Edward Appleton, H/T/P Online Insights Communities mit neuer Tiefenwirkung

Neue und ungeahnte Tiefen erkunden. Das können nicht nur Taucher, sondern – so Edward Appleton – auch Online Insights Communities. (Bildnachweis: picture alliance / Bildagentur-online/Schöning | Bildagentur-online/Schöning )
Der Aufstieg der Online – oder Insight–Communities, häufig MROCs genannt (Market Research Online Communities), scheint unaufhaltsam.
Vor 15 Jahren waren sie in Deutschland noch eine Seltenheit. Im GRIT Report 2018 lagen sie (global wohlgemerkt) mit 59 Prozent auf Platz 1 der „emerging methods“. Zum Vergleich: Anfang 2013 lag der Anwendungsanteil noch bei 45 Prozent.
Und 2021? GRIT bietet dazu leider keine Daten mehr.
Unsere Erfahrung zeigt, dass sie vor allem in den letzten 18 Monaten einen regelrechten Boom genießen – von „emerging method“ kann nicht mehr die Rede sein.
Im Mainstream angekommen also. Und 2021? Unsere Erfahrung zeigt eine spannende neue Tiefenwirkung auf.
Von Insight Communities zu Tiefen-Insights?!
Warum aber sind MROCs so beliebt?
Ein wichtiger Grund dafür: MROCs sind durch die ständige Ausweitung von Funktionalitäten, dem einfachen Hinzufügen von Plug-ins wie beispielsweise Eye-Tracking, zu einer Art digitalem Alleskönner geworden. Unstrukturierte Daten sortieren lassen, auch in größeren Mengen? Kein Problem. Durch Quick Polls ein schnelles Ranking erhalten, Marken in Gruppen sortieren und somit erste Segment-Hypothesen bilden? Alles drin!
Die Flexibilität ist enorm – und das auch grenzüberschreitend. Google Translate und ähnliches verbessert sich ständig, Transkripte sind schnell vorhanden, Video-Tagging relativ einfach erledigt, um nur einige Features zu nennen.
Sie rücken damit in die methodologische MaFo-Mitte und eignen sich damit für eine immer größer werdende Bandbreite von Insight-Projekten, auch für strategische.
Interessanter noch – in den letzten 18 Monaten stellten wir fest, wie sehr sich MROCs auch für die Gewinnung von Tiefen-Insights eignen/nutzen lassen, was früher nicht immer der Fall war.
Viele Teilnehmende sind anscheinend nachdenklicher geworden und geben in MROCs tiefe Einblicke in ihr Leben.
Somit bieten MROCs gleich zweierlei:
Eine Kombination von Breite und Tiefe. Das ist ein beeindruckender Spagat, welcher der Quadratur-des MaFo-Kreises nahekommt.
Zu beiden Aspekten gleich mehr. Aber vorweg: ein Blick zurück.
Die Anfangsjahre – Ethnographie aus der Ferne
Vor rund 15 Jahren haben MROCs in Deutschland ihren Einzug erlebt. H/T/P hat z.B. 2007 angefangen erste Insight Communities durchzuführen.
Ethnographie ging plötzlich anders: unvermittelter, relativ einfach beim digitalen Set-Up und trotzdem im Erkenntnisgrad filigran. Outputs waren reichhaltig – ohne dass der Interviewer dabei sein musste. Methodologisch gesehen erlaubte das digitale Festhalten von Verhalten eine solide, valide Basis, die für tiefergehende Besprechungen genutzt werden konnte. Behavioural-based Insights – ohne Gedächtnislücken, mit weniger Platz zum Schönreden.
COVID und die Monate der Selbstreflexion
Diese digitalen Ethnographien haben sich zwischen 2010 und 2019 zunehmend etabliert.
Ab circa 2014 kamen mobile Ethnographien dazu, um das Out-of Home hautnah und (fast) in Real-time zu erfassen. Dank des Einsatz von Smartphones konnten viele „In-the-Moment“ Erlebnisse beim Shoppen oder abends beim Ausgehen sehr gut zum Leben erweckt werden.
