Oliver Tabino: "Als Forscher muss man einerseits gegen die "Alles-ist-umsonst"-Mentalität ankämpfen und andererseits gegen Heilserwartungen, dass Social Media alles kann und für alles gut ist."

Oliver Tabino, Q | Agentur für Forschung

Oliver Tabino, Q | Agentur für Forschung

Oliver Tabino ist Gründer und Geschäftsführer der 2008 gegründeten Q | Agentur für Forschung. Im Interview mit marktforschung.de äußert er sich zu möglichen Paradigmenwechseln in der Marktforschung und damit einhergehend dem Umgang mit Social Media Research. 

marktforschung.de: Betrachtet man den BVM-Kongress und die Podiumsdiskussion über die Zukunft der Marktforschung oder den Titel "Odysee 2010" des Esomar-Kongresses könnte man glauben, dass die Mafo-Welt vor fundamentalen Umbrüchen steht und die Branche bald ums Überleben kämpfen muss. Sie haben Q kurz vor der Wirtschaftskrise gegründet und nun wartet vielleicht die nächste Krise. Haben Sie nicht Angst vor der Zukunft?

Oliver Tabino: Wow, ein knackiger Einstieg für ein Interview. Aber Sie haben natürlich Recht. Nach einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, von der die Marktforschungsbranche nicht verschont geblieben ist, scheint unsere Branche in eine Art Sinnkrise zu schlittern. Social Media boomt und ein riesiger Hype ist entstanden. Außerdem scheinen "do it yourself"-Marktforschungsansätze und –tools sich aufgrund des Preisdruckes immer größerer Beliebtheit zu erfreuen. Da wird es sicherlich dem einen oder anderen Kollegen Angst und Bange. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ich sehe diese Entwicklungen eher als Anreiz und Herausforderung.

marktforschung.de: Was genau ist für Sie Anreiz und Herausforderung?

Oliver Tabino: Ich denke, es ist eine allgemeine Haltung oder Einstellung, ob man neue Entwicklungen als Chance oder Gefahr begreift. Ich sehe Social Media als große Herausforderung, denn der ganze Bereich ist extrem dynamisch. Hier tut sich doch ein ganz neuer öffentlicher Raum auf. Das muss einen doch interessieren. Für Kunden, die Social Media Marketing machen und dafür Forschung, Monitorings oder andere Grundlagenstudien brauchen, ist es aber ebenfalls eine große Herausforderung. Es gibt kaum Qualitätskriterien, die Vergleichbarkeit der Angebote ist schwierig, die technischen Grundvoraussetzungen kaum nachvollziehbar und täglich kommen "freeware"-Angebote hinzu. Als Forscher muss man einerseits gegen die "Alles-ist-umsonst"-Mentalität ankämpfen und andererseits gegen Heilserwartungen, dass Social Media alles kann und für alles gut ist. Social Media Research kann noch viel von der "traditionellen" Marktforschung lernen, andererseits ist sie – gekonnt eingesetzt – ein attraktives Tool und ein sehr spannendes Arbeitsgebiet für uns Researcher.

marktforschung.de: Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Fronten immer stärker herausbilden - auf der einen Seite "traditionelle" Marktforscher und auf der anderen Seite die "jungen, wilden Social Media Enthusiasten". Sind diese zwei Fronten mittlerweile verhärtet? Ist Social Media Forschung die Zukunft und die "traditionelle" Marktforschung die Vergangenheit? 

Oliver Tabino: Ehrlich gesagt, finde ich diese Diskussion völlig daneben. Mich erinnert das ganze Thema an die Diskussionen, als Online-Panels populär wurden. Oder an die müßigen Diskussionen darüber, ob nun quantitativ oder qualitativ der bessere Forschungsansatz sei. Social Media Research als Gegenpol oder Feind der "traditionellen" Marktforschung zu sehen, ist völlig falsch. Durch die sozialen Medien sind neue Kommunikationsformen entstanden und offensichtlich auch neue Verhaltensmuster. Diese gilt es in den Forschungsprozess mit einzubeziehen.

Letztendlich geht es uns Researchern doch darum, die Fragen unserer Kunden zu beantworten und ihnen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Wenn ich zu einem Arzt gehe  wegen Halzschmerzen, möchte ich "nur" Halsschmerztabletten und keine psychologische Beratung mit anschließendem Komplett-Check. Die Wahl der Mittel hängt von vielen Faktoren wie Budget, Erwartungshaltung, Verwertung, etc. ab und als guter Forscher und Berater versuche ich doch das bestmögliche Paket zusammen zu schnüren und nicht pauschal zu sagen, das geht nur online oder nur quantitativ oder nur mit Social Media Research.

Intelligente, kreative Marktforschungslösungen haben in der Zukunft genauso eine Berechtigung wie in der Vergangenheit. Die Frage ist doch eher, wie integriere ich unterschiedliche Methoden und vor allem: Wie kann man Lösungen entwickeln und diese für die Auftraggeber aus der Wirtschaft oder der Sozial- und Politikforschung anpassen? Daneben aber gibt es tatsächlich eine Art Kampf unterschiedlicher Glaubenssätze von "Old School" Forschern und "jungen Wilden" – und das meine ich nicht altersbezogen. Leider nur reden sie oft völlig aneinander vorbei, wie z.B. bei der Schlussdiskussion des BVM-Kongresses deutlich zu sehen war. Das macht diese Auseinandersetzung wenig produktiv.

marktforschung.de: Was genau bedeutet für Sie die Integration der unterschiedlichen Methoden und Glaubenssätze?

