Dr. Michael Bartl, Tawny Mit Vision AI die Customer Experience entschlüsseln

Herr Bartl, wie kann Tawny mit Hilfe von KI und Computer Vision Emotionen messen?
Michael Bartl: Computer Vision oder Vision AI beschäftigt sich im Wesentlichen mit der digitalen Auswertung von Videomaterial und Kamerabildern. Dabei können vielfältige Objekte und deren Veränderungen automatisiert und rund um die Uhr erfasst werden. Man denke beispielsweise an Sicherheitsanwendungen wie die sogenannte „Leakage Control“, mit der Flüssigkeitsaustritt bei Industrieanlagen in der chemischen Produktion frühzeitig erkannt werden kann.
Mit dem Unternehmen TAWNY haben wir uns wiederum darauf spezialisiert, alles zu erfassen und zu erforschen, was mit dem auf Video abgebildeten Menschen zu tun hat. Menschliche Emotionen – als wichtigster Treiber der Customer Experience – erfassen wir durch die Analyse der Facial Expressions, auch bekannt als Facial Coding. Basierend auf Grundlagen der diskreten und dimensionalen Emotionstheorie haben wir spezialisierte Datensätze und eigene Algorithmen entwickelt, die es ermöglichen Emotionen besser, schneller und günstiger als bisher zu klassifizieren. Die Messung berücksichtigt nicht nur subtil zum Ausdruck gebrachte Emotionen, sie ist auch unter erschwerten Bedingungen sehr robust insbesondere hinsichtlich Beleuchtung, Perspektiven oder Bildqualität. Die TAWNY Technologie ist patentiert und wurde mit dem Preis der Deutschen Marktforschung ausgezeichnet, worauf wir natürlich sehr stolz sind. Neben den Emotionen sind für uns weitere kamerabasierte Messparameter wichtig, um durch Video eingefangene Erlebniswelten und menschliche Situation zu erfassen. Hierzu zählen u.a. Geschlecht, Alter, Atmosphäre (positiv/negativ), Aufmerksamkeitswerte sowie typische und sich wiederholende Bewegungsmuster, deren Erfassung mit Verfahren der Pose und Keypoint Detection erlernt werden können.
Wer sind Ihre Kunden und an welche Insights gelangen diese durch Tawny?
Michael Bartl: Unser Startpunkt für den Einsatz der Technologie war die Markt- und Medienforschung. Viele große und auch kleine Institute sind bereits langfristige Kunden bei uns und setzen unsere Kombination aus webbasierter Emotionserkennung und Eye Tracking ein. Man kann also feststellen, welche definierten Bildschirmbereiche der Proband wie lange fixiert und welche Emotionen durch die gezeigten Stimuli ausgelöst werden. Erforderlich ist lediglich eine Webcam. Für Werbespots haben wir bereits mehrere Zehntausend Benchmark-Werte erhoben. Auch für Trailer, TV-Formate und Plakate wird die Emotionserfassung eingesetzt. Erweitert wurde die Anwendung dann um die Erfassung von emotionalen Reaktionen im Rahmen von qualitativen Interviews.
Nachdem wir uns in der Marktforschungsbranche etabliert hatten, haben uns vermehrt auch Anfragen aus anderen Industrien erreicht. Mit der Deutschen Bahn widmen wir uns derzeit dem Innovationsfeld der Fahrgastzählung 2.0. Auf Basis der in Zügen verbauten Kameras sollen Algorithmen entwickelt werden, die nicht nur die Fahrgäste zählen, sondern auch die Bewegung und Verteilung im Zug, Reisedauer oder Verschmutzung erfassen können. Hierdurch können Verkehrsplanung und Informationssysteme für die Passagiere entscheidend verbessert werden; ein absolutes Muss, das durch die massiv steigenden Passagierzahlen – Stichwort Deutschlandticket – erforderlich wird.
Außerdem arbeiten wir mit einem der großen Eventveranstalter an der Erfassung der Customer Experience bei Großveranstaltungen. Auf Basis handelsüblicher Kameras können sogenannte Crowd Analytics wie Besucherzahlen, Aufenthaltsdauer, Stimmung oder Attention erfasst werden. Ähnliches gilt für den Handel: Hier spricht man von Retail Analytics. Zentrale Voraussetzung für alle Anwendungen außerhalb des Marktforschungsbereiches, bei dem die Einwilligung der Versuchsperson abverlangt wird, ist die Entwicklung von datenschutzkonformen Lösungen.
Wie kann man sich datenschutzkonforme Lösungen vorstellen?
