Nationaler Wohlstands-Index: Die Deutschen definieren Wohlstand neu
Hamburg - Wohlstand ist nicht gleichzusetzen mit ausschließlich ökonomischem Wachstum. Die Deutschen definieren Wohlstand differenzierter. Dies zeigen erste Ergebnisse einer auf Kontinuität angelegten Studie zum Wohlstandsbegriff von Ipsos. In Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Professor Dr. Horst W. Opaschowski hat Ipsos auf Basis von mehreren aufeinanderfolgenden Befragungen ein Barometer – den Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland NAWI-D – entwickelt.
Auf der Suche nach einem umfassenden Wohlstandsmaßstab diesseits und jenseits des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zeichnen sich nach den Ergebnissen der Befragung die Konturen eines Wohlstandsbarometers ab. Im heutigen Wohlstandsverständnis der Deutschen spielen materielle Überlegungen, wie sie sich bisher im BIP-Maßstab widerspiegeln, weiterhin eine fundamentale Rolle. Andererseits erscheint der Bevölkerung diese Sichtweise viel zu verkürzt und unvollständig. Die Befragungen zeigen weitere Dimensionen auf, die Bürger mit dem Begriff Wohlstand assoziieren. Ein zukünftiger WohlstandsIndex muss danach ganzheitlich auf vier Säulen stehen:
- Die erste Säule umfasst den ökonomischen Wohlstand: Sicher und ohne Geldsorgen leben.
- Die zweite Säule gehört dem ökologischen Wohlstand: Naturnah und nachhaltig leben.
- Die dritte Säule bezieht sich auf den gesellschaftlichen Wohlstand: Frei und in Frieden leben.
- Die vierte Säule bietet individuellen Wohlstand: Gesund und ohne Zukunftsängste leben.
Bei diesem umfassenden Vier-Säulen-Modell steht das Wohlergehen des Landes und der Menschen im Zentrum der Wohlstandsmessung. Es schließt gesellschaftlichen Fortschritt ebenso ein wie die Verbesserung der persönlichen Lebensqualität. Und es räumt mit dem Irrglauben auf, dass allein ein höherer Lebensstandard mit einem höheren Maß an Lebenszufriedenheit einhergeht.
Nach den Prioritäten der Bundesbürger ergeben sich folgende Bedeutungsgewichte für die dann folgende Berechnung des Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI D):
- 39% für den ökonomischen Wohlstand
- 12% für den ökologischen Wohlstand
- 18% für den gesellschaftlichen Wohlstand
- 31% für den individuellen Wohlstand
In diesem Prioritäten-Wohlstandskatalog ist nach wie vor der ökonomische Wohlstand dominant – allerdings inhaltlich ganz anders begründet. Professor Opaschowski: "Es geht nicht mehr um das Immer-Mehr. Die Deutschen wollen ihren erarbeiteten, verdienten und erworbenen Wohlstand in Sicherheit bringen und sich gegen Lebensrisiken absichern – vom gesicherten Arbeitsplatz über das sichere Einkommen bis zur sicheren Rente. Wohlstand im 21. Jahrhundert hat seine "Luxus"-Komponente verloren. Wohlhabend ist der, der sicher und sorgenfrei leben kann."
Der NAWI-D gewichtet schließlich die subjektive Wohlstandswirklichkeit, also den Erfüllungsgrad nach Selbsteinstufung, mit der oben beschriebenen Bedeutung der einzelnen Dimensionen am Wohlstand. In der ersten Erhebung ermittelt Ipsos einen Indexwert von 42,4 von 100.
Der Index kann auch für die einzelnen vier Dimensionen separat betrachtet werden. Für die als besonders relevant angesehenen Bereiche ökonomischer Wohlstand und individueller Wohlstand liegt er bei 42,4 und 42,3 und deckt sich somit (fast) mit dem Gesamtwert. Der gesellschaftliche Wohlstand ist mit 52,1 deutlich stärker und der ökologische Wohlstand mit 28,0 deutlich schwächer ausgeprägt.
Neben diesen Indizes, deren Entwicklung stetig gemessen werden wird, gibt der NAWI-D auch detaillierte Einblicke in das Wohlstandsleben.
Fast drei Viertel der Deutschen (71%) "fühlen" sich erst wohlhabend, wenn sie materiell soweit abgesichert sind, dass sie "keine finanziellen Sorgen haben" müssen. Wohlstand wird von ihnen mehr negativ definiert – als Abwesenheit von Arbeits-, Einkommens- und Existenzrisiken. Weitere Wohlstandsträume gehen für sie erst dann in Erfüllung, wenn das Einkommen (65%), der Arbeitsplatz und die Rente (62%) "sicher" sind. Erst danach können sie überhaupt daran denken, sich zusätzliche Wünsche zu erfüllen.
