Neuromarktforschung "reloaded" in der Praxis der Marketingforschung

Von Michael Pusler
Dieser Beitrag fasst aus meiner Sicht zusammen, was die Neuroforschung der letzten Jahre für den Bereich der Marken- und Kommunikationsforschung nun substantiell erbracht hat. Er mag daher etwas subjektiv gefärbt sein, worüber ich um Nachsicht bitte. Mein persönlicher "Neuroforschungs-Arbeitsschwerpunkt" liegt hier im Anwendungsgebiet der Marken- und Werbewirkungsforschung. Das akademische Fundament dazu liefert mir die Werbepsychologie als Anwendungsfach der Sozialpsychologie. Ergänzend bilden die Radiologie/Neuromedizin und der verhaltenswissenschaftliche Zweig der Betriebswirtschaft (Marketing) die weiteren wesentlichen akademischen Säulen der so genannten "Neuroökonomie". Insbesondere in medizinischen Detailfragen sehe ich mich aber als Laie. Für die betriebliche Anwendung, den Forschungsalltag des Markt- und Medienforschers, sind letztlich aber die praktischen Ableitungen daraus in der Summe interessant und wichtig. Zusammengefasst sehen die m. E. sechs interessantesten Erkenntnisse dabei folgendermaßen aus:
1.) Das "Ökonomische Prinzip" starker Marken
"Kortikale Entlastung" war ein Schlüsselbegriff der vergangenen Jahre. Dabei werden sog. "starke Marken" anderen vorgezogen. Neben Sozialisationseffekten in Konsumangelegenheiten ("schon als Kind gab´s immer Jacobs Kaffee") spielen Wiederholungseffekte (man spricht von "mere exposure"-Effekten, d.h. bei best. Anlässen wird immer Jacobs Kaffee getrunken, weil man es über zahllose Wiederholungen so gelernt hat) und Stoffwechsel-Energieverbrauch im Gehirn (das Organ mit dem volumenanteilig mit Abstand größtem Energieverbrauch bei Arbeit) eine Rolle für zum einen die langfristige Verankerung von Gelerntem und zum anderen dessen späteres anstrengungsloses Abrufen. Hier haben die Münsteraner Neuroforscher (Kenning/Deppe – von denen auch das Jakobs-Beispiel stammt) viele grundlegende Erkenntnisse erbracht. Dieses Verständnis zielt insbesondere auf die Bestätigungsfunktion von Markenwerbung (gekauft wird, was man kennt), hilft aber nicht immer weiter bei Launch-Maßnahmen für Marken bzw. Produkte!
Nicht ein Mehr sondern ein Weniger an Aktivierung im Gehirn führt somit zum Markenerfolg. Interessant: dieses "Weniger" konnten wir in eigenen Studien bei Print und Online, nicht aber bei TV feststellen. Das Gehirn arbeitet dabei effizienter, es wird weniger "mentale Energie" verbraucht, die das Gehirn z. B. aufwenden muss, wenn komplexe visuelle Eindrücke gefiltert werden, weil zur situativen Bewertung erst das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt werden muss.
2.) "Freier Wille"?! - das Gehirn hat schon entschieden, bevor wir uns entscheiden
Es gibt Areale im Stammhirn (limbischen System) die Aktivität zeigen, bevor eine (Konsum-) Entscheidung bewusst wird. Diese Aktivitäten sind aber häufig handlungsleitend. Daraus folgt: Entscheidungen werden vorbewusst gefällt, wobei gelernte Erfahrungen (z. B. mit einer Marke/einem Medium) eine "bahnende" Rolle spielen (man spricht in der Kognitionspsychologie hier auch von priming). Umgekehrt ergeben sich daraus interessante Überlegungen, wie eine solche Bahnung erzeugt werden kann, wenn ein neues Produkt/eine neue Marke auf den Markt gebracht werden soll. Crossmedia spielt aus Sicht der Ansprache über Medien dabei eine zentrale Rolle, ausgehend von der Formel "crossmedial = crosssensual", d.h. über eine mehrkanalige Ansprache erreicht man eine nachhaltigeres emotionales Lernen. Der Interessent sei hier auch auf einschlägige Publikationen von Benjamin Libbet verwiesen.
3.) Brain branding beim Image Transfer
Medienmarken z. B. erzeugen einen Bedeutungsrahmen, der auf das Bild (Image) des Mediums auch im Hinblick auf seine Werbeträgerleistung abstrahlt. Eigene Studien mit der Uni Münster haben gezeigt, dass ein solches Markenbild das Glaubwürdigkeitsurteil (fiktiver) headlines maßgeblich beeinflusst. Folgeuntersuchungen konnten dann einen Effekt verdeutlichen, der auch eine Art "Kompetenztransfer" von der Trägermarke (dem Zeitschriftentitel) auf geschaltete Anzeigen aufzeigt: je glaubwürdiger z. B. der Titel, desto sympathischer wird die Anzeige beurteilt.
4.) Belohnung und Relevanz: gefiltert wird, was individuell bedeutsam ist
Basierend auf dem ökonomischen Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung und unter Bezugnahme auf anthropologische Erkenntnisse (einige Fertigkeiten waren bereits in Zeiten der Jäger und Sammler erforderlich und finden sich nach wie vor im Gehirn des homo sapiens wiedergespiegelt) werden Marken/Medien genutzt, wenn sie individuelle Belohnung erzeugen. Erklärbar ist dies über die Aktivierung im Nucleus accumbens mit Sitz im präfrontalen Cortex (limbisches System). D. h. aber auch z. B. für Werbung, Bedürfnisse sind im Organismus bereits (latent) vorhanden (oder eben nicht), können folglich nicht grundsätzlich erzeugt sondern lediglich - zur Befriedigung - bedient werden. D. h. auch, Werbung bräuchte keine ethischen Bedenken mehr zu fürchten, weil es den Konsumenten nicht im Sinne eines "hidden persuaders" zu Dingen verführt, die er eigentlich ablehnt (was auch mal der eine oder andere regelungsversessene Verbraucherschützer zur Kenntnis nehmen sollte). Zudem ist der zeitweise apostrophierte "buy button" nie gefunden und damit ad acta gelegt worden.
5.) "soziales Gehirn": Schlüsselreize steuern die Aufmerksamkeit
Eigene Studien zur Wirkung von Anzeigen in Zeitschriften konnten zeigen, dass überdurchschnittlich häufig Abbildunger von Menschen (Gesichter, in sozialer Interaktion, die den Betrachter "anschauen") unter den gut getesteten Motiven waren (über den Abverkaufserfolg kann man freilich keine verbindlichen Aussagen liefern). Jeder kennt hier bereits die wirksamen "Schlüsselreize" wie Kindchenschema, große Augen etc. Insofern ist das nicht neu, physiologisch nun aber auch gut erklärbar. Das macht wieder mal deutlich: das menschliche Gehirn ist auf den Austausch mit Mitmenschen - die soziale Interaktion ausgelegt. Für die Medien gilt beispielsweise: redaktionelle Konzepte, die Titelseitengestaltung etc. können hiervon profitieren. Es erklärt im Bereich der Printmedien auch den Erfolg des People-Journalismus und gibt Implikationen für die Adaptation dieser Themen in digitalen Medien (z. B. social media Aktivitäten).
6.) Paradigmenwechsel: rezeptionsorientierte- statt soziodemografischer Zielgruppenmodelle
Bereits seit einigen Jahren wird in der Marketingplanung immer deutlicher: Alter, Geschlecht oder Einkommen sind keine ausreichenden Prädiktoren mehr für eine erfolgreiche Kommunikation bzw. zielgruppenadäquate Platzierung von Werbemitteln in Werbeträgern. Verbraucher sind bedürfnisgesteuert und befinden sich in wechselndem Konsumkontext in unterschiedlicher Bereitschaft, Kommunikationsbotschaften für sich anzunehmen (Rezeptionsverfassungen). Das neue Zielgruppenverständnis offenbart den Typus eines Mediennutzers, der nicht nur passiver Konsument klassischer Medien ist, sondern zugleich aktiver Produzent (hier greift der Begriff des "Prosumer" nach Alvin Toffler: "the third wave" von 1980) und zunehmend mit rückkanalfähigen Medien (Web2.0) vertraut ist. Dieses Zielgruppeverständnis ist, was das Rezeptionsverhalten anbelangt, mittlerweile Programm für eine moderne, medienkonvergente und medienkanalübergreifende Kommunikationsforschung.
Sicherlich ist der Hype vergangener Jahre zu diesem Thema mittlerweile vorbei. Auch sind viele Ergebnisse der letzten Jahre nicht neu gewonnene Erkenntnisse, sondern liefern vielmehr den neurophysiologischen Beleg zu bereits bekannten psychologischen Modellen. Als Beispiel sei hier nur das Elaboration-likelihood-Modell von Petty & Cacioppo von 1979 genannt, das unter der Annahme unterschiedlicher Empfänglichkeit für Werbung eine jeweils andere "Verarbeitungsroute" für Kommunikationsinhalte postuliert.
Dennoch gibt es – sicherlich heute mit weit weniger Brimborium – immer wieder interessante Detailergebnisse für die betriebliche Praxis, von denen man in der Fachöffentlichkeit u. U. gar nicht so viel wahrnimmt. Auch 2011 wird es zum Thema sicher wieder einige Kongresse und Foren geben, die das Thema mit aktuellen Praxisstudien (case studies) sowie mit Neuem aus der Grundlagenforschung beleuchten.
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