Martins Menetekel Möglichkeiten und Grenzen einer Prognose

Wir hatten gesehen, dass Wachstumsprozesse grundsätzlich mit irgendwelchen Kombinationen von Exponentialfunktion beschrieben werden müssen. Wir benötigen am Anfang asymptotisches Anwachsen von 0 bis zu möglicherweise sehr hohen Werten. Dieses Wachstum muss aber stets langsamer werden und die Zuwächse pro Tag kleiner. Das Wachstum nennen wir dann limitiert und berücksichtigen den Limitierungsfaktor L in der Formel M’(t) = k*M(t)*(1 - L*M(t)) . Wenn M(t) wächst, nähert sich L*M(t) der 1 und die Klammer wird 0. Damit ist M’(t) = 0 und das Wachstum kommt zum Stillstand. Der Grenzwerten M(t) ist S = 1/L . M(t) als Lösung der Differentialgleichung M’(t) = k*M(t)*(1 - L*M(t)) heißt Verhulst-Funktion. Sie soll die Fallzahlen N(t) der Pandemie in einem möglichst langen Zeitraum approximieren und Prognosen für zehn bis 14 Tage oder länger ermöglichen. M'(t) ist eine Glockenkurve.
Unsere Fallzahlen tun uns nicht diesen Gefallen, sich über die gesamte Zeitdauer der Pandemie so zu verhalten.


Die Fallzahlen sehen aus wie eine Wasserrutsche in mehreren Stufen, wir sind in der zweiten Stufe. Die Grafik für die Ableitung zeigt, dass die erste „Glocke“ um den 10. Juni vorbei war, dann kam die „Tönnies“-Delle, und seit dem geht es in mehreren Stufen bergauf. Noch ist kein Beginn der Wasserrutsche ganz oben zu sehen.
Wie konnte das kommen?
Zum einen haben die Aufhebungen der strengen Restriktionen die Parameter der Pandemie verändert, dann müssen sich auch A, b und S mit ändern, sie wurden alle größer,
Wir haben auf die alte sehr gute Annäherung bis Mitte Juni einfach eine neue Zeitreihe gesetzt, die wir approximieren werden. Nur ist das derzeit noch nicht stabil, da immer noch neue Viren in den Prozess eingeschleust werden. Man weiß noch nicht, für welchen Zeitraum die neue Verhulstfunktion erstellt werden kann, 2ln(N(t) - ln(N’(t) ist noch keine nach oben gehende Gerade.
Hier eine neue Referenzkurve, die für den Zeitraum 3. bis 24. September erstellt wurde.

Sgesamt hat sich mächtig vergrößert, fast 500.000 zu erwartende Fallzahlen. Ich hoffe, die blau unterbrochene Fallzahlenkurve überlegt es sich anders und bleibt auf Dauer darunter.
Was sagen uns die aktuellen Zahlen?
Es wird gerne gefragt, ob die Beschränkung auf die gemeldeten Fallzahlen sinnvoll ist. Sie steigen zu stark, aber noch ziehen die Schwerkranken- und Todesfälle nicht nach. Die sind noch sehr in der Nähe der Nulllinie. Ich habe deswegen angefangen, auch die gemeldeten Todesfälle einzupflegen, sie zu glätten und sie in Relation zu allen Fällen, zu den Zuwächsen und zu den Zuwächsen vor 2 Wochen zu setzen. In etwa 3 Wochen kann ich die Zeitreihe auswerten.
Dennoch geben uns die Fallzahlen viel Information. Wir können sehen, in welcher Phase sich der Prozess der Ausbreitung der Pandemie befindet, ob er stabil limitiert wird oder ob sich k und S vergrößern. Wenn sich nur S vergrößert, zeigt das an, dass Viren von außen in den Prozess eingetragen werden. Wenn sich k vergrößert, hat das Virus Zugang zu mehr Opfern.
Möglichkeiten und Grenzen einer Prognose
Mein Ziel: Wie kann ich einen Zufallsprozess wie die Verbreitung der Pandemie in Deutschland mathematisch beschreiben und wann kann ich welche Prognosen über ihren zukünftigen Verlauf mit welcher Gewissheit berechnen? Andere müssen die Relevanz dieser Daten in Relation zu Todesfällen oder Erkrankten mit schweren Symptomen bewerten.
Natürlich hängen die gemeldeten Fallzahlen auch von der Anzahl der Tests ab. Aber man hat auch deswegen mehr getestet, weil es mehr Infizierte mit Symptomen gab. Ich bin mir ziemlich sicher, dass heute ein sehr hoher Prozentsatz aller Infizierten erfasst wird, er wird höher sein, als im März/April.
Mein Blog soll aber kein Ersatz für eine Diskussion sein, ob und wie die Daten zu interpretieren sind. Natürlich muss man die derzeitigen Fallzahlen und ihre Zuwächse in Relation zu der Anzahl der Tests setzen. Darüber habe ich keine Daten. Die Anzahl der Tests ist sicher nicht die letzten Monate exponentiell gestiegen, die Fallzahlen aber schon, noch ist kein Wendepunkt in Sicht.
Über den Autor
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.
Hier geht es zu den bisherigen Beiträgen von Martin Lindner:
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