Auch mental steht das Sicherheitsdenken ganz obenan: "Keine Angst vor der Zukunft haben" (54%) heißt es für die Mehrheit der Bundesbürger. Wohlstand fängt bei ihnen mit dem Wohlfühlen an – vom "Sich-gesund-Fühlen" (53%) bis zur Gewissheit, "sich eine gute medizinische Versorgung leisten zu können" (54%).
Und sozial gesehen sorgen erst die "guten Freunde" (43%) und der "Kontakt zu Familie und Verwandten" (40%) für Schutz und Sicherheit und – wenn es sein muss – auch für Hilfe in der Not.
Die Ergebnisse der Umfrage deuten auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel vom Wohlleben zum Wohlergehen hin. Der Traum vom materiellen Immer-Mehr ist für die meisten Deutschen ausgeträumt. Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung kann sich 2012 nahezu uneingeschränkt seine "materiellen Wünsche erfüllen" (29%). Von einem Wohlstandsleben als Wohlleben sind die meisten Bundesbürger weit entfernt. Nur etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung (36%) kann von sich sagen, keine finanziellen Sorgen zu haben.
Da passt es auch, dass knapp 20% sehr schlecht und insgesamt 63% nicht ausreichend für die eigene Zukunft finanziell vorsorgen können (oder als Rentner vorgesorgt haben). Besonders die bis 34-Jährigen stufen ihre Vorsorgeleistungen als sehr niedrig ein (33% schlecht, 78% nicht ausreichend)
Trotz der negativen Wohlstandsbilanz wissen die Deutschen die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sehr wohl zu schätzen. "In Frieden mit den Mitmenschen leben" (64%) und seine "Meinung frei äußern können" (61%) werden als gesellschaftlicher Wohlstand hoch bewertet, weil sie erst die Voraussetzungen dafür schaffen, im eigenen Land gut leben und sich wohlfühlen zu können. Die Bedingungen von Frieden und Freiheit ermöglichen, dass jeder das Beste aus seinem Leben machen kann. Dazu trägt insbesondere der soziale Zusammenhalt im Nahmilieu bei. Intensive Familienbeziehungen (64%) und die Pflege der Kontakte zu guten Freunden (58%) sorgen für Wohlergehen im eigenen Land.
Im Wohlstandsvergleich ist feststellbar: Je mehr Menschen im Haushalt zusammenwohnen, desto glücklicher und gesünder fühlen sie sich. Nur jeder dritte Alleinlebende (33%) kann von sich sagen: "Ich bin glücklich"; das Glücksgefühl ist bei Vier-Personen-Haushalten deutlich höher (57%). Und auch bei der Aussage "Ich fühle mich gesund" können Ein-Personen-Haushalte (43%) keinen Vergleich mit einer Vier-Personen-Familie (65%) standhalten.
Dies erklärt auch, warum der individuelle Wohlstand so hoch bewertet wird: Die Bundesbürger wollen keine Angst vor der Zukunft haben. Gesundheit gilt als höchstes Lebensgut. Unabhängig von bestehenden oder drohenden Krankheiten will sich die Mehrheit der Bevölkerung subjektiv gesund fühlen. Dazu allerdings muss sie sich auch eine gute medizinische Versorgung leisten können. Ein verlässliches und bezahlbares Gesundheitssystem trägt wesentlich zum Wohlergehen der Bevölkerung bei.
In Frieden mit den Mitmenschen leben zu können, ist für die Deutschen eine wichtige Voraussetzung für den Wohlstand. Knapp zwei Drittel der Bevölkerung (64%) sehen diesen Wunsch als erfüllt an. Das ist Lebensqualität (und nicht nur Lebensstandard). Das ist gesellschaftlicher Fortschritt (und nicht nur wirtschaftliches Wachstum).
Im Vergleich zum ökonomischen, gesellschaftlichen und individuellen Wohlstandserleben führt der ökologische Wohlstand beinahe ein Schattendasein. Die Umweltpolitik hat es bisher versäumt, den sperrigen Begriff "Nachhaltigkeit" positiver mit Zukunftsdenken im Sinne von Vorausschau und Vorsorge zu umschreiben
Zur Studie: Ipsos befragte für den NAWI-D vom 21. Mai bis 4. Juni 2012 2.000 Personen aus der deutschsprechenden Bevölkerung ab 14 Jahren per Computer Assisted Personal Interviewing.
ah/Ipsos
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