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Herbert Höckel, moweb research Oh Du schöne neue DIY-Welt …

Zunehmende Automatisierung und Technologisierung von Marktforschung haben unter anderem das Phänomen des DIY-Research ermöglicht. Knappe Kassen tun ihr Übriges dazu, dass Unternehmen Umfragen lieber selbst durchführen, als Dienstleister zu beauftragen. Viele meinen: Besser DIY als keine Mafo! Dem widerspricht Herbert Höckel von moweb entschieden und fordert: Marktforschung muss professionell bleiben!

Probe zum Musical "Schöne Neue Welt" nach dem Roman von Aldous Huxley im Oktober 2006 im GRIPS Theater Berlin. (Bild: picture-alliance/ ZB | Claudia Esch-Kenkel)

Als Schüler habe ich Aldous Huxleys dystopischen Klassiker “Brave New World” geradezu verschlungen. Eine Welt, in der Glaube, Freiheit, Denken und Veränderung schlichtweg verboten sind, hat mich fasziniert und verängstigt zugleich. Und ja, es ist vielleicht etwas weit hergeholt, DIY-MaFo mit Fordismus zu vergleichen, es kommt mir aber leider so vor. Die zunehmende Standardisierung und Technologisierung unserer Branche (mit DIY-Tools, KI-Apps, Sampling-Plattformen, etc.) geht in genau diese singuläre, ja düstere Richtung.

Wir drohen dem Trugschluss zu verfallen, mit ein paar Klicks wäre eine Studie angelegt, eine Stichprobe erhoben, ein Thema erforscht und die entsprechende Analyse ver-powerpointed.

Die Kernkompetenz des Marktforschers aber - also das analytische, wissenschaftliche und vor allem freie Denken und Handeln - sitzt derzeit im Keller und weint …

Aber jetzt nochmal von ganz vorne und mit etwas mehr Besonnenheit bitte, Herr Höckel!  

Ich vermute die meisten Lesenden dieses Artikels sind "vom Fach" und können sich mit Sicherheit ohne große Diskussionen auf die folgenden Planungs-, Realisierungs- und Nutzungs-Phasen eines stereotypischen Marktforschungsprojektes einigen:

  1. Definition des Untersuchungsgegenstandes 
  2. Entwicklung des Forschungsdesigns
  3. Bestimmung der Informationsquellen
  4. Bestimmung der Methode zur Datenerhebung
  5. Bestimmung der Stichprobe
  6. Ausarbeitung des Erhebungsinstrumentes
  7. Durchführung der Datenerhebung
  8. Daten-Bereinigung und Aufbereitung
  9. Analyse sowie Interpretation der Daten
  10. Präsentation und Beratung anhand der Forschungsergebnisse 

Und was ist das Besondere an den einzelnen Prozess-Schritten? Jeder einzelne für sich genommen ist äußerst "sensibel", sprich ergebniskritisch für das Ganze. Die unsaubere, unklare oder fehlerhafte Ausführung auch nur einer einzigen Phase führt schnell dazu, dass das finale Ergebnis - nun ja - eher für die Tonne als für den Vorstand ist. Oder noch schlimmer: Das Resultat weist dem Auftraggeber statt der beabsichtigten Verbesserung seines strategischen Weges nun sogar die falsche Richtung. Auch dieser Umstand dürfte - unter Marktforschenden - unstrittig sein. 

DIY-Marktforschung ist besser als gar keine Marktforschung, oder? 

Nun aber zu Marktforschung und der trendigen Kategorie "Do-It-Yourself" (DIY). Populäre technische Player wie z.B. SurveyMonkey werben hier schon seit längerem mit der Aussicht auf schnelle, günstige und trotzdem gute Research-Leistungen. Dass das bei etlichen Unternehmen auf Resonanz stößt, erscheint zumindest auf den ersten Blick verständlich. Schließlich wird die Welt, in der wir leben, gefühlt jeden Tag unübersichtlicher, chaotischer, komplizierter - und weckt daher den verständlichen Wunsch nach mehr Durchblick und Transparenz, auch bei schmalem Geldbeutel. Dafür sorgen inzwischen mehr und mehr DIY-Marktforschungs-Varianten, also sofort verfügbare Tools oder Apps, mit denen Unternehmen Fragen zu Zielgruppen, Produkten oder anderen unternehmerischen Aspekten SELBST erheben können. So zumindest das Leistungsversprechen.  