Oliver Tabino: Im Moment ordnet sich die Branche, wie z.B. auch die Kolumne von Herrn Scheffler zeigt. Immer mehr Institute, auch solche die in den vergangenen Jahren den Social Media Hype eher skeptisch betrachtet haben, wenden sich diesem Thema nun zu. Wer dachte, dass Webmonitoring - also das schlichte Sammeln von Daten im Internet über einen gewissen Zeitraum - ein rein technisches Thema sei, das man getrost den Programmierern überlassen könne, lag falsch. Viele Unternehmen haben mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass Social Media Research extrem anspruchsvoll ist und man nicht jedem Anbieter vertrauen kann, der vollmundig irgendwelche Wunderdinge verspricht. Stück für Stück wird sich der Markt einpendeln. Letztendlich werden Themen wie Qualität, Forschungsdesign, Implementierung in die Geschäfts- oder Marketingprozesse immer wichtiger werden. Da wird sich die Spreu vom Weizen trennen.

Social Media wird ein Teil des Marktforschungsangebotes werden. Aber es wird auch gemischte Projekte aus Social Media Forschung und qualitativen oder quantitativen Interviews etc. geben. So kombiniert man die Stärken der jeweiligen Methoden ohne ihre Schwächen zu ignorieren und nähert sich den Forschungsfragen ganzheitlich.  Dazu brauche ich solides Methodenwissen, aber auch den Pragmatismus und die Flexibilität der "jungen Wilden". Wir haben ganz aktuell für einen unserer Kunden aus der Filmbranche den Start eines Kinofilmes forscherisch begleitet. Während Trailer und Marketingmaßnahmen im Vorfeld klassisch-qualitativ untersucht und optimiert werden, liefert die Evaluation der Social Media Kampagne im Web weiterführende Ergebnisse.  Wenn wir z.B. das "Re-Tweeten"  eines Film-Trailers auf Twitter analysieren und auch zielgruppenspezifisch untersuchen, dann gibt das Hinweise auf die Viralität einer Kampagne im Vorfeld eines Kinostartes. Oder wir analysieren kurzfristig Diskussionen in Foren, um den Marketing und PR-Abteilungen zu helfen,  sich schnell auf aufkommende Themen einzustellen und zu reagieren.#break#

So z.B. bekomme ich einen integrierten Ansatz, der ein Projekt komplett forscherisch begleitet. Die Marktforschung wird sich sicherlich wandeln, aber das heisst nicht, dass alles bisher Bekannte über Bord geworfen werden sollte. Aber jeden Hype muss man ebenso wenig mitmachen oder sollte ihn zumindest kritisch überprüfen.

marktforschung.de: Sie sprechen die Unternehmen an. Wer sind denn eigentlich die "Abnehmer" von Social Media Forschung und was wird damit getan?

Oliver Tabino: Sie sprechen ein strukturelles Grundproblem an. Im Moment ist oft nicht klar, in welchem Bereich eines Unternehmens Social Media angesiedelt ist. Manchmal ist es die Kommunikationsabteilung, die PR-Abteilung oder Social Media ist das Aufgabengebiet des Marketings. Deshalb sind die Aufgaben und Erwartungen an Social Media Research so unterschiedlich. Das macht es für das Institut oder eine Agentur nicht einfacher.

Deshalb ist es so wichtig, die Erwartungen im Vorfeld abzuklären. Präzise Fragen bringen auch präzise Antworten, das gilt in allen Bereichen der Marktforschung. Wenn ein Kunde beispielsweise fragt: Ich muss alles wissen, was es zum Thema Energie im Social Web gibt? Dann hat man entweder ein Problem oder einen großen Auftrag. Es gibt Themen, die sind sehr umfangreich und erfordern mehr Aufwand. Andere wiederum sind speziell, klar abgegrenzt und dadurch schnell und kostengünstig zu analysieren. Wenn ein Unternehmen oder eine Institution z.B. wissen will, was über ihr Produkt bzw. ihre Marke geredet wird, wo darüber geredet wird und wie darüber geredet wird, dann ist das relativ klar abgegrenzt.

marktforschung.de: Wie Sie bereits gesagt haben, ist Ihnen nicht bange um die Zukunft der Marktforschung. Aber welche Fähigkeiten brauchen denn aus Ihrer Sicht die Marktforscher in der Zukunft, um z.B. einen solchen integrativen Ansatz zu bewältigen?

Oliver Tabino: Wir werden sicherlich Spezialisten haben, die man als Social Media oder Web Analysten bezeichnen könnte. Ob das nun ein eigenes Berufsbild wird, vermag ich nicht einzuschätzen. Im Endeffekt gelten auch hier ähnliche Grundsätze wie in der traditionellen Marktforschung. Wenn mich Menschen nicht interessieren, dann habe ich wahrscheinlich Probleme, ein guter qualitativer Interviewer zu sein. Wenn ich Autos hasse, dann werde ich auf Dauer Probleme als Automobilmarktforscher haben. Wenn ich soziale Netzwerke und Twitter für Zeitverschwendung und alle Blogger für Möchtegern-Journalisten halte, werde ich Probleme haben, mich in diese Welt und in die Motive der Menschen hineinzufinden.

Außerdem geht es nicht um das Sammeln von Daten, sondern darum, aus Daten Sinn zu machen, sie zu interpretieren und aufzubereiten, damit eine Agentur, ein Produktmanager, ein Marketingverantwortlicher, ein Innovationsmanager, etc. damit arbeiten kann. Das kommt Ihnen bekannt vor? Stimmt – Eigenschaften wie Neugierde, Empathie, Kreativität und Mut gepaart mit analytischen Fähigkeiten und Sorgfalt brauchen Forscher heute und morgen und immer.

marktforschung.de: Es wird also weiterhin spannend bleiben. Herr Tabino, herzlichen Dank für das Gespräch!

 

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