Thomas Donath, Nordlight Research Nachhaltigkeitsforschung: Warum mehr Offenheit, Ehrlichkeit und Lebensnähe guttun

Nachhaltigkeit muss man sich auch leisten können. Die Werbung suggeriert meist nachhaltige Welten, die von der Lebenswirklichkeit weit entfernt sind. (Bild: picture alliance / Westend61 | Uwe Umstätter)
Nachhaltigkeitsforschung zwischen Komplexität, Vereinfachung und Pragmatismus
Im verbreiteten „Drei-Säulen-Modell“ wird Nachhaltigkeit in drei Dimensionen unterteilt:
Ökologie, Soziales und Ökonomie. Jede einzelne Dimension deckt wiederum zahlreiche Facetten ab. So ließe sich beispielsweise die soziale Nachhaltigkeit von Unternehmen differenzieren nach ihrem Umgang mit Kunden, Mitarbeitenden, Zulieferern oder auch der Förderung gemeinnütziger Projekte.
Wer nun Nachhaltigkeitserwägungen bei Konsumentscheidungen erforscht, sieht sich in der Praxis damit vor die Wahl gestellt, mit dem pauschalen Attribut „nachhaltig“ pragmatisch an der Oberfläche zu bleiben oder aber mit ausdifferenzierten Befragungen und komplexen Item-Batterien in Bewertungstiefen vorzustoßen.
Diese „Tiefe“ ist aber bei Verbraucherinnen und Verbrauchern meist gar nicht vorhanden.
Wer weiß beispielsweise schon, unter welchen ökologischen Bedingungen die dutzenden Bauteile im Smartphone hergestellt und die nötigen Rohstoffe abgebaut oder recycelt wurden?
Wie Hersteller mit Menschen im eigenen Betrieb und bei Zulieferern umgehen?
Und ob das alles zudem wirtschaftlich effizient geschieht?
Ohne dieses konkrete Wissen orientiert man sich in puncto Nachhaltigkeit an über Werbung und News gebildeten Markenbildern, Produkttests und Bewertungssiegeln.
Und selbst wenn hierzu differenziertes Verbraucherwissen vorläge, bleibt die wichtige Frage, inwieweit die drei Kerndimensionen der Nachhaltigkeit oder gar deren Binnenbausteine die Kaufentscheidungen von Konsumenten überhaupt unabhängig voneinander treiben bzw. beeinflussen.
Direkt befragt, behaupten Konsumenten, dass Ökologie und Soziales ihnen beim Produktkauf ähnlich wichtig sind. Konkretisiert man die Relevanz ökologischer und sozialer Erwägungen beim Kauf von Nahrungsmitteln, Weißer Ware oder Dienstleistungen im Bereich Energie, Mobilität, Telekommunikation oder Versicherungen, zeigt sich: Ökologie differenziert bei Kaufentscheidungen wesentlich stärker, zudem korreliert Soziales stark mit Ökologie.
So lässt sich beispielsweise auch ohne größere Differenzierung ermitteln, dass Nachhaltigkeit nur für knapp jeden fünften Verbraucher beim Abschluss von Telekommunikations- oder Versicherungsverträgen eine Rolle spielt, bei Lebensmitteln hingegen für mehr als jeden zweiten.
Jenseits eher akademischer Studien zur Nachhaltigkeitspsychologie dürfte es in der praktischen Marketingforschung daher meist ausreichen, festzustellen, ob Marken- und Produktbilder sich – neben anderen Leistungsmerkmalen oder emotionalen Versprechen – ganz allgemein in der Sache „Nachhaltigkeit“ unterscheiden, und welche Rolle dies für Kaufentscheidungen in verschiedenen Zielgruppen spielt. Der „Generalfaktor der Nachhaltigkeit“, angelehnt an den g-Faktor der Intelligenz, reicht meist schon aus.
Nachhaltigkeit zwischen Illusion und Wirklichkeit
Nur wenige Konsumenten in Deutschland sagen – etwa 10 Prozent in unseren eigenen Studien –, dass ihnen Nachhaltigkeit beim Kauf von Produkten oder Dienstleistungen weitgehend egal ist. Daraus im Umkehrschluss auf ein weit verbreitetes nachhaltiges Verhalten in der Bevölkerung zu schließen, wäre jedoch fahrlässig und unangemessen vereinfacht. Denn neben verfestigten Gewohnheiten spielen hier auch die Kaufkraft, alltagspraktische Hindernisse und weitere Faktoren eine maßgebliche Rolle.