Fast forward ins Jahr 2021: Durch die Pandemie hat sich einiges geändert, auch für MROCs. Die Beliebtheit scheint gestiegen, mobile Ethnos dagegen machen eine Art Verschnaufpause.
Was Sinn macht, denn Out-of-Home Anlässe waren die letzten 18 Monaten durch die pandemiebedingten Lockdowns sehr begrenzt, wenn überhaupt vorhanden.
Dagegen hatten viele von uns sehr viel Zeit nachzudenken, eine längere „Stop und Pause“ Phase erlebt. Sehr oft zuhause, auf der Couch, oder bei wiederholten Spaziergängen in allzu vertrauter Umgebung. Erlebnishungrig ja – aber auch sinnsuchend.
Ob wir von dem „Great Reset“ reden können ist fraglich, aber einen „Mentalen Reset“ haben die meisten von uns schon erlebt.
Eine neue Selbstreflexion oder Reflektiertheit scheint sich in vielen Zielgruppen verbreitet zu haben, die weder eindeutig als System 1 (schnell, intuitiv) noch System 2 (rational, langsam) zu klassifizieren ist.
Wer und wie möchte ich künftig sein? Was ist mir wirklich wichtig?
Es scheint ein Value-Shift im Gange zu sein.
Das merken wir bei vielen unserer derzeitigen MROCs in den verschiedensten Kategorien und Kulturen der Welt.
Man spürt die Suche nach dem Sinn – im Leben generell, auch im Bereich Konsum. Weiterhin viel digital erledigen – oder doch lieber im Laden anfassen und stöbern? Home-Office weiterhin – oder die Momente im Büro mit den Kollegen wieder erleben? Wieder unbeschwert auf ein Live-Konzert gehen oder doch lieber netflixen?
MROCs passen für diesen sich neu-orientierenden, eher Bedeutungs-suchenden Gemütszustand wunderbar. Zwei Fallbeispiele aus der Praxis.
Getränkemarkt – MROCs, Sinn und Sinnlichkeit
Ein multinationaler Getränkehersteller wollte im alkoholfreiem Segment seine Präsenz erfolgreicher etablieren und dafür ein spezifisches Marktsegment besser verstehen.
Mit einem Fokus auf Frauen zwischen 30 und 40 Jahren haben wir in einer drei Länder übergreifenden, einwöchigen MROC sehr viel über das Hinterfragen von sozialen Anlässen und geselligen Trinkmomenten gelernt.
Viele der unbeschwerten Anlässe und akzeptierten Routinen und Gewohnheiten aus der jüngsten Vergangenheit wurden hinterfragt – was davon eher wichtig war, was eher mechanische Routine. Viele grübelten nach, was sie in Zukunft wirklich wollten.
Vieles schien bewusster zu sein, die Teilnehmerinnen versuchten sich in eine eigene, neue Zukunft zu versetzen, sich geistig und emotional heranzutasten. Was schwierig ist – sich das Imaginäre vor Augen zu führen.
Dafür spannten sie die eigene Vorstellungskraft ein, auf der Suche nach neuer emotionaler Relevanz. Die dafür eingesetzten Tools – Bilder sortieren, Brand Mapping zum Beispiel, auch projektive Techniken – schienen sehr passend.
Auch Storytelling-Methoden funktionierten sehr gut – und waren zudem prognostisch, dienten sozusagen als Wegweiser für mögliche Verhaltensveränderungen der Zukunft.
Handlungsempfehlungen sind dank der sehr überlegten Inputs der jetzigen MROC Teilnehmerinnen sehr klar und zwingend – man bekommt viel mehr als eine Menge ethnographischer Daten, wie gut sortiert auch immer.
Auch dies ist vielleicht ein Grund, warum MROCs weiterhin an Beliebtheit gewinnen – sie bieten jenseits des Deskriptiven eine verbraucherbasierte To-Do-Liste, die einem zeitgestressten Auftraggebenden hilfreich sein kann.
