Zweiter Teil: forsa-Chef Prof. Manfred Güllner im Interview Notwendigkeit der Anonymitätszusage, unreflektierte Nutzung von Ergebnissen und Manipulationen beim ZDF

marktforschung.de: Zum Thema "Anonymitätsgebot": Die Branche diskutiert derzeit intensiv über das Pro und Contra der Anonymitätszusage gegenüber den Interviewpartnern. Sie haben sich scharf gegen die Überlegungen des ADM gewandt, neben anonymen Befragungen auch Richtlinien für nicht-anonyme Befragungen aufzustellen, und sehen sogar "den Tod der Empirie" nahen. Warum sind Sie da so pessimistisch?
Prof. Manfred Güllner: Die Anonymitätszusage gegenüber den Befragten ist absolut notwendig, um das Vertrauen der Bürger in die empirische Sozialforschung zu erhalten. Bisher war das ja auch – mit einer einzigen Ausnahme vor einigen Jahren – ein von den Standesorganisationen voll mit getragenes Credo, obwohl es ja schon immer auch nichtanonyme Datengewinnung und –nutzung gab. Warum ausgerechnet der ADM jetzt eine Richtlinie für nicht-anonyme Befragungen aufstellen will, wird nur dann erklärbar, wenn man bedenkt, dass der ADM seit einigen Jahren von Vertretern der "global player" dominiert wird, denen weniger am Wohl der empirischen Forschung als vielmehr an den Interessen ihrer Konzerne gelegen ist. Bei den Überlegungen zur Richtlinie für nicht-anonyme Befragungen geht es also nicht um ein wirkliches Bedürfnis, sondern nur darum, schon in den Konzernen vorhandenen Unternehmen wie TNS-Live oder Ipsos Loyalty etc. für ihre Tätigkeit mit nicht-anonymisierten Daten eine vom ADM abgesegnete Legitimationsbasis zu verschaffen.
Dass im ADM seit den Zeiten des damaligen GfK-Vorstandsvorsitzenden Wübbenhorst in erster Linie die Interessen der "global player" und nicht die der Branche insgesamt im Vordergrund stehen, ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass die schon beschriebenen Gefährdungspotentiale der Umfrageforschung - insbesondere der telefonischen Befragung - vom ADM nicht wirklich bekämpft werden.
marktforschung.de: Bei einem Verzicht auf die Anonymität befürchten viele Institute eine Verdrängung durch andere Formen der Kunden- und Datenanalyse – Stichwort Feedback-Systeme, CRM und Big Data. Sehen Sie einen Weg, auf dem Institute doch am großen Kuchen des Big Data teilhaben können, ohne ihre Identität als Markt- und Sozialforscher zu verlieren?
Manfred Güllner: Institute können im Netz vorhandene und verfügbare Daten so wie auch andere Sekundärdaten selbstverständlich nutzen und für ihre Auftraggeber sinnvoll interpretieren ohne – wie bisher auch bei Nutzung vorhandener Datenquellen – auf ihre Seriosität als Markt- und Sozialforscher zu verzichten.
marktforschung.de: Ein anderes Thema: in der wissenschaftlichen Forschung ist die Formulierung von Hypothesen und deren Überprüfung durch Signifikanztests vielfach das Maß aller Dinge. Welche Rolle spielen Signifikanztests bei forsa? Und wie sieht es mit der Bewertung von Unterschieden und Zeitreihen aus? Ab wann sehen Sie eine Differenz als wirklich bedeutsam an? Und wann glauben Sie im Zeitverlauf einem Trend?
