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Online-Delphi: Der Blick in die Zukunft am Beispiel der Studie "Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien"
Autoren: Robert A. Wieland (Geschäftsführer TNS Infratest GmbH), Dr. Malthe Wolf (Senior Consultant InCom / Technology Sector), Stefanie Sagl (Consultant InCom / Technology Sector) – TNS Infratest
Globalisierung und technischer Fortschritt führen dazu, dass sich Entwicklungszyklen zunehmend schneller vollziehen. Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind sie so immer schwerer einzuschätzen. Hier setzt die Forschungsmethode des Delphi an, um Trends von morgen abzuschätzen und wertvolle Grundlagen für den inhaltlichen Diskurs bereit zu stellen.
Insbesondere die Geschwindigkeit, mit der neue Informations- und Kommunikationstechnologien heute unsere Welt verändern, macht eine Abschätzung von Entwicklungen mit einem Zeithorizont von zehn oder gar 20 Jahren immer komplexer. Die Delphi-Methodik ist dabei ein Instrument der Zukunftsforschung, die es ermöglicht, auf Basis einer Expertenbefragung, Einblicke in zukünftige Innovationen und Trends zu erhalten. Beispielhaft liefert eine Delphi-Studie – durchgeführt von TNS Infratest im Auftrag von Münchner Kreis, EICT, Deutsche Telekom, TNS Infratest sowie Siemens, Vodafone, Focus, VDE, SAP, Alcatel-Lucent Stiftung und IBM – aktuelle Erkenntnisse über die "Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien".
Die nach dem antiken Orakel benannte Delphi-Methode wurde Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA entwickelt. Bei Delphi-Befragungen werden Experten um ihre Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen gebeten. Die Befragung verläuft in der Regel über einen mindestens zwei- häufig auch mehrstufigen Prozess. Ab der zweiten Runde (sogenannte "Welle") werden den Experten die Ergebnisse der jeweils vorangegangenen Runde als Feedback mitgeteilt und gebeten, auf Grundlage dieser Ergebnisse erneut ihre Einschätzungen abzugeben. Eine wichtige Annahme der Delphi-Methode ist daher, dass die Experten in der Lage sind, ihre Einschätzungen neuerlich auf den Prüfstand zu stellen, d.h. mögliche eigene unsichere Schätzungen aufgrund des Feedbacks anzupassen, jedoch sichere Schätzungen unverändert beizubehalten.
Im Falle der Studie zur "Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien" wurden in zwei aufeinanderfolgenden Wellen im April/Mai sowie Juni/Juli 2009 bis zu 550 Experten befragt.
Im Vorfeld wurden die Experten gebeten, sich auf einer eigens eingerichteten Website für die Befragung zu registrieren und die eigene thematische Expertise zu hinterlegen. Anschließend erhielt jeder Experte einen personalisierten Zugangslink zum Online-Fragebogen, mit dem er die Befragung jederzeit unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen konnte. Von 795 angeschriebenen Experten nahmen an der ersten Welle 551 Experten teil, an der zweiten noch 439. Mit 69 Prozent in der ersten und 80 Prozent in der zweiten Welle wurde eine ausgesprochen gute Rücklaufquote erzielt.
144 Thesen und Szenarien zur Zukunft der IKT und Medien
Der Studie vorausgehend wurde mittels Desk-Research die Situation der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und Medien 2008 abgebildet und für die nahe Zukunft – bis 2012 – hochgerechnet. Anhand dieser Ergebnisse wurden für die Delphi-Studie Thesen formuliert, die die Entwicklung und Implikationen heute bereits vorhandener Technologien in die Zukunft projizieren. Zusätzlich wurden von den Projektpartnern und von ihnen benannten IKT- und Medienexperten weitere Thesen zu zukünftigen Trends und Innovationen eingereicht. Insgesamt ist so ein Pool von über 300 Zukunftsthesen entstanden. In Workshops mit den projektbegleitenden Expertenteams wurden aus diesem Pool 144 Thesen und Szenarien ausgewählt bzw. formuliert und zu einem Thesenkatalog zusammengestellt. Jeder Experte erhielt seiner fachlichen Expertise entsprechend maximal 75 Thesen pro Welle. In der zweiten Welle wurden, um den Befragungsaufwand in Grenzen zu halten, den Experten nur noch die Thesen erneut vorgelegt, über die in der ersten Runde kein eindeutiger Konsens erzielt werden konnte.