Michael Bartl: Das ist im Moment ein wirklich heißes Thema, da weltweit übliche State-of-the-Art-Lösungen für Crowd Analytics tatsächlich den europäischen Datenschutzvorstellungen zuwiderlaufen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der DSGVO, und in absehbarer Zeit auch des AI-Acts der Europäischen Union, haben zur Konsequenz, dass technologische Anpassungen entwickelt werden müssen.
Grundsätzlich haben Unternehmen die Rechtmäßigkeit einer Verarbeitung personenbezogener Daten nachzuweisen. Sollte über Kameras beispielsweise das Gesicht von Personen erfasst werden, handelt es sich um ein biometrisches Datum. Dieses gehört nach Art. 9 DSGVO zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten und diese dürfen nach Absatz 1 der Vorschrift grundsätzlich nicht verarbeitet werden. Von diesem generellen Verarbeitungsverbot für die biometrischen Datenkategorien sieht Absatz 2 spezifische Ausnahmen vor, die auch in Positionspapieren der Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder erörtert werden. Dient der Zweck nicht der potenziellen Wiedererkennung von Personen und findet die Datenverarbeitung in einem geschlossenen System ohne Zugriffsmöglichkeit und ohne, dass die zugehörigen Videodaten gespeichert werden, statt, so kann eine Ausnahme begründet werden.
Kurz zusammengefasst ist unser Ziel technische Neuerungen im Bereich der Objektdeskriptoren und Anonymisierungsverfahren zu entwickeln, die eine Erfassung der CX-Parameter bei gleichzeitiger Einhaltung der Datenschutz- und Ethikstandards ermöglichen. Datenschutz wird für uns somit zu einem Feature statt Hindernis.
Was glauben Sie, wie hat Ihre Art der Insightsgewinnung die Marktforschungsbranche verändert und wird sie es in Zukunft noch tun?
Michael Bartl: Wir verstehen uns als Technologieanbieter, der Marktforscher(innen) neue Werkzeuge an die Hand gibt, ihre Arbeit besser und schneller zu erledigen. Die Entwicklung der Tools hat sich in den letzten Jahren in Bezug auf Praktikabilität, Messgenauigkeit und Einsatzaufwand exponentiell entwickelt. Möglich gemacht hat das der Einsatz von KI. Dies trifft auf die Emotionsmessung genauso zu wie auf Generative AI. Aufgrund der häufig zitierten hohen Anspruchshaltung der Marktforscherzunft wurde in der Vergangenheit bei Neuentwicklungen meist zu lange abgewartet, bis Lösungen ausprobiert und weiterentwickelt wurden. Man denke nur an die Nutzung von Online Communities oder Co-Creation Formaten, die sich heute breiter Anwendung in der Marktforschung erfreuen, zu Beginn allerdings mit riesigen Akzeptanzwiderständen zu kämpfen hatten.
Künstliche Intelligenz wird der Marktforschung in Zukunft noch viele Anwendungsfelder aufstoßen. Beispielsweise Echtzeitmarktforschung durch vorhandene Sensorik – Kameras sind hier nur ein Beispiel von vielen – oder synthetische Probandengruppen, die es teilweise nicht mehr erforderlich machen, Panels einzusetzen, da mit Hilfe von KI menschliches Antwortverhalten imitiert wird. Über ChatGPT können heute bereits große Teile der Communityanalyse in Sekunden durchgeführt werden. Naturgemäß wird der Druck auf Marktforschungsunternehmen steigen in Neuentwicklungen von Verfahren, Methoden und Technologien zu investieren und diese selbst mitzugestalten, bevor Quereinsteiger aus benachbarten Industrien die Bedürfnisse der Corporates nach immer detaillierteren Kundeninsights bedienen werden. Das würde ich allerdings nicht als negative Vorschau, sondern eher als sehr positiven Blick auf die hohe zukünftige Attraktivität des Berufsbildes der Markt- und Medienforschung einordnen.
Über die Person
Dr. Michael Bartl ist Gründer und Geschäftsführer des Emotion-AI-Start-ups TAWNY (tawny.ai) und Vorstand der Hyve Unternehmensgruppe für Innovation. Zuvor war er bei der Audi AG im Bereich der Entwicklung tätig. Seine Promotion und Wirtschaftsstudien schloss er in London, München und an der WHU ab. Von 2011 bis 2014 wurde er zum Bundesvorstand des Berufsverbands Deutscher Markt- und Sozialforscher gewählt. In 2012 erfolgte die Berufung zum Senator in den Senat der Wirtschaft. Seit 2019 ist er... mehr
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