Ein schönes und immer noch hochaktuelles Beispiel dafür ist die E-Mobilität: Vor einigen Jahren plante die Politik und suggerierten die Medien, dass in Kürze hierzulande Millionen von E-Autos gekauft würden. In unserer „Vertriebskanalstudie Energie“ hatten wir seit 2019 hierzu Potenzialschätzungen vorgenommen. Diese kombinierten verschiedene Treiber und Barrieren, um das Potenzial für E-Mobility zu schätzen – schließlich ist dies ein gigantischer Zukunftsmarkt für die Energieversorger.
Zur Schätzung des Potenzials betrachteten wir Treiber und Barrieren. Zu den Barrieren zählten beispielsweise Vorbehalte in puncto Reichweite, fehlende Lademöglichkeiten und auch genereller Argwohn gegenüber der neuen E-Technologie. Zu den motivationalen Treibern zählten unter anderem der Klimaschutz oder der Spaß am Fahren mit E-Autos. Und: Ein Neuwagenerwerb sollte in absehbarer Zeit anstehen, da es nahezu keinen Gebrauchtwagenmarkt für E-Autos gab.
Im Rückblick lagen die in unserer Studie geschätzten Absatz-Zahlen mit einigen (wenigen) 100.000 E-Autos – wenn auch von Jahr zu Jahr steigend – weit entfernt von politischen Absichten und medialen Headlines. Unsere Prognose stellte sich aber für die jeweiligen Folgejahre bezogen auf alle Kfz-Zulassungen als guter und realistischer Schätzer heraus. Dies sogar in einem hochdynamischen Marktumfeld, in dem einerseits der Staat Kaufentscheidungen mit Prämien und Steueranreizen mit der Brechstange zu ändern versuchte; andererseits die Corona-Pandemie zu massiven Störungen bei der Verfügbarkeit führten.
Mit solchen konservativen Prognosen und dem Hinweis auf sich oft nur langsam ändernde Konsumpräferenzen bezüglich der Nachhaltigkeit löst man sicherlich keine Begeisterung aus, bedient weder politische noch mediale oder unternehmerische Hypes und Wunschwelten.
Eine „Hurra-Marktforschung“ nützt für strategische Entscheidungen aber nichts. Vielmehr hilft ehrliche Marktforschung, sich realistisch auf Entwicklungen einzustellen, adressierbare Barrieren und nutzbare Treiber zu identifizieren und begrenzte Ressourcen sinnvoll einzusetzen.
Nachhaltigkeitsforschung sollte lösungsoffen und vorurteilsfrei sein
Ehrliche, professionelle Forschung sollte zudem offen gestaltet werden. Denn politisch und medial werden Lösungen oft vorschnell eingeengt. So wird beispielsweise im Elektroauto-Markt den Plug-In-Hybriden nach kurzer Zeit schon wieder der Förderungsstecker gezogen. Obwohl diese mit Blick auf den Netto-Verbrauch an Ressourcen und Energie sowie die Käuferakzeptanz eine strategisch schlaue Technologie sein könnten (ebenso wie, zumindest übergangsweise, synthetische Kraftstoffe). Zumal wenn man Wert legt auf die zügige Reduktion fossiler Energie für Individualmobilität in der Breite. Immerhin zeigt sich bei latent für E-Mobility affinen Autofahrern auch vergleichsweise mehr Kaufinteresse an Plug-In-Hybriden als an Voll-Elektro-Pkws (64% vs. 52%).
Ein bewusst plakativ gewähltes Beispiel für offene Forschung sind auch die Energieträger.
Aktuell schiene es in Deutschland geradezu absurd und marktfremd, Stromtarife aufzulegen, die siegelbeglaubigt auf 100% Kernenergie beruhen. Als Denkanstoß stellen wir uns ein Startup vor, das überzeugt ist, nur mit Kernenergie eine rasche Reduktion des CO2-Ausstoßes bewirken zu können. Ein Blick über den Tellerrand – auf neu geplante Kernkraftwerke weltweit und technische Weiterentwicklungen sowie mit dem oft ernüchternden Blick auf die deutsche CO2-intensive Strom-Realität auf Electricity Maps (https://app.electricitymaps.com/zone/DE) – zeigt, dass diese Idee zumindest nicht verrückt ist.
