Netizen in China für Marketingforscher
Von Matthias Fargel
„Across the Great Wall we can reach every corner in the world“, lautete die erste chinesische E-Mail. Am 14. September 1987 gesendet vom ICA Institute in Beijing an die TU Karlsruhe. Dieser Pionierspruch zeugt vom naiven Wissenschaftler-Optimismus jener Aufbruchjahre. Knapp zwei Jahre später provozierten die Tiananmen Demonstrationen die Staatsmacht über Gebühr. Seit dem haben die Behörden um das Land eine zweite Mauer, die „Chinese Firewall“ errichtet. An ihr wachen zwei Millionen WWW-Aufpasser mit dem Auftrag „ Golden Shield“ in beide Richtungen außerhalb und innerhalb der neuen e-Mauern. In Fürsorge schützen sie derzeit ca. 620 Mio. Internetnutzer im Land der Mitte vor unpassenden Nachrichten, verwirrenden Meinungen und unangemessenen Bildern.
Trotz des gefilterten Informationsflusses sollten uns Europäer und Marktforscher der chinesische Internetmarkt und seine Nutzer interessieren. Nicht nur wegen der Größe und des wirtschaftlichen Potentials, sondern auch wegen der eigenständigen Markttreiber. Diese könnten sich, schneller als gedacht, auf Dienste und Produkte in unseren Sphären auswirken.
Online Markt und Netizen in Zahlen
Auf der Weltkonferenz für Werbung am 12. Mai 2014 in Beijing sprachen die Fachleute von aktuell 618 Mio. Internetkunden; mit anhaltenden zweistelligen Zuwachsraten pro Jahr. Das entspricht einer Internetdurchdringung von ca. 45% der Bevölkerung. In absehbarer Zeit werden noch einige hunderte Millionen als Erstkunden hinzukommen; zuzüglich zu den Erfahreneren, die nach erweiterten Diensten und Geräten drängen. Abhängig vom Betrachtungszeitraum, Quelle und Definition liegen die Zahlen zum chinesischen Internetmarkt weit aus- und nicht unbedingt in stimmiger Relation zueinander. Riesig und von kurzer Verfallsdauer sind sie alle: Der Kurznachrichtendienstleister „QQ“ von Tencent gibt für Jahresende 2012 798 Mio. registrierte Kunden an. Der Twitter ähnliche Micro Blog Sina Weibo berichtet von 500 Mio. eigenen Mitgliedern zum Februar 2013, den 46 Mio. täglich aufsuchen. Der größte Wettbewerber, WeChat, beansprucht sogar 600 Mio. Abonnenten, von denen 50% aktiv seien. Zu berücksichten ist, dass populäre Sites und Apps auch von Teilen der ca. 50 Mio. Auslandschinesen in Anspruch genommen werden (siehe Artikel zu Auslandschinesen).
In vielen Facetten ist der chinesische Onlinemarkt inzwischen doppelt so groß wie jener der einstmals führenden USA. Und mit wesentlich mehr Momentum, das über die Grenzen Chinas hinaus schwappen wird. Der wirtschaftliche Aufschwung breiter Bevölkerungsschichten in China und die allgemeine Innovationsfreude lassen keine Abkühlung dieses Marktes erwarten. Innerhalb Chinas herrscht heftiger Wettbewerb der lokalen Anbieter, der sich vor ausländischen Konkurrenten geschützt entfalten kann.
Player in Chinas Online Markt
Die im Westen bekannten Markttreiber des e-Business wie Amazon, Facebook, Google oder YouTube spielen in China keine nennenswerte Rolle; entweder durch technische, kulturelle oder politische Hürden ausgegrenzt. Hier eine Aufstellung gewichtiger chinesischer Anbieter und deren westlichen Pendants; wobei nicht alle Dienste und technischen Lösungen völlig kongruent sind.
Chinesische
Westliche Anbieter
Baidu, Sogou
Google, Yahoo
Sina Weibo
Twitter
Taobao
Ebay
Alibaba
Amazon
Alipay, Tenpay
PayPal
Youkou, Sohu
YouTube (nicht in China vertreten)
Renren
Facebook (nicht in China vertreten)
Tencent, QQ
Whatsapp
Die marktbeherrschende Suchmaschine Baidu (80% Marktanteil) verweist überwiegend auf chinesisch geschriebene Quellen.
Der chinesische Netizen
Anfänglich stellte der Zugang zu Endgeräten einen entscheidenden Engpass dar. Wer nicht zu den relativ wenigen Privilegierten mit privatem Computer zu Hause gehörte, griff im Internet-Café auf das WWW zu. Seit ca. fünf Jahren geht der Trend eindeutig zugunsten der mobilen Endgeräte. Smartphones, Tablets und Zwischengrößen sind für den privaten Gebrauch besonders begehrt. Sie haben im Zuge der „Face Consumption“ eine herausragende Position als optimal sichtbare „Carry-on Status Symbole“ erobert und gehören zur alltäglichen Mindestausstattung nicht nur der urbanen Jüngeren. Inzwischen loggen sich zwischen 30 -50% der Cyberspace-Chinesen über mobile Endgeräte ein. Vor allem in den Großstädten in den Funkschneisen mit schnellen Verbindungen im G3 Format.
