Christian Dössel, PRS IN VIVO Neu denken – anders forschen

Pressemitteilungen, Konferenzthemen, Blogartikel und Facebook-Posts aus der Welt der Marktforschung zeigen in guter Regelmäßigkeit, wie die Branche versucht, technologische Innovationen zu vermarkten. Man könnte sich fragen, warum hier ausgerechnet technologische Innovationen gewählt werden? Es könnten ja auch Genauigkeit, Vorhersagekraft, Erfahrung, Erfolg, Erweiterung der Handlungsfähigkeit oder mehr Einfluss auf Entscheidungen vermarktet werden?

© Christian Dössel

© Christian Dössel

Das liegt sicher auch daran, dass uns unsere internen oder externen Kunden nicht erst seit gestern in die Bücher geschrieben haben, schneller und billiger und trotzdem mindestens genauso gut zu forschen. In einer dynamischen Welt mit schnellen Entscheidungen müssen Ergebnisse entsprechend schnell vorliegen, Stichwort: Digitale Transformation.

Und so finden wir regelmäßig Nachrichten in unserem Postfach über neue Self-Service-Plattformen für Standardtests, auf unserer Timeline erscheinen Posts zu noch schnelleren Testverfahren oder wir sehen uns Vorträge über weitere Einsparungsmöglichkeiten im Hinblick auf Zeit und Geld mit App X oder Y an. Das ist sicher gut so, wir brauchen das. Diese Impulse bringen etwas Neues in unsere Welt.

Die Frage ist, reicht das?

Die Kernherausforderungen für die Zukunft der Marktforschung haben vielleicht weniger mit unseren technologischen Fähigkeiten, als vielmehr mit unserer Denkweise zu tun. Andere Bereiche versorgen das Marketing in einer digital veränderten Welt mit neuen, vielleicht relevanteren Denkweisen, während wir in der Marktforschung in "Studien" denken und lineare Prozesse mit fest definierten Teilschritten verfolgen. Hier können wir an der Temposchraube drehen, Schritte verkürzen, parallel aufsetzen, automatisieren. Ausreichend Mittel und IT-Know-How vorausgesetzt könnte theoretisch jeder eine Self-Service Plattform anbieten, könnte jeder Automated Reports erstellen lassen, könnte jeder an den Schrauben Zeit und Geld drehen.

Aber ist es das? Also reicht es, Dinge, die wir vorher langsamer gemacht haben, jetzt schneller und billiger zu machen? Dinge, die früher "per Hand" gemacht wurden, jetzt zu automatisieren?

Mindset oder Skillset – der Zusammenhang von Denk- und Arbeitsweise

Die Denk- und Arbeitsweisen in der Marktforschung sind – wie überall anders auch – eng miteinander verknüpft und nicht einfach zu entkoppeln. Das sieht man zum Beispiel immer besonders klar, wenn man auf Konferenzen geht. Während auf den Marktforschungskonferenzen, an denen ich in den letzten ein oder zwei Jahren teilgenommen habe, gute solide, professionelle Arbeit präsentiert wurde, ist die gezeigte Arbeit (skills) jedoch immer sehr auf die traditionelle Denkweise der Marktforschung (mind) ausgerichtet:

  • Lineare, einzelne Studien, keine Verknüpfung oder Integration mehrerer Datenquellen et cetera
  • Fokus auf Datenerhebung anstatt kombinierte Analyse von erhobenen mit bereits bestehenden Daten, um Wachstumspotenziale zu identifizieren
  • Nutzung von Technologie vorwiegend für Tools, die Zeit und Budgets sparen, aber substantiell nichts anders machen, als in den Jahren davor - außer Einbeziehen neuer Umfragetechniken oder Nutzung von Buzzwords als einzige Neuerung
  • Mit Daten und Erkenntnissen Erklärungen abgeben anstelle von Vorhersagen treffen (wollen)

Ich bin skeptisch, ob das alleine wirklich dabei hilft, Unternehmen zu unterstützen, um in einer digitalisierten Welt zu wachsen.

Integration von Verhalten mit Einstellungen

Ein Beispiel: Verhaltensdaten – egal ob sie aus der Beobachtung stammen oder aus der Aufzeichnung von Bewegungsdaten einer beliebigen App – sind ein wichtiger Pool an Daten, und alles andere als neu. Man weiß, dass die Kombination von Beobachtungen mit Befragungsdaten in der Regel ein Garant für tiefere Erkenntnisse ist. Und, je tiefer die Erkenntnisse, desto größer die Chance Vorhersagen zu treffen, als nur zu erklären. Wenn man zum Beispiel Shopper bei der Produktwahl am Regal beobachtet und erkennt, dass eine neue Verpackungsalternative nicht gekauft wird, weil sie schlicht deselektiert und übersehen wird und man zusätzlich erkennt, dass vielleicht die Differenzierung der Varianten unterdurchschnittlich gut funktioniert, oder wichtige Informationen nicht prominent genug sind, dann kann man relativ genau den potenziellen Value-Verlust für die Marke beziffern und die Auswirkungen auf die Geschäftsentwicklung prognostizieren.

Die eigene Denkweise verändern, aber wie?

Doch wie erweitert beziehungsweise verändert man die Denkweisen? Das geht nicht von innen heraus, dafür ist die Verbindung von Denk- und Arbeitsweise zu stark, denn man kann ja am allerbesten das, was man jeden Tag übt. Also braucht man Impulse von außen. Das können andere, marktforschungsferne Konferenzen, Blogs, persönliche Gespräche oder Weiterbildungen sein. Einmal damit angefangen, lernt man schnell, ob und wie nahe andere Bereiche eigentlich dem Thema Marktforschung sind, ohne dass diese Bereiche das, was sie tun notwendigerweise als Marktforschung bezeichnen oder die Parallelen beziehungsweise Anknüpfungspunkte sehen. Das sind die interessanten Felder für Kooperationen, Pilotprojekte, Weiterbildungen et cetera.

Der Autor

Christian Dössel arbeitet als Senior Research Director für PRS IN VIVO in Hamburg. In seiner bisher 18 Jahre andauernden Tätigkeit in der Markforschung ist er mit Organisationen unterschiedlichster Größe, Geschäftsausrichtung und Kultur in Berührung gekommen. Er co-organisiert die Research Plus Veranstaltung in Hamburg und hat die  mafolution.de mitbegründet, ein Online-Angebot, das zum Ziel hat den digitalen fachlichen Austausch der Branche zu fördern.

 

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