Mirko Lange: "Social Media gibt Marktforschern Gelegenheit, Menschen beim täglichen Leben, Denken und Fühlen zuzuschauen"

Mirko Lange, talkabout communications
Mirko Lange ist Geschäftsführer der talkabout communications gmbh und Spezialist für Öffentlichkeitsarbeit im Web 2.0. Im Interview mit marktforschung.de beleuchtet er die durch Social Media stark veränderten Struktur bei der Meinungsbildung in den Medien und die damit verbundenen Chancen für die Marktforschungsbranche.
marktforschung.de: Als Kommunikationsforscher beschäftigen Sie sich mit Meinungsbildung im Internet. Wie definieren Sie den Begriff "Social Media"?
Mirko Lange: "Social Media" ist ein Sammelbegriff für eine schon fast unüberschaubare Fülle an Internet-Diensten. Ihnen allen ist gemein, dass sich Menschen über sie sehr, sehr einfach im Internet öffentlich mitteilen können, andere Menschen mit gleichen Interessengebieten finden und sich mit denen austauschen. Die wichtigsten sind Blogs, Facebook und Twitter, aber auch YouTube, Xing und Flickr.
Wichtig sind dabei die Worte "öffentlich" und "vernetzt": alle Informationen werden grundsätzlich von Google indiziert und sind somit für jeden auffindbar und sichtbar, und Informationen können sich extrem schnell über Social Media verbreiten.
Social Media ist ein massiver Bruch mit der Historie der Massenkommunikation. Der Zugang zur Massenmedien war früher nämlich nur ganz wenigen offen. Die Produktions- und Verteilsysteme – also z.B.Verlage oder Rundfunkstationen – waren sehr teuer, und deswegen war das eine begrenzte Ressource. Und der Zugang zu dieser Ressource wurde einerseits inhaltlich durch "Gatekeeper" – also Journalisten – kontrolliert, andererseits kostete er viel Geld. Durch das Internet konnten dann schon viel mehr Menschen und Organisationen publizieren, aber es war immer noch aufwändig und kostete Geld. "Social Media" bedeutet im Grunde den enorm einfachen und deswegen faktisch ungeregelten Zugang zu Massenkommunikationsmitteln. Das bedeutet also die weitgehende Zerstörung der alten Funktionsweisen des Mediensystems.
marktforschung.de: Menschen reden heute online: Wie verändern sich die Medien für Meinungsbildung?
Mirko Lange: Man muss zunächst berücksichtigen, dass Massenmedien früher allein schon wegen der "Masse" eine hohe Wirkung auf die Meinungsbildung hatten: "Wenn die das sagen, dann muss es ja stimmen." Aus den oben genannten Zugangsbeschränkungen sind sie aber von Unternehmen und Organisationen bestimmt worden, und damit waren sie tendenziell auch ein ganzes Stück "unnatürlich" - nur in seltenen Fällen haben wirklich "Menschen" gesprochen, also menschlich und persönlich. Das war eine sozial reduzierte Kommunikation, die allerdings auch lange Zeit dem Zeitgeist entsprach: Unpersönliche Sprache stand – gerade in Deutschland – schon immer für Wichtigkeit. Durch die sozialen Medien erlangt nun einerseits "der Faktor Mensch" eine größere Bedeutung: Man will die Meinung des anderen hören und öffnet sich ganz bewusst anderen Informationsquellen als denen, die durch die Industrie oder Medien vorgegeben werden.
Andererseits haben wir aber auch eine enorme Aufsplitterung: Chris Anderson hat dieses Phänomen "Longtail" genannt. Es gibt immer mehr unterschiedliche Produkte oder Meinungen, von denen aber jeweils immer weniger verkauft bzw. gelesen werden. Was wir aus dieser Theorie lernen – auch wenn sie nicht hunderprozentig stimmt – ist, dass trotzdem alle Produkte oder Meinungen eine Relevanz haben. Mit anderen Worten: Wir bekommen eine irrsinnig große Vielfalt im Angebot, verlieren aber dadurch leicht die Orientierung – zumindest so lange, wie man nicht in dem neuen System verankert ist. Die Selektion der Gatekeeper vor der Veröffentlichung wird heute ersetzt durch eine Filterung durch seine "Peer-Groups" von bestehenden Inhalten, also den Menschen, zu denen man öfter Kontakt hat und mit denen man Interessen teilt. Auf einmal definiert man "relevant" anders, und auch die Mechanismen der Reputation verändern sich.
marktforschung.de: Wie würden Sie Menschen, die im Internet ungeniert ihre Meinung kundtun und persönliche Informationen preisgeben, beschreiben? Ist das nur eine Randgruppe oder sind die neuen Kommunikationsformen für alle relevant?