Manfred Güllner: Signifikanztests sind in der Tat sinnvoll, wenn es um die Überprüfung von Hypothesen geht. Doch um aus ermittelten Umfragedaten Erkenntnisse zu gewinnen, sind sie nicht immer zwingend notwendig und oft auch nicht ausreichend, sondern nur bedingt geeignet. Hans Zeisel hat in seinem Lehrbuch "Say it with Figures" auch für die heutige Forschergeneration noch anschaulich dargestellt, welche Erkenntnisse man aus intelligenter und den Daten adäquater Gruppierung von Zahlen gewinnen kann. Die Qualität eines Forschers zeigt sich nicht daran, wie oft er Signifikanztests durchführt, sondern daran, ob er aus der Beobachtung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse über den gegenwärtigen Zustand und für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft sinnvolle Einschätzungen ableiten kann.
marktforschung.de: Noch einmal zurück zum Thema "Politik": als langjähriger Meinungsforscher haben Sie viele Politikergenerationen und auch viele gesellschaftliche Strömungen erlebt. Wie stark lässt sich die Gesellschaft – und auch die politische Willensbildung – heute von Umfrageergebnissen lenken?
Manfred Güllner: Viele politische Akteure aber auch Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen in Deutschland können mit Umfragen nach wie vor nicht adäquat umgehen. Da seriöse Forscher keine Zahlen erfinden, sondern immer nur das referieren, was Menschen ihnen gesagt haben, ist die bei vielen Politikern noch immer zu hörende Aussage "von Umfragen halte ich nichts" ein Zeichen von Missachtung der Befindlichkeiten von Menschen. Ebenso falsch aber ist das panikartige Reagieren auf Pendelschläge der politischen Stimmung oder die Berufung auf Mehrheitsmeinungen bei der Begründung politischer Entscheidungen. Politikern wäre wie anderen anzuraten, souverän mit Umfrageergebnissen umzugehen – sie also als wichtige Informationsquelle ernst zu nehmen, aber gelassen und nicht hektisch zu reagieren, auch wenn die Werte mal nicht so gut sind, wie vielleicht erwartet.
marktforschung.de: Werden Umfrageergebnisse heute begieriger – und vielleicht auch unkritischer - von den Medien aufgenommen als dies vor 20 Jahren war?
Manfred Güllner: Was für Politiker in Deutschland gilt, gilt auch für eine Reihe deutscher Medienvertreter. Hier findet sich ebenfalls beides – oft auch in derselben Person -: Unkenntnis über die simpelsten Grundlagen der Umfrageforschung gepaart mit ebenso unbedarfter und unreflektierter Nutzung von Ergebnissen, die in das eigene Denkschema und eigene Voreingenommenheiten passen. Trotz aller Angebote an Journalistenweiterbildungen ist die Situation in vielen Medien in den letzten Jahren nicht besser, sondern tendenziell sogar schlechter geworden.
marktfoschung.de: Sie sind selbst SPD-Mitglied, haben aber die SPD und deren Kanzlerkandidaten widerholt heftig kritisiert. "Beck muss weg", fasste die Süddeutsche Zeitung 2010 ein Interview mit Ihnen im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 zusammen. Der "Steinbrück-Schreck" nannte Spiegel Online Sie im Vorfeld der Bundestagswahl 2013. Wie neutral kann ein Meinungsforscher überhaupt auf Dauer bleiben? Oder muss gerade ein Meinungsforscher auch klar Meinung bekennen?
Manfred Güllner: Ich habe SPD-Kanzlerkandidaten nicht heftig kritisiert, sondern immer nur darauf hingewiesen, wie sie von den Menschen und potentiellen SPD-Wählern wahrgenommen und beurteilt werden. Und da gab es nun einmal klare und auch wahlentscheidende Tendenzen bei Kandidaten wie Lafontaine 1990 oder Scharping 1994. Und "Beck muss weg" war die ja vollkommen richtige Schlussfolgerung aus den 2008 vorliegenden Daten, nachdem Beck die SPD-Werte immer weiter nach unten trieb. Sein Rücktritt war dann auch die notwendige Konsequenz, um die SPD vor einer noch größeren Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 zu bewahren. Mit Beck als Kanzlerkandidat hätte die SPD im Vergleich zur 1998er Wahl nicht nur 10, sondern wahrscheinlich 11 oder 12 Millionen Wähler verloren. Allerdings war Becks Rücktritt für ein besseres SPD-Ergebnis 2009 nicht hinreichend genug, da es ja auch andere, von den Wählern wahrgenommene Defizite bei der SPD gab.
