Interview mit Lea Thönnes, Aktion Mensch und Matthias Tobies, