Hybrid statt Dichotom! Neue Denkweisen für den Research der Zukunft

Trump versus Biden, Maskentragen versus Verweigern, SUV’s versus Radler: 2020 war nicht nur politisch ein Jahr hitziger Diskussionen. Auch unsere Branche blieb phasenweise nicht davon verschont. Im Zeichen von Corona wurde über dem verstärkten Einsatz digitaler Forschung eine künstliche Dichotomie stilisiert zwischen Online- und Offline-Research. Wer die beiden Settings jedoch nicht als Antagonisten, sondern zukunftsfittes Team begreift, zeigt nicht nur Sachverstand, sondern kann zu den Gewinnern der Post-Pandemie Forschung gehören. Wie das gelingen kann, erläutern Lisa Rackwitz und Anouk Kaltenbach von der GIM.

Good News are the better News

Es ist ja nicht so, dass unsere Branche keine Abgesänge gewohnt ist. Mal trifft es sie als Ganzes (mit Big Data als vermeintlicher Killer Applikation), mal sind halt Teil-Bereiche wie die qualitative face-to-face Forschung betroffen (vor allem die in Studios). Negativismus als Nachrichtenfaktor generiert Headlines. Das kennen wir aus dem Journalismus – only bad news are good news. Und es hat obendrein Tradition: Seit jeher gilt die Laborartigkeit der Forschung im Studio als Makel. Seit Corona werden indes umgekehrt die Defizite von online adressiert (wenig interaktiv, nicht spontan). Wie wär's damit: volle Power auf die Stärken beider Settings? Erzählen, wie kreativ und nutzenbringend beide für Kunden kombiniert werden können? Einfach mal: positiv nach vorne blicken? Klingt vielleicht langweilig, wir machen es dennoch. 

Es gibt Anlass zu Optimismus - wirklich!

Fakt ist: Ohne digitale Forschungsmethoden wäre in vielen Phasen seit Ausbruch der Pandemie Marktforschung gar nicht erst möglich gewesen. Und: Obwohl digitale Forschungsmethoden natürlich keine Erfindung der Corona-Krise sind, wurden und werden doch erstmals in größerem Ausmaß insbesondere Fokusgruppen online durchgeführt. Wir finden das spannend und plädieren deshalb genau jetzt dafür, zu schauen, was wir mitnehmen können aus dem letzten knappen Jahr Research unter Pandemie-Bedingungen. Wir brauchen neue Denkweisen und Forschungsansätze, die konstruktiv, neugierig und optimistisch beide Settings kombinieren: "Hybride Forschung". Bevor wir skizzieren, wie das funktionieren kann, aktualisieren wir aber zuerst für alle LeserInnen die maßgeblichen Stärken beider Forschungszweige.

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Online: Schaufenster in die Lebenswelt der Konsumenten

Studienteilnehmende am Küchentisch, gemütlich auf der Couch oder auf der Gartenliege: Ob gewollt oder nicht, erhalten wir unmittelbare Einblicke in den physischen Lebenskontext von Konsumenten: "Das Handling Ihrer Barista-Maschine frustriert Sie? Zeigen Sie uns doch mal schnell, warum!" Statt interpretationsbedürftiger Erinnerungsleistungen und Erklärungen, gibt es live quasi-ethnografische Einblicke in die Konsumentenrealität. Dass diese sich dabei in ihren vier Wänden aufhalten, macht sie zudem lockerer, sie fühlen sich wohl. Wie sagte ein Kollege kürzlich: "Was kann uns Besseres passieren als ein Teilnehmer in Jogginghosen?" Das Ergebnis im best case: Authentischeres Antwortverhalten.

Online: Macht entspannter

Ein smarter Methoden-Benefit: Online fehlen bestimmte "Spannungen", die manche offline Situation schon Mal prägen können. So kann die größere Anonymität den Impact sozialer Erwünschtheit reduzieren. Etwa das Gefühl, einer Online-Situation schneller entkommen zu können (und nicht noch mit dem Sitznachbarn im Aufzug Smalltalk machen zu müssen). Daneben erzeugt schon die Technik ein egalitäres Momentum: Jeder steckt im gleich großen digitalen Fenster, was schon visuell bedeutet: Gleiche Aufmerksamkeit! Und: Das elende Einander-ins-Wort-fallen wird reduziert, chronische Alphatierchen werden nicht automatisch auch zu Wortführern. Aufatmen für die Zurückhaltenden.

Online: Stimuli wachsen über sich hinaus   

Sie ist bei Online Gruppen nur vermeintlich ein Makel: die Fragmentierung der Diskussion. Denn wenn sechs Personen verteilt an ihren Rechnern sitzen, erlaubt dies, individuell auf Stimuli zu fokussieren: verdeckte Sicht auf den Fernseher? Abgelenkt oder gar beeinflusst durch nonverbale Aktionen des Nachbarn? Fehlanzeige. Bei Produktbesprechungen und vor allem Verköstigungen erlebten wir sogar, dass der Stimulus Gruppendynamiken auslöste, wie wir sie offline selten erleben: gleichzeitiges Auspacken, Öffnen und Probieren einer neuen Süßigkeit und die damit verbundene freudige Aufgeregtheit der Studienteilnehmenden, schuf über digitale Grenzen hinweg Gemeinschaft. Das Credo hier: Stimuli nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern auch als methodisches Mittel verstehen!

Offline: Das ganzheitliche Erleben

Ein immenser Vorteil der Offline-Forschung ist natürlich der unmittelbare Kontakt zu Studienteilnehmenden. Viele von uns dürften es Lockdown-bedingt festgestellt haben: Eine Onlinebegegnung, sei es der gemeinsame Spieleabend mit Freunden über Zoom oder ein Familien- Brunch am Wochenende über Skype kann Spaß machen – aber die echte Begegnung nie ersetzen. Und so ist's dann eben auch im Diskussions- oder Interviewraum: Erst die "echte", physische Begegnung erlaubt es, die andere Person mit allen Sinnen wahrzunehmen: Stimme, Geruch, Gestik, Ausstrahlung, nonverbale Kommunikation. Das vollständige Bild des face-to-face Research gestattet es Forschenden, ein besseres Gefühl für Teilnehmende und ihre Aussagen zu entwickeln.

Offline: Unmittelbare Kommunikation boostet den Flow

Unmittelbare Begegnung bedeutet auch: Die Möglichkeit direkter Kommunikation und damit auch Steuerung. Eine angeregte Diskussion entsteht im face-to-face Setting einfacher?/ natürlicher?, sowohl mit der Moderation als auch unter den TeilnehmerInnen. Das kann auf den Flow zum Beispiel einer Gruppendiskussion großen Impact haben. Hinzu kommt natürlich der nonverbale Aspekt. Weniger Gefahr von: "Sorry, bitte Sie zuerst, ich wollte mich nicht vordrängen!" "Ach was, sprechen Sie nur!" Und am Ende vergessen die Teilnehmenden prompt, was sie eigentlich sagen wollten.

Offline: Alles unter Kontrolle!

Eine weitere Stärke von Offline im Studio: Standardisierung. Die (Tiefen-)Interviews, Gruppen, Verkostungen, etc. finden im gleichen Raum statt, unter gleichen Rahmenbedingungen. Wird das Ganze in den privaten Kontext von Teilnehmenden verlagert, riskieren Forschende automatisch, die Kontrolle zu verlieren. So kann nur noch bedingt mitbestimmt werden, unter welchen Bedingungen das Gespräch oder die Diskussion durchgeführt wird. Das kann auch den Umgang mit Stimuli durch Teilnehmende betreffen: Im worst case schmeckt die Schokolade nicht, weil man sie in der Sonne auf dem heimischen Küchenfensterbrett vergessen hat. Im Studio erlebt jeder Teilnehmer den Stimulus unter den gleichen Rahmenbedingungen.

Hybride Forschung: Wegweiser in die Zukunft!

Es zeigt sich, dass gewisse methodische und zwischenmenschliche Aspekte existieren, die sich im Online-Setting besonders gut abbilden lassen, und andere, die eher von einem Offline-Ansatz profitieren. Beide Ansätze – und das ist alles andere als ein neuer Hut – haben dabei ihre ganz spezifischen Benefits. Diese Stärken gilt es aber nun künftig konsequent in der Praxis nutzenstiftend zu kombinieren – anstatt zu postulieren, Offline wäre tot und Online der neue Heilige Gral der Forschung. Deshalb fordern wir ein neues Denken, das gerne zitierte "Umparken im Kopf": Nutzen wir die Benefits beider Settings für spannende, integrierte Studiendesigns – auch und gerade für die Post-Pandemie-Zeit. Welcome to Hybrid Research!

In der Praxis: Von multi-step bis smart-creative

Ganz praktisch funktioniert "hybrid" gut bei multi-step-approaches. Beispiel: Eine U&A-Studie zu einer neuen Backmischung. Das grundlegende Nutzungsverhalten findet im heimischen Setting statt, mit eigenem Mixer, in der eigenen Küche, wo Handgriffe sitzen, Routinen laufen. Gestreamt wird via Notebook. Den anschließenden Produkttest gibt's dann im Studio. Und dort profitieren wir wiederum von Standardisierung und ganzheitlicher Evaluation mit allen Sinnen. Umgekehrt geht's auch: Nach der "normalen" Fokusgruppe macht es gerade bei slow moving consumer goods Sinn, nochmal nachzufassen – am besten im Konsumentenalltag, etwa mittels Online-Foren, einem kurzen Video-Call, etc.

Kombinieren und Transferieren!

Doch Hybride Forschung ist mehr als die Kombination in sich geschlossener online- und offline-Module. Sie ermöglicht auch einen Benefit-Transfer in die jeweils andere "Welt". Ganz konkret kann das etwa bedeuten, Stimulusmaterial wie einen Spot den Gruppenteilnehmenden über die eigenen Smartphones zu zeigen, eingebettet in einen digitalen Selbstausfüller. Somit kann der Einfluss der physisch präsenten Gruppe auch offline kurzfristig begrenzt werden – während sich die Teilnehmenden komplett auf das Material fokussieren. Angenehmer Nebeneffekt: Die Studienleitung spart Zeit, da die Daten nicht mehr händisch in den PC übertragen werden müssen.

Kommunikation: Den "cultural shift" wagen!

Hybrid öffnet Forschenden auch die Tür zu innovativem "kulturellem Transfer"! Warum etwa nicht die Kommunikationskultur von Online und vor allem Social Media losgelöst von diesem Kontext nutzen? Je nach Zielgruppe bringen Hashtags, Memes und Co. die eigenen Einstellungen, Meinungen und Gefühle pointierter zum Ausdruck, als gängige Skalen und Tools. In Studien mit Social Media-affinen Zielgruppen haben wir in den vergangenen Monaten bereits spontane Eindrücke oder Produktverständnis-Aussagen generieren können, die herkömmlich generierten weit überlegen waren.

Fazit: Hybrid wird vom Notnagel zur Norm!

Vor dem Hintergrund eines knappen Jahres qualitativer Forschung unter Corona-Bedingungen sagen wir: Qualitative Offline-Forschung ist nicht tot und wird es auch post-pandemisch nicht sein! Wir plädieren für eine Denkweise, die sich von einem künstlichen dichotomen Duktus "Offline oder Online" löst und stärker als bisher auf Synergien, denn auf Defizite fokussiert. Klar ist dennoch: Es wird immer Forschungsfragen geben, die ein Studiendesign im Sinne eines "entweder online oder offline" erfordern. Dann geschieht das aber durchdacht, aus guten methodischen Motiven. Und nicht als Ergebnis festgefahrener Denkroutinen oder gezielter Zuspitzungen. Hybride Ansätze erfinden das Rad der Forschung nicht neu. Sie sollten aber künftig nicht mehr als Notnagel oder Sonderform begriffen werden, sondern als mögliche Basis für jedes qualitative Studiendesign. 

Über die Autorinnen

Lisa Rackwitz ist seit 2017 als Research Managerin bei der GIM beschäftigt. Sie hat Medienmanagement studiert, ihre Branchenschwerpunkte liegen auf FMCG und Consumer Health sowie Media, wobei sie umfangreiche Online- wie Offline Moderationserfahrung gesammelt hat. Methodische Foki sind Konzepttests, Customer Journeys, Ethnographien sowie Zielgruppen-Segmentierungen.

Anouk Kaltenbach ist seit 2020 bei der GIM, ebenfalls als Research Managerin. Sie hat Psychologie studiert und forscht überwiegend in den Branchen FMCG, Health sowie Home & Tech. Sie leitet Qualitative Studien mit Methodenfokus auf Ethnografischen Ansätzen und Konzeptentwicklung. Moderationserfahrung weist sie vor mit Konsumenten, Patienten und Experten in Offline- und Online-Settings.

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