Kritik an diesem Versprechen wird in der Regel mit der Aussage begegnet, DIY sei nicht nur besser als sein Ruf, sondern auf jeden Fall auch besser als gar keine Marktforschung.

Ein Argument, das bei knappen Kassen oder wenig Zeit durchaus verfangen kann, dem ich aber hiermit in aller Deutlichkeit widersprechen möchte! 

Können Erhebungen ohne die notwendige professionelle Distanz zum Untersuchungsgegenstand und - schlimmer noch - gegebenenfalls verantwortet von Marktforschungs-Laien tatsächlich ein Mindestmaß an Qualität, Belastbarkeit und Zuverlässigkeit gewährleisten?  

Wenn Unternehmen "einfach mal schnell" simple, unterkomplexe Fragestellungen beantworten lassen wollen, dann haben sie mit den heutigen DIY-Instrumenten tatsächlich einen gewissen Mehrwert. Die Verfügbarkeit, die angebotenen Funktionalitäten, Standardinstrumente und vor allem die preisliche Niederschwelligkeit sorgen im besten Sinne für eine Demokratisierung von Marktforschung im Vergleich zum traditionellen Business früherer Tage. Das ist ausdrücklich zu begrüßen, erinnert uns Fachleute aber ganz nebenbei daran, uns von diesem Segment sachlich aber bestimmt abzugrenzen. Positiv ausgedrückt könnte ich auch sagen: Konkurrenz belebt das Geschäft und viele Kunden haben entschieden: Zum Wettbewerb gehört jetzt auch DIY. Punkt. 

Marktforschung ist ABER mehr als nur das Erhebungsinstrument

Von einer vollumfänglichen Kompetenz und Befähigung können wir im Fall DIY-MaFo schlichtweg nicht sprechen, da bei normalen, also per se komplexen Marktforschungsprojekten die analytische, prozessuale und methodische Kompetenz, der Erfahrungshintergrund und nicht zuletzt die Neutralität von externen Experten durch keine DIY-App ersetzt werden kann.

Marktforschung ist nun mal mehr als nur die Methode oder das Instrument, das dafür benutzt wird. 

Noch einmal zu den Phasen eines typischen Marktforschungsprojektes - genauer zur Planungsphase: Absolut entscheidend für den späteren Output ist hier die präzise Bestimmung des zu erforschenden Untersuchungsgegenstandes, des Problems sowie des Ziels des ganzen Projektes. Aspekte, die an dieser Stelle versäumt, übersehen oder methodisch unsauber behandelt werden, können in den folgenden Schritten nicht mehr ausgeglichen werden. Jeder DIY-Nutzer muss also von Anbeginn wirklich wissen, warum, wen und was es zu analysieren gilt - auch in welcher Breite und Tiefe.  

Die Stichprobe mit nur einem Klick? 

Was ist mit der Aufgabe, die notwendige repräsentative Stichprobe korrekt zu definieren und auszuwählen? Selbst für gestandene Marktforscher oft keine triviale Aufgabe und bereits kleine Fehler im Sampling machen ein valides Ergebnis am Ende unmöglich.

Diverse DIY-Provider bieten ihren Kunden aber tatsächlich das "Self-Sampling" als standardmäßige Funktionalität an. Also mit nur einem Klick mal fix die 1000er Stichprobe! Aber wer denn überhaupt? Aus welcher Grundgesamtheit? Wie rekrutiert? Ich könnte dazu noch eine ganze Liste von weiteren Fragen stellen …

Mit fast 30 Jahren Berufserfahrung weiß ich jedoch, dass es sich schon um eine wirklich glasklar strukturierte und transparente Zielgruppe handeln muss, damit an dieser Stelle keine gravierenden Fehler passieren. Aber wann bitte schön ist eine Zielgruppe wirklich so simpel gestrickt? 

