem neuesten Stand sein sollen, sehe ich keinerlei berechtigtes Argument für "günstiger". Besser immer gern. Von mir aus auch schneller. Aber Markt- und Sozialforschung sollte eine (auch monetär) wertgeschätzte Dienstleistung bleiben.

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