Martins Menetekel „Mit exponentiellem Wachstum ist nicht zu spaßen“ – Zum Abschluss der Corona-Kolumne von Martin Lindner

In über 80 Kolumnen hat Prof. Martin Lindner über die Mathematik der Corona-Pandemie geschrieben. Die erste Kolumne erschien im August 2020. Seine Analysen waren zunächst sein Versuch, die Pandemie überhaupt zu verstehen. Lesen Sie in seinem letzten Text, was er selbst in den zwei Jahren gelernt hat, welche drei Wünsche er für die Zukunft der Pandemiebekämpfung hat und warum Politiker mathematische Erkenntnisse so schwer in ihr Handeln einbeziehen können.

Lieber Herr Lindner! Ihre erste Kolumne erschien am 18.08.2020. Seitdem haben Sie zunächst wöchentlich, dann zweiwöchentlich über die Mathematik hinter der Corona-Pandemie geschrieben. Das sind mittlerweile 86 Texte, die Sie alleine bei marktforschung.de veröffentlicht haben.

Martin Lindner: Das hat mich selbst überrascht, dass ich es so lange durchgehalten habe.

Ich hatte im März schon mit den ersten Auswertungen begonnen, zuerst nur für mich, dann fand ich die Ergebnisse so interessant, dass ich sie einem E-Mail-Verteilerkreis zugeschickt habe. Darunter war auch der Ihnen wohlbekannte Professor Müller-Peters. Er ist verantwortlich, dass meine Beiträge auf marktforschung.de veröffentlicht wurden.

Ich hatte dabei zwei Ziele:

Einmal den, die Verbreitung der Pandemie wirklich zu verstehen.

Kann ein von so vielen Zufällen bestimmtes Ereignis überhaupt modelliert werden? Und wenn ja, mit welchen Implikationen für das Verhalten der Verantwortlichen in Politik und im Gesundheitswesen?

Die vielen Lesermeinungen dazu waren sehr aufschlussreich, wie skeptisch Nichtmathematiker statistischen Methoden gegenüber sind. Marketing-Experten sind damit allerdings sehr viel vertrauter.

Zweitens wollte ich wirklich zeigen, wie nützlich es ist, mit nicht viel mehr als der Schulmathematik solche empirischen Auswertungen zu und damit Neugier auf mehr Mathematik zu machen.

Wie haben Sie es geschafft, so lange durchzuhalten?

Martin Lindner: Das ist wie mit dem alten Grubenpferd. Einmal angefangen, gewöhnt man sich daran und macht aus Pflichtbewusstsein weiter, auch wenn es mir am Anfang nicht immer schmeckte. Manche Leser haben sich sofort beschwert, wenn der Beitrag nicht wie am Anfang jeden Tag gekommen ist. So fühlte ich mich auch verpflichtet weiterzumachen.

Was haben Sie durch Ihre fortwährenden Analysen gelernt, bzw. neu verstanden, was Sie noch nicht vorher wussten?

Martin Lindner: Eigentlich alles: Ich habe ja praktisch alle Methoden selbst entwickelt, bin aber kein Analytiker, sondern von Hause aus Algebraiker. So konnte ich im Laufe der über 2 Jahren meine Methoden immer mehr verfeinern. Ich musste auch erkennen, dass das Modellieren Grenzen hatte, deshalb habe ich die Kurven auch nicht mehr Approximationen genannt, sondern Referenzkurven.

Welche Erkenntnis hat Sie besonders überrascht?

Martin Lindner:

Eine sehr betrübliche Erkenntnis war die, dass unsere Politiker vielleicht zu skeptisch zu wissenschaftlichen Methoden und Vorgehensweisen stehen. Es kommt ihrem Denken und Handeln völlig in die Quere, Vorkehrungen für ein nur unter Umständen eintreffendes Ereignis zu treffen.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie versagt hier auch, denn wir können ja die Zeit nicht zurückdrehen, um mit einer anderen Strategie die Pandemie zu bekämpfen. Es sind sehr viele Analogschlüsse – wie war es früher – zu machen. Derartige Begründungen sind praktisch immer angreifbar.

Offenbar wurden aber auch wissenschaftlich absolut saubere Abhandlungen bewusst diffamiert und als falsch bezeichnet.

So wurde es anfangs nicht für möglich gehalten, dass Menschen ohne Symptome ansteckend sein können, obwohl genau diese Beobachtung gemacht wurde, Palmström lässt grüßen.

Falls uns in zwei Jahren eine weitere weltweite Pandemie ereilt: Was würden Sie in Bezug auf Ihre Analysen von vorneherein anders machen?

Martin Lindner: Die Methoden sind jetzt so verfeinert, dass ich nahtlos die Auswertungen neu anfangen und dann weitermachen kann.

Ihre letzte Kolumne klang wenig hoffnungsfroh. Wenn Sie drei Wünsche in Bezug auf die Corona-Bekämpfung frei hätten: Welche Wünsche wären das?

Martin Lindner:

1. Der wichtigste Wunsch wäre, dass man der Bevölkerung reinen Wein einschenkt und ihr mehr und genauere Informationen zumutet.

2. Die politisch Verantwortlichen müssen sich zu einer stringenten Strategie zusammenraufen. Im Coronafall wäre es vernünftig gewesen, sich zum Beispiel den Reproduktionsfaktor als Stellgröße auszusuchen und diesen mit allen (gesetzlich!) möglichen Methoden unter eins zu drücken.

3. Hoffentlich ist es allen klar geworden, dass Bevölkerungsdichte und Mobilität in der heutigen Zeit, wie auch schon im Mittelalter, Pandemien begünstigen. Corona wird nicht die Letzte sein, man sollte für eine eventuell noch schlimmere Epidemie gewappnet sein. Mit exponentiellem Wachstum ist nicht zu spaßen, und wenn man mit den von mir gezeigten Methoden den Erfolg von Gegenmaßnahmen zeitnah beobachtet, bekommt man sehr schnell mit, ob die realen Zahlen unter oder oberhalb der Referenzkurve liegen.

Welches Feld oder Thema werden Sie nach der Corona-Pandemie als Nächstes modellieren?

Martin Lindner: Hoffentlich kommt diese Frage nicht in naher Zukunft. Über allem stand mein Bedürfnis, Mathematik für mehr Menschen attraktiv zu machen.

Wie sagte Einstein: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten
 

Über die Person

Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de