Anja Kreutzer, Skopos Optimieren statt nur reparieren – unser Gesundheitsanspruch im Wandel

Wie es war ...
„Wenn ich es schlau anstelle, kann ich mit Marktforschung so viel verdienen, wie in meiner Praxis.“ Dieser Satz eines Arztes im Warteraum zu einer Fokusgruppe vor vielen Jahren hat sich bei mir eingeprägt. Auch wenn vielleicht ein leichtes Augenzwinkern dabei war und wenn es aus methodisch-wissenschaftlicher Sicht natürlich stets das Ziel sein sollte, für jede Studie „frische“ Probanden zu bekommen: Man konnte sich vorstellen, dass die Rechnung nicht ganz aus der Luft gegriffen war.
Als ich 2005 mit der Marktforschung im Healthcare-Bereich begann, fokussierten sich die damaligen Studien vor allem auf klassische Zielgruppen und Kennzahlen aus dem Gesundheitsbereich. Befragt wurden überwiegend Healthcare Professionals (HCPs) bzw. Ärzte aus den unterschiedlichen Fachrichtungen; und die Inhalte bezogen sich zumeist auf Verordnungs- und Empfehlungszahlen mit Blick auf die verschiedensten Indikationen und Präparate. Darüber hinaus wurden auch die Außendienstaktivitäten der diversen Hersteller stark beforscht: Wie wurde das Gespräch wahrgenommen, welche Inhalte sind in Erinnerung geblieben und wie wird sich das Verordnungs- und Empfehlungsverhalten vermutlich verändern? Dies sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen sollen, dass HCPs zur damaligen Zeit ganz klar, schon fast ausschließlich, im Fokus der Bemühungen standen und als Gatekeeper dominierten. Der dahinterstehende Patient wurde relativ selten zu seinen Bedürfnissen und seiner Meinung befragt.
Wie es ist …
Aber gilt das heute auch noch? Bei einem Blick auf die aktuellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die werblichen Aktivitäten der Pharma- und Gesundheitsindustrie und die Zielgruppenstruktur unserer aktuellen Auftragsstudien zeichnet sich mittlerweile ein verändertes Bild ab. Während früher HCPs klar im Mittelpunkt standen, nimmt der Patient heutzutage eine immer wichtigere Rolle ein. Dieser Trend ist schon seit einigen Jahren zu beobachten, aber mittlerweile sind die Zahlen so deutlich, dass es sich nicht mehr nur um eine Verschiebung handelt, sondern um einen Paradigmenwechsel. Stichworte: Der mündige Patient und die dadurch folgerichtige Patientenzentrierung.
Es reicht nicht mehr aus, dass der Arzt Präparate verordnet oder der Apotheker diese im Gespräch empfiehlt. Die Patienten kommen zunehmend informiert, mit klaren Vorstellungen in die Praxen oder Apotheken. Der Patientenanspruch hat sich – auch durch die Digitalisierung und den damit verbundenen stark vereinfachten Zugang zu Fachwissen und Meinungen unterschiedlichster Experten und Institutionen – verändert.
Durch die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung erst recht an Fahrt gewonnen. Noch nie wurden wir von Gesundheitsthemen so stark dominiert. Virologen, Experten und Institutionen aus dem Gesundheitsbereich erreichen Bekanntheitsgrade wie Popstars und Inzidenzen und aktuelle Corona-Maßnahmen ersetzen die Wetterprognose in jedem Smalltalk. Unsere Gesellschaft ächzt unter der zunehmenden Last im Umgang mit der Pandemie, der verlorenen Freiheit in Kombination mit einem gesteigerten Leistungsdruck, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und den fehlenden Möglichkeiten, den eigenen „Akku“ mittels schöner Erlebnisse wieder aufzuladen. Umfragen zeigen, dass noch nie so viel Wert auf einen gesunden Lebensstil und das eigene Wohlbefinden gelegt wurde wie in den letzten Monaten. Wir schreien förmlich nach Dingen, die dazu führen, dass wir uns besser fühlen. Dazu passen die enorm gestiegenen Umsatzzahlen von „gesundheitsnahen“ Angeboten wie veganen Produkten, Nahrungsergänzungsmitteln oder allem, was im weitesten Sinne mit gesundem Lebensstil und Wellness für zu Hause zu tun hat.
Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Lifestyle und Gesundheit immer mehr. Die Strategie, den Endverbraucher in den Mittelpunkt zu stellen, geht einher mit einer veränderten Charakterisierung der Nutzer von Präparaten und Produkten: Nicht nur Kranke sind Nutzer, sondern auch eine leistungsorientierte Zielgruppe. Reine Behandlung wird ergänzt um einen stark erhöhten Bedarf an Prävention. Wie z. B. die Mutter, die es mit Hilfe von Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln schafft, gesund und leistungsstark zu sein, damit sie im Home-Office Familie und Beruf unter einen Hut bringen kann. Nach dem Motto „optimieren statt nur reparieren“. Also sprechen wir nicht mehr nur noch von einer Patientenzentrierung, sondern auch von einer Kundenzentrierung. Man könnte auch Nutzerzentrierung sagen, um diese Zielgruppen zu vereinen.
Wie es weiter gehen könnte …
Für die Healthcare-Industrie bedeutet diese Entwicklung, dass Nutzer bei der Umsetzung der Marketing- und Kommunikationsstrategie noch stärker in den Fokus gerückt werden sollten. Das gilt natürlich vorwiegend für alle OTC-Produkte (ohne Rezept erhältliche Präparate) – seien es apothekenpflichtige oder frei verkäufliche. Aber auch im Rx-Bereich (rezeptpflichtige Medikamente) ist es zunehmend wichtig, die Bedürfnisse der Nutzer z. B. im Rahmen von behandlungsbegleitenden Programmen oder entsprechenden Informationskanälen zu adressieren.
Dies bringt natürlich ein Umdenken an der ein oder anderen Stelle mit sich. Grundlegend für das Ableiten einer optimalen Strategie ist aber nach wie vor, dass man seine Zielgruppe, in dem Falle die Nutzer, genau verstehen muss. Was wiederum bedeutet, dass viel mehr Daten zur Struktur der Zielgruppen gesammelt und das Verhalten entlang der gesamten Customer Journey eruiert werden muss.
Hier hat uns Corona zur Abwechslung mal in die Karten gespielt und als Beschleuniger fungiert. Durch die Pandemie und die daraus resultierenden schwerwiegenden Veränderungen hinsichtlich unser aller Lebensumstände hat das Thema „Digitalisierung“ zwangsweise an Fahrt gewonnen. Von einem Moment auf den anderen mussten wir uns, über alle Altersgruppen und Schichten hinweg, mit digitalen Lösungen beschäftigen und diese auch vermehrt nutzen. In Kombination mit der gestiegenen Relevanz von Gesundheitsthemen, bewirkt diese Entwicklung einen positiven Effekt auf die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft von Nutzern und die Validität der Ergebnisse.
Untersuchungsteilnehmer gehen heute viel freizügiger mit Informationen ihr eigenes Wohlbefinden betreffend um als früher, sind deutlich interessierter daran, ihre Meinung zu Gesundheitsthemen kundzutun oder in den Austausch mit anderen Nutzern zu treten. Dazu werden zunehmend auch digitale Tools genutzt, die gerade bei speziellen Nutzertypen oder Indikationen eine deutliche Vereinfachung in der Durchführung mit sich bringen.
Darüber hinaus kann es auch hilfreich sein, sich mit den Strategien anderer Industriezweige, wie etwa der FMCG-Branche, auseinander zu setzen. Hier hat man die Kundenansprache über die letzten Jahrzehnte hinweg perfektioniert. In der Kosmetik-Branche ist es z. B. üblich, dass die Werbe-Spendings die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei weitem übertreffen. Das heißt natürlich nicht, dass das auch im Healthcare-Bereich angestrebt werden sollte - Gott bewahre. Worauf ich hinaus will, ist, dass es sich hierbei um einen Industriezweig handelt, der unglaublich viel Erfahrung in der Vermarktung seiner Produkte gesammelt hat und diese auch ausspielt. Hier ist z. B. das Thema „Selbstoptimierung“ ebenfalls prominent, nur bezogen auf das Aussehen. Und alle Werbeaktivitäten dieser Branche haben eins gemeinsam: Sie fußen immer auf positiven Emotionen und auf dem Gefühl, sich selbst und seinen Körper in der Hand zu haben. Genau das, wonach wir uns alle gerade jetzt so sehr sehnen: Das Glas ist nicht halb leer, sondern halb voll – Gesundheit statt Krankheit!
Über die Autorin:

/pj
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