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Julia David, Produkt + Markt "Mich hat überrascht, welche Auswirkungen COVID-19 auf unsere Wahrnehmung von Nähe und Distanz hat"

Frau David, wir haben Mitte dieses Jahres mit Ihnen über eine Studie gesprochen, in der Sie untersucht haben, wie Corona nach dem ersten Shutdown das Leben und das Konsumverhalten verändert. Heute, ein knappes halbes Jahr später, gibt's den Nachfolger. Vielleicht bevor wir zum Inhalt kommen: Handelt es sich um eine zweite Welle? Und könnten Sie das methodische Vorgehen bitte umreißen?
Julia David: Ja, es handelt sich in unserer Studie tatsächlich um eine zweite (Erhebungs)Welle, die wir ganz bewusst im dritten Quartal dieses besonderen Jahres 2020 gestartet haben. Wir wollten das "New Normal" nach den Sommerferien abwarten, denn der Start in den regulären Schulbetrieb markierte ein kritisches Ereignis für die Etablierung neuer Tagesroutinen und Verhaltensweisen!
In unserer ethnografisch angelegten Studie sind wir der Frage nachgegangen, was sich zwischen den zwei Befragungswellen im Mai und September wie auch gegenüber der Vor-Coronazeit verändert hat, und wo es wahrscheinlich kein "back-to-normal" mehr geben wird. Dank der mobilen Selbstethnografie sind wir dazu erneut in 25 Haushalte eingetaucht und haben diese jeweils zwei Wochen lang eng begleitet.
Im Mai haben Sie die Teilnehmer etwa zu Tagesstrukturen, Routinen, der finanziellen Situation aber auch zu körperlicher und seelischer Gesundheit befragt. Auf welche Themen haben Sie sich in der aktuellen Folgestudie konzentriert?
Julia David: Der Deep-Dive in Emotionen, aktuelle Lebenssituationen und Routinen, die finanzielle Situation sowie das Einkaufs- und Shoppingverhalten in den Haushalten war auch dieses Mal ein großes Thema. Darüber hinaus haben wir uns verstärkt mit Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen für Unternehmen, den persönlichen Wünschen für die Zukunft sowie dem Ausblick auf das Weihnachtsgeschäft beschäftigt, da wir hier interessante und aufschlussreiche Insights erwarteten.
Könnten Sie die wichtigsten Ergebnisse mal für uns zusammenfassen?
Julia David: Corona hat das Leben und Verhalten der Menschen heftig durcheinandergewirbelt. Selbst bei systemrelevanten Berufsgruppen oder Rentnern und Pensionären ohne Einkommensverluste haben das Maskentragen und die soziale Distanz Spuren hinterlassen und zu Verhaltensänderungen geführt. Teilweise ist den Menschen dies gar nicht so bewusst – es war ein eher schleichender Prozess, der sich aber durch das zweimalige Eintauchen in dieselben Haushalte sehr klar herauskristallisierte.
Welche Ergebnisse haben Sie überrascht, welche konnte man vielleicht mutig prognostizieren; welche Ihrer Einschätzungen aus unserem letzten Interview haben sich vielleicht bewahrheitet?
Julia David: Mich hat tatsächlich sehr überrascht, welche Auswirkungen COVID-19 auf unsere Wahrnehmung von Nähe und Distanz hat, denn unsere Distanzzonen haben sich durch die Pandemie stark verschoben. Das Phänomen der Distanzzonen aus der Psychologie besagt, dass wir je nach Vertrautheit mit einer Person eine gewisse Distanz als angenehm empfinden. So fühlen wir uns z. B. bedrängt oder sogar bedroht, wenn uns jemand zu nahekommt. Die durch COVID-19 eingeführten Abstandsregeln haben dieses Distanzgefühl nun völlig neu definiert. Insbesondere der nun vergrößerte Raum in der "sozialen Distanz" hat Auswirkungen auf viele unserer Lebensbereiche und damit Verhaltensweisen – oder würden Sie heute das frühere enge Schlangenstehen an der Kasse oder vor Zugtüren noch als angenehm empfinden? Hier müssen wir zukünftig in vielen Bereichen und Branchen völlig neu denken und Möglichkeiten schaffen, damit wir uns wohl fühlen.
Inwiefern lassen sich die Ergebnisse der beiden Studien sinnvoll miteinander in Beziehung setzen?
Julia David: Das Spannende an unserer zweiten Welle ist, dass wir in dieselben Haushalte wie in Welle 1 eingetaucht sind – so konnten wir Verhaltens- und Einstellungsänderungen im Längsschnitt betrachten.
Wie stark hat uns Corona bislang verändert? Und welche Lebensbereiche sind besonders betroffen?
Julia David: Corona hat uns verändert – in einigen Bereichen weniger, in anderen hingegen sehr stark. Beim Einkaufen und Shopping zum Beispiel haben wir durch den ethnografischen Ansatz deutliche Veränderungen im Verhalten und in den Einstellungen festgestellt: Einkaufen und Shopping im stationären Handel macht keinen Spaß mehr, Besuche in Geschäften vor Ort werden auf ein Minimum in Anzahl und Verweildauer reduziert, entspanntes Shopping oder Bummeln in Innenstädten findet so gut wie gar nicht mehr statt. Stattdessen wird der Online-Kanal genutzt für alles, was nicht Lebensmittel ist. Online wird sich wohl auch der Großteil der Weihnachtseinkäufe abspielen. Lebensmittel sind das Einzige, wo noch Bedenken gegenüber einem Online-Einkauf bestehen und das sensorische Erleben so wichtig ist, dass für diesen Einkauf weiterhin der stationäre Handel präferiert wird.
Bezüglich der finanziellen Situation in den Haushalten hat sich die Lage weiter ausdifferenziert. Trends, die wir Anfang des Jahres schon erkannt haben, haben sich manifestiert: Während einige Haushalte keine finanzielle Einbuße haben, müssen andere Haushalte den Gürtel deutlich enger schnallen. Dies wirkt sich direkt und indirekt wieder auf Ihr Ausgabe- und Anlageverhalten aus und einige suchen nun aktiv nach Einsparpotentiale von Kosten. So werden z. B. überflüssige Verträge gekündigt oder ein Anbieterwechsel in Erwägung gezogen.
Trotzdem leben alle im "Hier und Jetzt" – ein Warten auf "bessere" Zeiten ist nicht der Fall.
Im Grunde hat die Pandemie wie ein "Brand-Beschleuniger" für viele Entwicklungen und Trends gewirkt, die wir in den letzten Jahren schon antizipieren konnten: Die Zunahme des Online-Handels, das Aussterben der Innenstädte, der Trend zum virtuellen Arbeiten, der bewusstere Konsum oder auch die Frage nach der richtigen "Work-Life-Balance und dem, was wirklich wichtig ist im Leben.
Gibt's schon ein Konzept für einen dritten Teil? Was planen Sie als nächstes?
Julia David: Die Insights aus den zwei Wellen waren so wertvoll und haben so tiefe Einblicke in die Haushalte gegeben, dass wir auf jeden Fall mit einer weiteren Welle planen. Diese sehen wir im ersten Quartal nächsten Jahres. Dann wird es spannend zu erfahren, wie unser Haushalte ins neue Jahr gestartet sind und welche langfristigen Verhaltensänderungen sich nun fest im Alltag etabliert haben.
Darüber hinaus werden wir zeitnah noch die Ergebnisse zum Thema "Weihnachtsfest" auf unserer Blog-Seite veröffentlichen. Denn das diesjährige Weihnachtsfest wird laut unseren Insights vor allem nostalgisch, besinnlich und warm. Da in unsicheren Zeiten die Sehnsucht nach Routinen und Vertrautem wächst, erlebt die diesjährige Weihnachtssaison eine starke Rückbesinnung auf Traditionen, den Stellenwert der Familie und den eigentlichen Sinn des "Fests der Liebe". Daher wird dieses Jahr ein festliches Essen und das "Zusammensein" auch deutlich wichtiger sein als Geschenke.
Wir sind gespannt und freuen uns auf unser nächstes Gespräch mit Ihnen. Vielen Dank für Ihre Zeit und die interessanten Einblicke!
Julia David ist Senior Research Consultant bei Produkt + Markt Marketing Research.
Das Interview führte Julian von der Meden.
/mvw
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