Befragung von 551 internationale Experten
Das Expertenpanel setzte sich aus Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammen, die aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrung persönlich aus den Netzwerken der Projektpartner Münchner Kreis, EICT, Deutsche Telekom, TNS Infratest sowie Siemens, Vodafone, Focus, VDE, SAP, Alcatel-Lucent Stiftung sowie IBM und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) rekrutiert wurden. Zusätzlich wurden Mitglieder der Gruppe DNAdigital um ihre Meinungen und Einschätzungen gebeten. Diese Gruppe setzt sich vorwiegend aus deutschen IT-Entscheidern und Digital Natives zusammen.
In der bereits erwähnten Vorab-Registrierung wurden die Experten gebeten, in einer Selbsteinschätzung anzugeben, in welchen Themenfeldern rund um IKT und Medien sie selbst ihre persönliche Expertise als besonders hoch einschätzen. Ein Teil der Thesen wurde daraufhin allen Experten vorgelegt – insgesamt 36 thematisch übergeordnete Kernthesen –, bei der Mehrzahl der Thesen wurden jedoch nur die Befragten um ihre Einschätzung gebeten, die für dieses Themenfeld eine Expertise angegeben hatten. Zusätzlich wurde vorab der Lebensmittelpunkt der Experten erfasst. Ausgehend davon wurden die Experten bei Thesen, bei denen der länderspezifische Hintergrund für die Untersuchung von Bedeutung war, jeweils zu dem dort angegebenen Land befragt, z.B. zur zukünftigen Verbreitung von IP-basiertem Fernsehen in Italien (Deutschland usw.), wenn Italien (Deutschland usw.) als Lebensmittelpunkt angegeben wurde. Darauf basierend wurden die Experten für die Ergebnisaufbereitung nachträglich in fünf Gruppen zusammengefasst (Experten für Deutschland, für Europa, für die USA, weitere internationale Experten sowie DNAdigital).
Umsetzung von Delphi-Studien als Online-Befragung birgt zahlreiche Potenziale
Die Durchführung von Delphi-Studien als Online-Befragung ermöglicht die Einbeziehung einer höheren Anzahl von Experten auch und gerade zu verschiedenen Themengebieten. Nur durch den Einsatz von Online-Befragungen ist – wie im aufgeführten Beispiel – die Teilnahme einer so hohen Zahl auch internationaler Experten innerhalb eines kurzen Zeitraumes möglich. Neben vielen weiteren Vorteilen wird vor allem für den Befragten durch eine automatische Filterführung und die PC-gestützte Fragegestaltung – gerade bei längeren Fragebögen – die Bearbeitung des Fragebogens einfacher und übersichtlicher.
Grundlagenstudie, die als Diskussionsbasis den Blick in die Zukunft der digitalisierten Welt von morgen öffnet
Die Ergebnisse wurden im November 2009 in einer 300-seitigen Publikation veröffentlicht. Die Publikation setzt sich aus 37 Beiträgen zusammen, die die Ergebnisse der Befragung strukturieren und wissenschaftlich aufbereiten. Die große Fülle an Themen reicht dabei von Artikeln wie „IKT in der Schule“ über „Infrastrukturpolitik“ oder „Cloud Computing“ bis hin zu „Mediennutzung im Wandel“.
Am Beispiel der zukünftigen Entwicklung der Medien und deren Nutzung im Kontext einer zunehmenden Digitalisierung der Übertragungskanäle und Gattungen soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie Ergebnisse einer Delphi-Studie einen Diskussionsrahmen für zukünftige Entwicklungen schaffen.
Klassische Medien werden von neuen Formaten ergänzt
„Im Jahr 2024 ist das Internet das Unterhaltungsmedium Nummer 1 in Deutschland, in Europa sowie in vielen weiteren Ländern der Welt“ – dies ist eine Zukunftsvision, die sich aus den Ergebnissen der Zukunftsstudie ableitet. Dabei herrschen in Deutschland und Europa nach wie vor die herkömmlichen, „klassischen“ Medienformate des Medienkonsums vor, wie sie etwa IPTV ermöglicht: „Media snacks“, also Kurzformate in Form von dreiminütigen Clips, wie sie heute schon auf YouTube zu sehen sind, oder Unterhaltungsangebote auf Basis von User Generated Content werden nur in bestimmten Kontexten genutzt und werden die Mediennutzung keinesfalls dominieren. Auch wird in Deutschland das Funktionieren öffentlicher demokratischer Meinungsbildung weiterhin der staatlichen (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkversorgung als zentraler Instanz obliegen. Eine Gefahr durch frei verfügbare, qualitativ hochwertige Informationen besteht nicht, so die Einschätzung der Delphi-Experten.