Chinas Netizen sind durchschnittlich 32 Stunden pro Woche im Netz, länger als US-Amerikaner. Mit 76 % Anteil an Content Schreibern sind Chinesen besonders kreativ; nur 23% der europäischen und 21% der US–amerikanischen Counterparts tragen aktiv zum Inhalt bei. Das hat mehrere Gründe. Da wäre zunächst die offizielle Politik, die sich – trotz oder wegen der staatlichen Zensur? - explizit web-affin zeigt. Der elfte Fünfjahresplan strebt als eine Gesellschaft der „Informatization Citizen“ an. Den Weg dorthin ebnet der rapide Ausbau der Fernmeldestationen für webgestützten Fernunterricht, der bis 2016 90% aller Schulen auf dem Land erreichen soll. Bis dahin soll jede Gemeinde Chinas an das Breitbandnetz angeschlossen sein: 6,4 Mio. km Glasfaserkabel sind bereits verlegt.
Mit dem „Informatization Citizen“ verbinden die Mächtigen eigene Pläne. So rief z.B. Lu Wei, Vizebürgermeister in Beijing im Februar 2013 seine 60.000 „Propaganda Mitarbeiter innerhalb und weitere 2 Millionen außerhalb des Systems“ dazu auf, die positive Kraft des Internets zu nutzen und die aktuellen Themen in den Social Media optimistisch zu steuern. Was im Klartext bedeutet: Neben fürsorglicher Kontrolle sollen regierungsfreundliche Blogger die Sicht auf die Dinge im In-und Ausland mit der Autorität der Volksstimme prägen. Die renommierte Fudan Universität veranstaltete im Dezember 2013 das Forum „How Government can improve governance through better communication“. Die Teilnehmer des Forums beobachteten, dass bei Sina Weibo zahmere Beiträge erscheinen während sich bei WeChat die liberaleren Stimmen melden. So finden sich dort spöttische Beiträge zur neuen Zensur-Kampagne „Cleaning the Web 2014“ die sich vordergründig gegen Pornographie wendet und als Beifang gleich noch andere werteverzerrende Sites aus dem chinesischen Netz fischt. Z.B. elektronische Eigenverlage wie jjwc.net mit homosexueller Literatur, das Forum iAsk.sina.com.cn. oder die liberale Zeitung „Southern Weekend“. Jüngere Blogger lästern von einer Kulturrevolution für ihre Generation Y, in Anspielung auf die wieder aufkommende sittliche Gängelung und Prüderie von oben. Das ist den eher unpolitischen Hedonisten der jungen Mittelschicht zu viel. Denn 75% der Netizen Chinas sind unter 34 Jahre alt (USA: 40 Jahre), 62% haben einen Universitätsabschluss (USA 35%), leben in liberalen urbanen Milieus und verdienen besser als der Landesdurchschnitt.
Das klammheimliche Tauschgeschäft der Mächtigen, die sich politisches Stillhalten der Bürger durch mehr persönliche Entfaltungsfreiheiten im Privaten erkauft hatten, gerät so in Schieflage und ruft breiten Widerstand hervor. Womit ein Teil der Social Media zum ersatzparlamentarischen Forum im (zensierten) Streit der öffentlichen Meinungsbildung wird; sei es, um sich wochenaktuell an Japan, Philippinen, Vietnam oder den USA ideologisch abzuarbeiten oder innenpolitischen Druck bei zig Umweltthemen und anderen Missständen aufzubauen. Daneben üben sich Netizen als Volksreporter, in dem sie Bilder und Berichte von bürgerrelevanten Ereignissen ins Netz stellen, die den Nachrichtensendungen CCTV oder Zeitungen offensichtlich entgehen.
Online-Geschäfte
Die Beratungsfirma Shift Thought schätzt China als den größten Online-Käufermarkt der Welt ; 2013 haben 220 Mio. Kunden Waren und Dienstleistungen in Höhe von 1, 3 Billionen US $ geordert; jährlich zweistellig steigend. Populär ist das mobile Internet Banking und das Buchen und Bezahlen von Bahnfahrten und Flügen. In 400 chinesischen Städten stehen 600.000 Terminals mit sog. City Card Programmen, um bargeldlos und ohne Umweg über Kartenautomaten in die öffentlichen Verkehrsmittel zu steigen.
