Neues vom Marionettentheater

Dr. Daniel Salber
Von Dr. Daniel Salber
Auf meiner jüngsten Dienstreise nach Petrograd fielen mir einige Papiere in die Hand, die ich dem Leser nicht vorenthalten möchte. Es handelt sich um den Nachlass von Professor Pawlowski, dem intimen Kenner des russischen Marionettentheaters. Nicht dass diese Kunst irgendetwas mit moderner Marktforschung zu tun hätte. Pawlowskis Papiere entführen uns in ganz ferne Epochen sozialer Interaktion. Ich zitiere sie im Wortlaut:
"Primitive Epoche
Anfangs gab das Marionettentheater rohe Darstellungen des Lebens. Das ungebildete Publikum liebte Überraschungen, zuckte beim Donner zusammen, weinte oder lachte über Helden, die man "Brands" nannte. Man zahlte gerne für Darbietungen der Realdramatik, ob es um Kaugummi, Handytarife oder Putzmittel ging.
Phase der Transparenz
Jeder weiß, dass es keine Drachen gibt. Darum schafften fortschrittliche Bühnen alle Dämonen, den Donner und die tragischen Verwicklungen ab. Kasperle durfte den Brand-Räuber nicht mehr auf den Kopf hauen, alle Stücke hatten ein happy end. Indisches Catering und kleine Filmchen amüsierten mehr als die schrecklichen Tragi-Komödien des Alltags. Das junge Publikum wollte nichts mehr von Liebe, Tod und Leidenschaft hören – alles irrationale Größen -, sondern von Awareness, Persuasion und Emergenz. Siegeszug der Wissenschaft: für vieldeutige Texte verhängte die Zensur hohe Strafen.
Socializing
Mit der Zeit wurde es im Zuschauerraum zu gemütlich. So begann das mündige Publikum mehr und mehr ins Spiel einzugreifen ("co-kreativ"). Anfangs wurden störende Puppen als "Fehlrekrutierung" entfernt, dann begann man, ihnen so viel Material aufzubürden, dass die Fäden rissen. Aus Minsk wird berichtet, dass Kasperle mit 198 Joghurt-Sorten bepackt wurde und kein einziges Wort mehr herausbrachte. Schließlich zogen die Zuschauer selber die Fäden und vergnügten sich an ihrem Spiel.
Digitalisierung
Als das Ganze zu monoton wurde, ließen die Computer die Puppen tanzen. Doktor Buzz und Mister Webb aus USA machten sich als Theaterkritiker einen Namen. Sie vermochten, jede Inszenierung objektiv zu beurteilen, ohne sie überhaupt gesehen zu haben. Statt mühsam die Dramatik zu beschreiben, stellten sie durch Geräusch-Messung den Erfolg eines Produktes fest oder zählten, wie oft der Name der Brands fiel. Die Theaterbranche lernte schnell und produzierte lärmige Stücke am laufenden Band. Ein ungeheurer Durchbruch: zum ersten Mal in der Theatergeschichte war der Erfolg eines Stückes mathematisch garantiert."
Hier brechen die Aufzeichnungen von Professor Pawlowski ab. Ist er ins Ausland geflohen? Oder in einer der kleinen, dunklen Bühnen am Stadtrand untergekommen, die wieder die Dramen spielen, bei denen man eine Stecknadel zu Boden fallen hört?
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