Mirko Lange: Ich muss lächeln, weil die Frage ziemlich manipulativ ist. Warum sollte man sich denn "genieren", wenn man seine Meinung kundtut? Jemandes Meinungen und Erfahrungen sind doch grundsätzlich relevant und wertvoll für andere Menschen, oder nicht? Und was ist gegen "persönliche Informationen" zu sagen? Schließlich: warum wäre man eine "Rand"-Gruppe und nicht beispielsweise eine kleine Gruppe "im Zentrum"? Ich halte "persönliche Meinungen" für ausgesprochen wichtig. Mich interessiert, was Menschen von einem Produkt, einer Partei, einem anderen Menschen halten – und zwar persönlich, nicht das, was sie gelesen haben und nur rezitieren. Achtung, ich spreche nicht von "privaten" oder gar "intimen" Informationen, hier gibt es Grenzen. Und ich spreche nicht von "jeder Meinung". Aber soziale Medien eröffnen gerade die Chance, von denen die Meinung zu hören, die relevant sind. Das mögen nicht alle sein, aber sehr viele. Und ich kann nachfragen. Und sie antworten. Und selten haben sie dabei versteckte Interessen.
Meine persönliche Beobachtung ist, dass es hier tatsächlich eine 90-9-1-Regel gibt, die Jakob Nielsen im Jahre 2006 postuliert hat. Danach tragen 90% in sozialen Netzen gar nichts bei, sondern hören nur zu, 9 Prozent tragen ab und zu etwas bei, und nur 1 Prozent sorgen für den ganzen "Content". Das ist aber nicht nur im Social Web so, sondern in jeder Gruppe. Demnach wird der zur Verfügung stehende Content – der dann die Basis für die Meinungsbildung ist – nur von wenigen Menschen beigesteuert. Aber man kann nicht wegdiskutieren, dass das einen Einfluss hat. Übrigens: Das Phänomen ist nicht anders zu beurteilen als im richtigen Leben auch. In jeder Gruppe gibt es ein paar Menschen, die ihre Meinung sagen, und damit andere Menschen führen. Und es gibt auch Schwätzer. Man muss sie hier wie dort unterscheiden. Und man muss es ins Verhältnis setzen: Vor 20 Jahren wurden die öffentlich zur Verfügung stehenden Informationen von ein paar tausend Menschen bestimmt, nämlich den Medien. Heute sind es "nur" ein Prozent, aber das sind eben in Deutschland rein rechnerisch in der Summe doch 800.000 Menschen. Und wenn man die neun Prozent "Gelegenheitsmitteiler" dazu nimmt, haben wir auf einmal sogar acht Millionen Menschen. Das ist eine dramatische Veränderung, oder?
marktforschung.de: Wissenschaftliches, strukturiertes Vorgehen ist das Credo der Marktforscher. Dagegen sind die Inhalte des Social Web unstrukturiert und chaotisch. Kann man als Marktforscher überhaupt etwas mit den vielen Informationen aus dem Internet anfangen?
Mirko Lange: In meinen Augen ist das Social Web ein hundertprozentiges Abbild des realen Lebens. Oder genauer: Ein Ausschnitt. Wenn Sie das als chaotisch und unstrukturiert bezeichnen, die Marktforschung aber als wissenschaftlich und strukturiert, dann bildet vielleicht die Marktforschung das Leben nicht richtig ab?
Im Ernst: Die Marktforschung hat Methoden gefunden, wie sie das chaotische Leben wissenschaftlich beschreiben und diese Beschreibung strukturieren kann. Solange man sich im Klaren darüber ist, dass man sich über die Beschreibung unterhält, ist das ja auch völlig in Ordnung. Die Herausforderung für die Marktforschung ist, Methoden zu entwickeln, welche in der Lage sind, das Phänomen Social Media zu beschreiben.
Im Grunde ist das aber überhaupt nichts Neues: Auch in der Verhaltensforschung werden ja einerseits Laboruntersuchungen gemacht, um einen einheitlichen wissenschaftlichen Rahmen zu haben, und dann werden die Ergebnisse durch Beobachtungen "in der freien Wildbahn" ergänzt, verifiziert oder falsifiziert. Social Media ist nichts anderes: Marktforscher haben Gelegenheit , Menschen beim täglichen Leben, Denken und Fühlen zuzuschauen. Dabei muss man nur berücksichtigen, dass man besonders den eher extrovertierten Menschen zuschaut und das bei der Beurteilung mit einbeziehen. Aber auch das ist ja nicht neu: Auch in der klassischen Marktforschung hat die Wissenschaft damit zu kämpfen, dass erstens nicht jeder an einer Marktforschung teilnimmt, und dass zweitens das Setup "Marktforschung" notwendigerweise die Antworten beeinflusst. "Struktur" und "Objektivität" sind doch eine Chimäre.
marktforschung.de: Was bedeutet die Tatsache, dass Kunden Erfahrungen mit Produkten in Foren austauschen, Unzufriedenheit in Youtube-Filmen verbreiten und Meinungen in Bewertungsportalen abgeben für die Arbeit im Kundenbindungsmanagement?