Zum Themenkomplex Fragebogen. Auch das eine Aufgabe für Profis! Denn erneut gilt folgendes: Das Fragebogendesign bestimmt über den Nutzen oder eben die Nichtsnutzigkeit des kompletten Prozesses. Zugegeben: DIY-Anbieter versuchen dieser Herausforderung inzwischen mit standardisierten Vorlagen und einer gewissen Qualitätssicherung zu begegnen. Aber kann das reichen? Ich fürchte nicht, und wer sich gerade nicht sicher ist, wovon ich spreche, sollte dringend nochmal das Arbeitsbuch von Rolf Porst zum Thema Fragebogendesign studieren. 

Fragebögen sind keine Lottoscheine!

Ein guter Fragebogen verfügt über den "richtigen" und zur Zielgruppe passenden Umfang und Aufbau. Die Fragen müssen für die Probanden verständlich und eindeutig sein, zudem braucht es ausgeklügelte Techniken für Plausibilitätsprüfungen und so weiter. Ohne ein wirklich tiefes Verständnis der Materie ist das nicht zu erfüllen. Ansonsten würden Fragebögen doch eher einem Lottoschein ähneln, d.h. einem Format, getragen von den Prinzipien Glück und Hoffnung.  

Aber gut, nehmen wir einfach an, bis hierher wurden alle Fallstricke und -gruben erfolgreich gemeistert. Nun steht der geneigte DIY-Nutzer vor den Resultaten der Erhebung. Aber - oh je - der Output ist alles andere als eindeutig.

Teile der Ergebnisse stehen scheinbar im Widerspruch zueinander und lassen keine eindeutige Richtungsentscheidung zu. Was dann? 

Bei den heute allseits beliebten Online-Umfragen stellt sich außerdem immer auch die Frage: Wie viele Bots haben sich eigentlich unter die Teilnehmer geschlichen? Oder wie viele Probanden wollten mit der Umfrage nur ein bisschen Geld verdienen, indem sie sich so schnell wie möglich, also ohne die Fragen überhaupt zu lesen, durch die Untersuchung geklickt haben? Dies nur zwei Punkte, die die Bewertung der Ergebnisse erheblich beeinflussen - mit denen man jedoch umgehen können sollte. Auch Datenbereinigung und Qualitätskontrollen sind alles andere als trivial.

Unklare Datensätze? Genau hier fängt der Spaß erst an! 

Und jetzt? War dann alle Mühe bis hierher umsonst? Lassen sich die Datensätze noch retten? Beziehungsweise anders lesen, interpretieren oder behandeln? Sind das Korrelationen oder doch Kausalitäten und wenn ja, welche? Und warum?

Klare Antwort: Für den Laien ist an dieser Stelle Schluss, der professionelle Marktforscher fängt hier erst an. 

Das selbst-forschende Unternehmen bzw. der dafür abgestellte Mitarbeiter hat nun alle Ergebnisse gesammelt und aufbereitet. Doch - so ein Mist - die Schlussfolgerungen widersprechen dem bisher etablierten Weg der eigenen Firma. "Darf" dieses Ergebnis denn überhaupt sein? Was sagen wohl die Lenker, Denker und Chefs dazu? Ist es vielleicht klüger, Zahlen und Daten noch ein bisschen in diese oder jene Richtung zu biegen, damit am Ende alle zufrieden sein können? 

Neutralität und Unabhängigkeit sind elementar! 

Eventuell wurde die komplette Erhebung sogar von Anfang an - bewusst oder unbewusst - so gesteuert, dass zum Schluss ein für alle wünschenswertes Ergebnis herauskommt. Ob die hier wirkenden psychologischen Konzepte nun kognitive Verzerrungen heißen oder Wahrnehmungsfehler oder die vielen berüchtigten "Biases" - wir Marktforschende kennen und fürchten sie alle und arbeiten deshalb hart daran, dass Untersuchungen so wenig wie möglich durch diese Phänomene torpediert werden! 

