Oliver Tabino, Q | Agentur für Forschung Open Data & Dataviz strikes back?

Daten sind das neue Öl. Doch ohne die richtige Raffination bleibt auch die tiefste Bohrung und das größte Vorkommen ohne Sinn und Zweck. Wie man Daten richtig aufbereitet und visualisiert, dazu hat Oliver Tabino einige Perspektiven zusammengetragen.

Oliver-Tabino-Dossier-Beitrag (Bild: Q|Agentur)

Vor fast 4 Jahren im Mai 2017 titelte The Economist: "The world's most valuable resource is no longer oil, but data". Die Wichtigkeit von Daten ist schon immer Teil der DNA von Markt- und Sozialforschern und mittlerweile ist diese Erkenntnis auch in der breiten Öffentlichkeit unbestritten. Der Zugang zu Daten, aber vor allem die Verarbeitung, Aufbereitung und Darstellung von Daten, wird immer mehr zur Selbstverständlichkeit und sogar zum Machtinstrument. Mit anderen Worten: Rohdaten sind die Basis, aber Erkenntnis entsteht durch die Strukturierung, Darstellung und Interpretation von Daten. Diese Erkenntnis wiederum führt zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Entscheidungen. Die DGOF hat vor ein paar Wochen das Kompendium "Data Visualization in Social Science and Market Research" veröffentlicht, um Datenvisualisierungsthemen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.

Benjamin Widerkehr (Interactive Things), einer der Autoren des aktuellen DGOF Kompendiums, meint dazu: "In essence, data visualization makes the invisible visible: by giving shape to numbers, we enable people to see facts that are out of sight and take actions that are out of reach."

Die Visualisierung von Daten bringt demnach sogar einen analytischen Mehrwert, sie ist nicht nur Darstellung, sondern Instrument des Erkenntnisgewinns. Oder mit anderen Worten: Erst durch die Aufbereitung und Visualisierung ist ein neuer Erkenntnisgewinn möglich. Auch dieses Zitat unterstreicht den möglichen Einfluss von Datenvisualisierungen.

In eine ähnliche Richtung argumentiert Matteo Bonera (Adjunct Professor at Politecnico di Milano & Creative Director at The Visual Agency) und fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu. Wir müssen nämlich auch (neu) lernen, die Daten zu decodieren: "We are literally drowning in information but starved for knowledge, feeling like living in the modern library of Alexandria but without knowing how to read. People don't need another app; as well as companies don't need to invest in another tool. We just want to understand." Wenn wir beim Bild des Öls bleiben, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Erdöl wird knapp, Datenberge dagegen wachsen an und sind fast nicht mehr beherrschbar.

Verantwortung und Folgen für demokratische Prozesse

Der Anspruch einer guten Datenvisualisierung, eines im Alltag gerne genutzten Dashboards, einer überzeugenden Infografik oder gar einem ausgeklügelten Informationsdesign-Konzeptes ist meist die intuitive Nutzung und somit der relativ einfache Zugang zu den dahinterliegenden Daten.

Patricia Blau, Corporate Director bei der GIM, bringt die Stärke von Datenvisualisierungen auf den Punkt: "Gute Visualisierung erlaubt den unmittelbaren Brückenschlag in den Kopf oder gar das Herz der Betrachter." Ein weiterer wichtiger Aspekt wird in diesem Zitat deutlich: Datenvisualisierungen haben ein großes Potential, spröde oder unterkühlt wirkende Daten zu emotionalisieren.

Paul Simmering (Data Scientist bei Q Agentur für Forschung) geht noch einen Schritt weiter und macht auf einen Gedanken aufmerksam, der auch in der Open-Data-Bewegung eine Rolle spielt und viel diskutiert wird: "Datenvisualisierung ist für alle zugänglich: Mit wenigen Klicks kann man in Excel Standard-Visualisierungen erstellen. Mit den richtigen Skills kann man aber auch mit Libraries wie d3.js ganz eigene, nie dagewesene Visualisierungen erstellen."

Wenn Datenvisualisierungen und Informationsdesign das oben Zitierte leisten, beinhaltet das auch eine Art der Demokratisierung von Datenhoheit und Deutungshoheit. Wenn Daten und Inhalte für viele oder gar alle Menschen oder Teile einer Bevölkerung offen verfügbar und durch Visualisierungen leicht verständlich und erfassbar werden, wird der Machtaspekt und die Folgen für gesellschaftliche Diskussionen noch deutlicher.