Mirko Lange: Unternehmen verlieren die "Kontrolle" über die Meinungsbildung. Sie können sie nicht mehr dominieren. Werbung konnte man kaufen. Gegebenenfalls auch einen Journalisten. Das funktioniert heute alles nicht mehr. Das bedeutet, dass Unternehmen anfangen müssen mitzureden. Wenn man das mit etwas Abstand betrachtet, ist das doch alles ganz natürlich – und eigentlich sogar richtig. Jahrzehntelang hat die Industrie das Bild der Produkte dominiert - durch das Marketing und dadurch, dass sie die Massenkommunikation mitbestimmt haben. Dadurch entstand oft ein unzutreffendes Bild, auch wenn es durch "unabhängigen Journalismus" dann wieder grade gerückt wurde.
Die Menschen setzen jetzt dazu einen Gegenpol. Das Problem ist, dass vielen Menschen dieser Gegenpol authentischer vorkommt. Sie wissen, dass auch das oft nicht die Wahrheit ist, sie vermuten aber hinter diesen Darstellungen keine versteckten Interessen, die der Industrie immer unterstellt werden – zumindest ein kommerzielles Interesse.
Wer als Unternehmen klug ist, wird den Dialog nicht führen als "Marketing vs. Social Media", sondern wird einen echten Dialog führen. Dazu müssen die Unternehmen "auf die Straße" gehen, und dort mit den Menschen sprechen, wo die eben über die Themen sprechen. Und sie müssen sich so verhalten, dass sie auch als Gesprächspartner akzeptiert werden. Zumindest "müssen" sie das, wenn sie an der Debatte teilnehmen, und ihre Perspektive auf die Dinge einbringen wollen. Und man darf auch nicht vergessen, dass es ja im Web nicht nur Schelte gibt: Wir beobachten sehr oft, dass gute Produkte oder Meinungen durchaus empfohlen werden: Und das direkt, ausdrücklich und alles andere als selten. Nach unserer Auffassung gibt es drei Aufgaben: Debatten führen, Fürsprecher generieren und dadurch Werte schaffen. Die Alternative ist, dass die Meinungsbildung immer "unkontrollierbarer" wird.
marktforschung.de: Wagen Sie zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Wird die Marktforschungsbranche durch das Web 2.0 revolutioniert und gänzlich verändert oder entwickelt sie sich in dem Sinne weiter, dass Bewährtes erhalten bleibt und durch Neues ergänzt wird?
Mirko Lange: Eigentlich ändert das Web 2.0 nichts. Es macht nur transparent, was schon immer da war. Durch die enorme Sichtbarkeit drängt es sich allerdings auf. Man kann es nicht ignorieren. Scherzhaft wird heute "ROI" im Zusammenhang mit Social Media schon mit "Risk of Ignoring" übersetzt. Wenn es "die Marktforschung" klug anstellt, bekommt sie durch Social Media eine zusätzliche Perspektive, die ihr hilft, die Welt zutreffender abzubilden. Sie muss im Denken allerdings auch flexibler werden. Offener werden für das eigene "Denken".
Natürlich ist der Vorteil einer rein wissenschaftlichen Ebene, dass man sich rein auf die Zahlen berufen kann – und sich auch ein Stück hinter ihnen verstecken. Es wird Marktforscher geben, die das weiterhin tun werden, und diese werden weiterhin Kunden haben, die sich nur darauf verlassen. Aber es wird auch sehr viele Unternehmen geben, welche die Sache differenzierter betrachten, und durchaus verstehen, dass man Dinge auch inhaltlich beurteilen muss. Letztendlich geht es bei der Marktforschung immer darum, Entscheidungen abzusichern. Die reinen Zahlen waren auch nie hundertprozentig verlässlich. Wenn jemand schlau ist, und ein gutes Gefühl für die Meinungen anderer entwickelt, wird er bessere Vorhersagen treffen können. Das ist die Chance der Marktforschung.
marktforschung.de: Herr Lange, herzlichen Dank für das Interview!
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