Rezeption klassischer Printmedien über multimediale Endgeräte wird Normalität – verdrängt aber Druckerzeugnisse nicht
Veränderungen in der Mediennutzung werden von den befragten Experten erwartet: Ab dem Jahr 2020 wird es für 75 Prozent der Mediennutzer in Deutschland normal sein, ein und denselben Medieninhalt über verschiedenste Träger zu nutzen. So werden zum Beispiel Zeitungsartikel auf dem mobilen Endgerät, Fernsehsendungen auf dem PC oder Internetinhalte auf dem Fernseher genutzt bzw. rezipiert. In Europa wird dieser Trend der Medienkonvergenz teilweise schon fünf Jahre früher als in Deutschland Realität.
Bei den klassischen Printmedien wie Zeitung und Zeitschriften bleibt zunächst vieles beim Alten. Sie werden ergänzt und in ihrer Nutzung konvergent erweitert. So wird es auch in den kommenden Jahrzehnten Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland ganz klassisch auf Papier geben und nicht nur als digitale Versionen im Internet. Wenn überhaupt, dann nutzen frühestens ab dem Jahr 2020 75 Prozent der Bevölkerung in Deutschland und Europa parallel zur herkömmlichen Papierversion inhaltlich individuell zusammengestellte E-Tageszeitungen.

2024: Mehr als die Hälfte der Deutschen nutzt täglich On-Demand-Dienste
Und auch die Nutzung der elektronischen Medien, so sind sich die Experten sicher, wird sich in den kommenden Jahren sukzessive verändern: Im Jahr 2024 nutzt über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland bei der täglichen Mediennutzung Abrufmedien und On-Demand-Dienste statt herkömmliches lineares Fernsehen. In den USA und in Europa setzt eine zunehmende Abkehr der Fernsehzuschauer von festen Programmformaten und Programmschemata bereits ab dem Jahr 2019 ein.
Und auch in puncto Übertragungskanäle werden die kommenden Jahre einige Veränderungen bei der Technologie mit sich bringen: So wird ab dem Jahr 2020 in Deutschland, in einigen weiteren europäischen Ländern teilweise bereits ab dem Jahr 2015, Fernsehen zum überwiegenden Teil über IP-basierte Breitbandnetze übertragen. Im Hinblick auf die Qualität des Fernsehbildes an sich zeichnen sich unterschiedliche Entwicklungen ab: Ist in Europa und im internationalen Raum hochauflösendes Fernsehen (HDTV) teilweise bereits heute schon die Standardqualität der Fernsehübertragung, wird dies erst ab dem Jahr 2015 in Deutschland realisiert sein. Als echte „Zukunftsmusik“ schätzen die Experten die nächste Evolution der audiovisuellen Unterhaltung ein, die sich derzeit bereits in den Kinos immer häufiger zeigt: 3D-Fernsehen ist in Deutschland und Europa frühestens ab dem Jahr 2030 flächendeckend verfügbar – allerdings stellt sich auch hier der Befund ein: Im internationalen Raum stellt sich diese Entwicklung fünf Jahre früher, ab 2025, ein.

Delphi – die Sicht auf morgen ist Grundlage für Entscheidungen von heute
Wie die Ergebnisse zeigen, ist es mithilfe der Delphi-Methode möglich, den Blick für zukünftige Entwicklungen zu öffnen. Die Szenarien repräsentieren dabei den aktuellen Stand kumulierten Expertenwissens aus Sicht und auf Basis des heute verfügbaren Erkenntnisstandes und des technischen Fortschritts – es ist dabei nicht das Ziel, die Zukunft punktgenau zu treffen. Der Wert von Delphi-Studien liegt vor allem darin, mögliche Entwicklungen aufzuzeigen und Diskussionen anzuregen. Je nachdem welche Bedeutung einzelnen Szenarien und den durch das Delphi gewonnenen Erkenntnissen beigemessen wird, eröffnen diese Ergebnisse frühzeitig den Blick für aktuell nötige Entscheidungen, um eine entsprechende Zukunftsvision gestalterisch zu beeinflussen.
Die Zukunft bleibt ungewiss. Gewiss bleibt, dass echte Innovationen weiter häufig „aus dem Nichts“ entstehen. Es bleibt also spannend!
Die Internationale Delphi-Studie 2030 wurde im November 2009 veröffentlicht und auf dem Vierten Nationalen IT-Gipfel in Stuttgart an das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie übergeben. Diese und weitere Ergebnisse finden Sie unter: www.tns-infratest.com/zukunftsstudie sowie www.muenchner-kreis.de.
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