Die SPIEGEL-Etikettierung als "Steinbrück-Schreck" erfolgte nur deshalb, weil wir – anders als mit der SPD verbandelte Institute – auf die ebenfalls negative Entwicklung der Kandidatenpräferenzen nach Steinbrücks Nominierung zum SPD-Kanzlerkandidaten hingewiesen hatten. Das alles aber waren keine persönlichen Meinungen des SPD-Mitglieds Güllner, sondern Erkenntnisse, die der Forscher Güllner aus vorliegenden Urteilen der Wähler gewonnen hatte.
Generell kann ein Forscher durchaus seine Meinung haben – nur die darf bei der Interpretation und Einschätzung vorliegender Daten keine Rolle spielen. Wohl aber ist der Forscher verpflichtet, die ermittelten Daten nicht nur als Zahlenfriedhof darzustellen, sondern sie auch zu interpretieren.
marktforschung.de: In einem aktuellen Fall hat das ZDF in seiner Sendung "Deutschlands Beste" Umfragewerte Ihres Instituts verfälscht. BVM-Vorstand Prof. Wildner sieht auf Basis des ESOMAR-Kodex das Institut in der Pflicht, eine solche falsche Darstellung von Ergebnissen zu verhindern bzw. beobachtete Verfälschungen publik zu machen. Muss der Forscher hier Eingreifen, oder hört seine Verantwortlichkeit oder auch einfach seine Handlungsmöglichkeit mit der Lieferung der Ergebnisse auf?
Manfred Güllner: Die Kritik des stellvertretenden BVM-Vorsitzenden und Geschäftsführer des GfK-Vereins Prof. Wildner am Verhalten von forsa ist sachlich wenig gerechtfertigt, denn forsa hat die Daten für das Personen-Ranking des ZDF bereits im April für eine Produktionsfirma erhoben – damals war der Verwendungszweck des Rankings forsa gar nicht bekannt. Von irgendwelchen Manipulationen hat forsa erst nach den ZDF-Sendungen durch die Diskussion darüber erfahren – also zu einem Zeitpunkt, als keine Intervention mehr möglich war. Da forsa nicht nachprüfen konnte, wie und wann im Interaktionsprozess zwischen Produktionsfirma, Redaktion, ZDF-Senderverantwortlichen etc. die Manipulationen vorgenommen wurden, musste forsa sinnvollerweise die Aufklärung dem ZDF überlassen. Das ist ja auch hinreichend erfolgt, so dass eine zusätzliche Reaktion von forsa nicht erforderlich war und ist.
marktforschung.de: Herr Güllner, Sie sind 1941 geboren, Ihr Unternehmen wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Die Forsa Marktforschung mit Sitz in Frankfurt wird von Ihrer Tochter Corinna geleitet, dem Berliner Bereich der Sozial-, Politik- und Meinungsforschung steht Dr. Peter Matuschek vor. Welches sind Ihre wichtigsten Ratschläge an die jüngere Forschungsgeneration?
Manfred Güllner: Die jüngere Forschergeneration sollte sensibel alle Veränderungsprozesse in der Gesellschaft verfolgen und daraufhin überprüfen, ob Anpassungen von Methoden und Vorgehensweisen erforderlich und sinnvoll sind. Sie sollte aber auch immer die Wurzeln der empirischen Sozialforschung nicht vergessen, nämlich das "Warum" zu ermitteln, so wie es Paul Lazarsfeld mit seinen Mitstreitern bereits in den 1920er Jahren in Wien getan hat.
marktforschung.de: Herr Prof. Güllner, herzlichen Dank für das ausführliche Interview!
Lesen Sie hier den ersten Teil "Präzise Prognosen, Defizite der Online-Forschung und die Frage nach dem "Warum".
Kommentare (2)
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