Gen Z und vegane Lebensmittel
Wie anfangs erwähnt, eignen sich Insight Communities auch sehr gut, eine große Bandbreite von strategisch wichtigen Projekten zu bedienen: z. B. In-Home Usage Tests, Portfolio-Neusortierungen, Trend-Studien, sogar Grundlagenstudien.
Eine kleine Case Study zu Letzterem.
Ein Lebensmittelhersteller wollte ein neues, veganes Sortiment für die jüngere Zielgruppen entwickeln, um von diesem schnell wachsenden Segment zu profitieren. Dabei sollte möglichst die neue Produktpalette in verschiedenen Absatzmärkten angeboten werden – unter der Annahme, dass Teenager eine eher global denkende Zielgruppe sind. Dabei wusste der Auftraggeber wie spezifisch lokal gerade die Food Kategorie sein kann – aber ist sie das auch für Teenager?
Die konkrete Zielsetzung war Einstellungen der Zielgruppe zu veganen Produkten in vier Ländern zu erforschen sowie Reaktionen auf erste Konzepte zu bekommen – in Deutschland, sowie in drei angrenzenden osteuropäischen Ländern. Auch die Shopping Gewohnheiten der Gen Z wollte man verstehen, welche Präferenzen, online wie stationär.
Unser Forschungsdesign war mehrstufig – das Kernstück bildete aber eine fünftägige Insight Community. Bei allen Teilnehmenden haben wir die Erlaubnis erhalten, gleichzeitig Einblicke in ihren Instagram Feed zu bekommen: wem sie folgen, was sie selbst posten.
Im Anschluss haben wir mit ausgewählten Teilnehmenden aus der Community Screen-to-Screen Fokusgruppen durchgeführt, um bei ausgewählten Themen tiefer zu gehen und auch die Reaktionen auf das getestete Konzept besser zu verstehen.
Die Ergebnisse waren zielführend und aufschlussreich, gemeinsam mit den Kunden konnten wir sowohl übergreifende ZG-Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede identifizieren – bezogen auf Kulturen, aber auch im Vergleich zwischen Groß- und Kleinstadt.
Das Ganze hat innerhalb weniger Wochen dazu geführt, dass auf Kundenseite Marketing und Produktentwicklung eine klare und robuste Handlungsbasis für die nächsten Schritte hatten – vielversprechende Konzepte samt Optimierungshinweisen, auch wie man die Gen Z Zielgruppe in der Tonalität und Argumentation am besten erreicht, wie man ihr Interesse weckt und wie man Glaubwürdigkeit erzeugt.
Fazit und Ausblick
Insight Communities könnten in absehbarer Zeit weiterhin an Relevanz und Akzeptanz wachsen. Sie überzeugen durch Flexibilität und werden technologisch in Zukunft noch weitere Features bieten, noch mehr „können“.
Entscheidend dabei bleibt, so unsere Überzeugung, der People Faktor im Forschungsdesign, in der Moderation und der Analyse. In der Feldarbeitsphase bedeutet das die verschiedensten Teilnehmenden zu involvieren, aufs Neue zu motivieren, sie zu möglichst aktivem und ausgiebigem Mitmachen animieren.
Das erfordert einiges an Skills – die Online-Moderation ist anders als offline. Forscherische Kreativität ist mehr denn je gefragt. Aufgaben finden, die zum Beispiel, die Teilnehmenden geistig kitzeln, anregen, ihre Vorstellungskraft aktivieren.
Zudem müssen Projektleitende fast rund um die Uhr über mehrere Tage wachsam sein, um gezielt nachzufragen – auch den Teilnehmenden das Gefühl geben, sie seien aufgehoben, und nicht „lost in the World Wide Web“.
Damit wird die Plattform für alle Altersgruppen – egal welche technische Affinität sie haben – zum vertrauten online Partner. Feedback und Interaktion gehen im besten Falle weit über ein „Danke“ hinaus – fordern und fördern, auf eine menschliche, authentische Art.
Wenn man das alles mit Erfolg hinbekommt, hat man mit Online Insight Communities ein Tool, welches nicht nur in die Mitte des Toolkits für Marktforschende gerückt ist, sondern sich dort auch zu einer festen Größe etabliert. Was wohl gut so ist.
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