Vor dem Hintergrund, dass in China als höchster Geldschein die 100 Yuan–Note (ca. 13 Euro) im Umlauf ist, sind Barzahlungen unpraktisch. Tenpay und Alipay haben sich mit Apps als Bezahlautomat fürs Internet und Alltagsgeschäfte, etabliert. Damit lassen sich die mobilen Endgeräte mit einem Budget aufladen, um in Verkehrsmitteln aber auch Kleineinkäufe, Parkgebühren, etc. bargeldlos zu bezahlen. Alipay reklamiert für sich 550 Mio. solcher „digitaler Geldbörseninhaber“. Darüber hinaus bieten sie Bezahldienste mit QR Code Lese-Apps an, um überall in China bargeldlos shoppen zu gehen; auch Höherwertiges. Jüngstens kamen Sparpläne und das Vorhaben virtueller Kreditkarten hinzu. Damit bahnt sich ein paralleles Banksystem an, das jedoch der staatlichen Bankkontrolle und den Geschäftsinteressen der staatlichen Großbanken zu entgleiten drohte. Im April 2014 durchkreuzte die People’s Bank of China diesen Vorhaben und beschränkt seitdem den Zahlungsverkehr der Internetfirmen auf 10.000 Yuan p.m. (ca.1.300 €). Doch der Appetit der Netizen nach noch mehr mobilen Geldgeschäften ist geweckt und wird in Kooperationen aus Banken und Internetfirmen weiterentwickelt werden.
Online Guanxi
Die beliebtesten Anwendungen sind jedoch jene, die den chinesischen Drang nach Freundschaftspflege, Erfahrungsaustausch und gemeinsamen Spielen nachkommen. Die modernen Social Media passen perfekt zu so einer Kultur. Sie erlauben Tratschen, Austauschen von Gerüchten; blitzschnell, über große Distanzen hinweg, die heute viele chinesische Familien und Freundeskreise schmerzlich trennen. Das Foto vom Essen, an dem man gerade sitzt oder von Leuten, die man getroffen hat oder etwas Schönem, was man sich gekauft hat – spontan weggeschickt und weit verteilt – das ist moderne Beziehungspflege. Das in China besonders beliebte „Name Dropping“ wird durch entsprechende Anwendungen zum „Face Dropping“: sich mit Wichtigen & Interessanten fotografieren und anschließend posten lassen.
China gehört zu einer der ausgeprägten „Low Trust“–Kulturen. Will am etwas wissen, fragt man Familie, Freunde und Guanxi-Partner; am besten von Angesicht zu Angesicht; alternativ per Telefon oder eben übers Netz. Micro Blogs und Instant Messanging Tools sind heute die wichtigsten Informationsquellen für Chinesen mit Mobilgeräten.
Mobile Nabelschnur
Chinesen nutzen die Zeit polychron. Das drückt sich im Überlappen von Privatleben und Berufsleben aus. Handys und Smart Phones bilden eine 24/7 Nabelschnur zwischen Familie, Firma und Lieferanten. Mitarbeiter setzen Freizeit zur Arbeit ein und betreiben so manches Private auch in der Arbeitszeit. Offensichtlich stören sich wenige daran: Der allzeitig geschäftige Mensch mit professionellem Habitus, egal ob beim Essen, beim Einkauf, in der U-Bahn, Auto oder im Restaurant, genießt oder erheischt Respekt. Rücksicht auf Geräuschpegel für die Umstehenden oder Vertraulichkeit spielen keine erkennbare Rolle. Chinesen sind das Privatleben in Öffentlichkeit gewohnt. Hausflure, Plätze, Parks, öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel sind Bühne für alle und fast alles, im Rahmen der Schicklichkeit und Klugheit. Vertraulichkeit, Datenschutz und Datensicherheit scheinen für das Gros der Bevölkerung und der Netizen keine Aufreger darzustellen: Nachbarn und Staat haben schon immer mitgehört; so what?
Neugieriges Zuschauen, Gaffen im Sinne des Wei Guan ist eine große Schwächen der Chinesen; ein kurioses Missgeschick Dritter; ein spektakulärer Unfall, eine deftige Schlägerei oder überraschender Polizeieinsatz: immer bleiben Leute stehen und lassen sich Gruseln. Eine viel kritisierte, als kaltherzige Teilnahmelosigkeit gescholtene chinesische Verhaltensweise. Auch die lässt sich über Social Media und Videodienste wie Youkou (als YouTube Ersatz) vorzüglich ausleben – und frei von sozialen Obligationen. Der besser im Bilde Netizen-Mensch ist auch in China kein besserer Mensch.
Weiterführende Quellen:
- Horizon Research Consultancy Group, Beijing lt. China Daily, 20.10.2013
- BBC News Technology, 17.7.2013
- Shift Thought, China: Digital Money 2013
- Deloitte: Trends and Prospects in China’s Mobile Payment Industry 2012 -2015
- China Digital Time
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