Dass der bisher eingeschlagene Weg eines Unternehmens "gerne" bestätigt werden soll, ist sicherlich kein neues Phänomen.

Gerade das macht es aber wichtig, Beratung von außen nicht nur zuzulassen, sondern dieser externen Stimme auch das nötige Gehör und ein kraftvolles Mandat zu schenken. 

Im Schnellkurs zum Marktforscher?!

In der Bewertung von Marktforschung im Allgemeinen lande ich doch immer wieder bei Kompetenz und Neutralität als entscheidende Erfolgsfaktoren. Beides fehlt bei der Nutzung von DIY. Selbst wenn sich Firmen die Einstellung von professionellen Researchern leisten, bleibt folglich das Problem der Loyalität oder gar der Betriebsblindheit. Bevor also intern zu einer echten Kehrtwende aufgerufen wird, verschwinden die Ergebnisse vermutlich eher in der Schublade. 

Noch einmal zu den Anbietern von "Do-It-Yourself-MaFo": Bei manchen lese ich tatsächlich den Begriff "Education", d.h. sie werben mit der "Schulung" ihrer Kunden zu ausreichend fähigen Marktforschenden. Ist es nicht eine gewisse Beleidigung unseres Berufsstandes, ein paar Webinare und Präsentationen mit der Ausbildung eines Vollblut-Marktforschers auch nur annährend zu vergleichen?

Marktforschung muss und wird professionell bleiben! 

Natürlich gehe ich nicht als beleidigte Leberwurst aus diesem Artikel. Daher ganz sachlich zum Abschuss: DIY hat seine Berechtigung im Kosmos der Marktforschung. Allerdings nur im limitierten Ausmaß bei klaren und überschaubaren Sachverhalten. Gerne auch als wiederkehrendes Projekt zur Verifizierung oder Absicherung früherer Ergebnisse. 

Geht es allerdings um "echte" Fragestellungen, die letztlich gewichtige Strategien eines Unternehmens berühren, führt meiner Meinung nach an der Beauftragung eines externen Instituts kein Weg vorbei.

An dieser Stelle zu sparen kann nicht gutgehen und wäre stattdessen die Investition in nutzloses oder gar gefährliches Halbwissen. 

Zentrale Qualitätskriterien wie Objektivität, Reliabilität, Validität und Repräsentativität haben nun einmal ihren Wert und sind weder schnell noch billig zu haben. Genau dies müssen wir weiterhin mit Selbstbewusstsein kommunizieren und natürlich durch unsere tägliche Arbeit auch beweisen! 

Fazit

Zugegeben, der Anfang dieses Textes war etwas überzeichnet und der Weg zu einer dystopischen "Neuen Welt" ist (hoffentlich) noch weit. Dennoch war es mir ein durchaus provokatives Anliegen zu betonen, dass eben nicht jede technische Innovation mit wirklichem Fortschritt zu verwechseln ist. Schon mit etwas (geistigem) Abstand erkennen wir in jeder Entwicklung gleichzeitig die guten und die weniger guten Facetten. DIY-MaFo ist hier nur ein Beispiel.

Uns Marktforschende möchte ich damit auffordern: Lasst uns auf die vorhandenen Stärken besinnen, unsere Kompetenzen zur Analyse und Methodik weiter verfeinern und auch wichtige Faktoren wie Erfahrung, Intuition und unabhängige, freie Beratung für unsere Kunden kultivieren.

Über den Autor

Herbert Höckel ist geschäftsführender Gesellschafter bei moweb. Seit mehr als 25 Jahren ist er Marktforscher. 2004 gründete er die moweb GmbH, welche er bis heute als Inhaber führt. Das Unternehmen aus Düsseldorf ist international tätig und eines der ersten deutschen, auf digitale Verfahren spezialisierte Marktforschungsinstitute.

 

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