Offen und seriös geforscht kann man die Frage der Akzeptanz und Ablehnung aller relevanten Energieträger konkret beantworten: So stagniert die Präferenz für Sonne und Wind bei Energiekunden aktuell auf hohem Niveau, Erdgas hat als Energieträger trotz der verstörenden Marktentwicklungen in 2022 kaum gelitten, und Kernenergie ist in 2023 erstmals wieder populärer als Kohle. Aktuell 29 Prozent der Energiekunden lehnen die Kernenergie als Energieträger grundsätzlich in ihrem Strommix ab (Anfang 2022: 36%). Mit 13% positiven Einstufungen in der Kano-Analyse ist sie jedoch weiterhin weit entfernt davon, auf breites Interesse zu stoßen. Zum Vergleich: gute 40% wünschen sich Wind- oder PV-Strom in ihrem Strommix. Für ein Nischenprodukt unseres gedanklichen Start-ups wäre das heutige Potenzial aber allemal tauglich.
Marktforschung sollte sozial und ökonomisch ausgewogen forschen
Oft dreht sich in der Marktforschung vieles ums Geldausgeben. Optimierungen und Innovationen von Produkten und Dienstleistungen sollen den Konsum im weitesten Sinne ankurbeln bzw. steigern. Vielleicht, wenn nicht sogar wahrscheinlich, muss sich die Marktforschung mit Blick auf Marketing und Produktentwicklung zukünftig aber stärker auch mit dem Managen sinkender Konsumausgaben beschäftigen.
Die schon seit 2021 schnell steigenden Preise, insbesondere auch bei Energie und Nahrungsmitteln, haben weitreichende Folgen für nachhaltiges Verhalten – und zwar unabhängig von der Einstellung, nachhaltig konsumieren zu wollen.
So senkt sinkende Kaufkraft zwangläufig den Konsum und den ökologischen Footprint. Mit nachhaltigem Wollen hat dies freilich nichts zu tun, wenn fast die Hälfte der Bundesbürger ihren Konsum einschränken wollen. Gleichzeitig steigt zudem die Wahrscheinlichkeit, dass ökonomisch knallhart kalkulierte – und damit ökologisch und sozial oft weniger nachhaltige – Güter gekauft werden. In unserer Studie zur Nachhaltigkeit aus der Trendmonitor Deutschland-Reihe hat Liesa Fiegl ermittelt, dass aktuell Anfang 2023 nur noch 48% beim Kauf von Nahrungsmitteln auf deren Nachhaltigkeit achten (2021: 59%).
Sozial nachhaltige Marktforschung sollte sich daher bewusst auch mit sozioökonomisch schwächeren Gruppen beschäftigen, auch wenn Auftraggeber (zumindest zunächst) häufig weniger Interesse an diesen haben.
Die schönen Bilder in Werbung und News suggerieren allzu oft große moderne Häuser, in denen es dank Wärmepumpe und moderner Dämmung wohlig warm zugeht. Ein E-Auto in der Einfahrt gehört natürlich mit zum guten Ton, ebenso ein mit Öko-Lebensmitteln reich gedeckter Tisch.
Zur gesellschaftlichen Realität gehören nicht nur „auch“, sondern „vor allem auch“ Konsumentengruppen wie Clevere-Trickser und Passiv-Verunsicherte (in Summe 50% Bevölkerungsanteil, siehe dazu auch die Studie „Konsumklima in der Zeitenwende“). Diese leben vermehrt mit finanziellen Einschränkungen, gehen mit diesen kreativ (Clevere-Trickser) oder eher hilflos (Passiv-Verunsicherte) um.
Auch diese Konsumentinnen und Konsumenten haben den Wunsch, nachhaltig(er) zu leben. Wenn es den Unternehmen mit Nachhaltigkeit ernst ist, dann geht es im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten darum, nachhaltige Angebote für jeden Geldbeutel zu schaffen. Das ist die wahre Herausforderung. Darin liegt echte Verantwortung. Erst so kann Nachhaltigkeit mehr als Luxus werden. Mehr als nur das Bedienen spezieller und oft kaufkräftiger Zielgruppen.
Wir, die Marktforscherinnen und Marktforscher, können unaufgeregt und konstruktiv dafür sorgen, dass Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit ehrliche, ergebnisoffene und handlungsrelevante Entscheidungsgrundlagen erhalten – und keine Hurra-Marktforschung. Im Idealfall fördert dies dann auch substanzielle unternehmerische wie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Innovationen!
Über die Person
Thomas Donath (Diplom-Psychologe) ist einer der Managing Partner im Marktforschungsinstitut NORDLIGHT research, das er 2007 gemeinsam mit zwei Kollegen gegründet hat. Zuvor war er im Kölner Marktforschungsinstitut psychonomics in der Projektleitung sowie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in der psychoakustischen Grundlagenforschung tätig. Sein heutiger Arbeitsschwerpunkt ist die Customer Experience-Forschung. Seit rund fünfzehn Jahren publiziert er Studien, die sich immer wieder mit... mehr
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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