Die Diskussion um Deutungshoheit erlebe ich als Marktforscher immer wieder. Schon vor Jahren als die ersten Dashboards in Unternehmen genutzt wurden und der Zugang zu Daten, Ergebnissen und Insights offener wurde, gab es Sorgen und Diskussionen, ob diese Art von internen "Open Data"-Strukturen nicht auch große Gefahren der Fehlinterpretation bedeuten können.

Wir sehen gerade wie in einem riesigen Live-Experiment, was Open Data und die Popularität von Datenvisualisierungen außerhalb unserer eigenen Branche auslösen können. Die aktuelle Pandemie führt zu einem Visualisierungsboom. Dashboards und Datenreihen der John-Hopkins-Universität und des RKI tauchen mittlerweile mehrmals täglich im eigenen Newsfeed auf. Menschen streiten miteinander über Inzidenzwerte - von denen viele vor einem Jahr vermutlich noch nicht einmal wussten, dass es Inzidenzwerte gibt. Anhand von öffentlich zugänglichen Statistiken werden Folgen von Lockdowns auf die Intensivbetten-Belegungen bewertet und interpretiert - häufig ohne jegliche statistische Kenntnis. Die Frage nach Korrelation und Kausalität stellt sich in der öffentlichen Diskussion nicht mehr! Das ist bedenklich und ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass jeder der Daten nutzt und visualisiert eine große Verantwortung trägt. Bei aller Faszination, die ich teile, wird mir klar, dass diese Verantwortung und möglicher Missbrauch mitgedacht werden sollte.

Swen Sieben (Data Analyst bei Q | Agentur für Forschung) weist völlig zurecht darauf hin, dass wir bei Daten nicht vergessen dürfen, dass viele Daten meist von Menschen "produziert" werden: "Hinter Zeilen und Spalten verstecken sich Geschichten, Ereignisse und manchmal Schicksale. Die Art der Datenvisualisierung hat die Macht zu entscheiden, wie und was von diesen Geschehnissen erzählt wird. Dabei geht es um Verantwortung; gegenüber Daten, Betrachter:innen und Entscheidungsträger:innen. Wer den Prozess der Datenvisualisierung unterstützt, stellt sich nicht nur dieser Verantwortung, sondern öffnet die Tür für effektive Kommunikation und fruchtbaren Austausch".

Den Wert der Schönheit nicht unterschätzen

Durch Informationsdesign und Datenvisualisierungen entwickelt sich die Sozial- und Martkforschung auf mehreren Ebenen weiter. Neben den bereits angesprochenen Chancen und Risiken und deren Bedeutung für die Erweiterung des Skill Sets von Sozial- und Marktforscher:innen gibt es einen weiteren Aspekt, der auf der Hand liegt, aber immer wieder betont werden sollte: viele Datenvisualisierungen und Infographiken sind schön. Sie zu betrachten macht Spaß. Sie zu erleben führt unter Umständen zu einem ähnlichen Zustand wie das Betrachten eines Kunstwerks.

Die letzten Worte gehören in diesem Artikel Matteo Bonera. Ob sie Blumen hässlich oder schön finden, bleibt ihnen überlassen:

"The thing that fascinates me the most about data visualization is its mimesis. It shares a lot with the carnivalesque shapes of flowers. I mean, nothing is uglier than flowers: they're just an open invitation for insects to screw them. And so does, in many ways, data visualization to its viewers."

Wenn Sie die Autoren und vor allem ihre Artikel genauer betrachten wollen, dann gibt es im aktuellen DGOF- Kompendium die Möglichkeit dazu: Data Visualization in Social Science and Market Research O. Tabino, C. M. Stützer & A. Wachenfeld-Schell: Data Visualization in Social Science and Market Research DGOF-Kompendium der Online-Forschung, Band 2

Über den Autor

Oliver_Tabino_180 (Bild: Q|Agentur)
Oliver Tabino ist Gründer und Geschäftsführer der Q | Agentur für Forschung. Er ist Autor zahlreicher Fachartikel und Co-Herausgeber des aktuellen DGOF-Kompendiums. Für die DGOF organisiert er außerdem die ResearchPlus Rhein-Neckar.

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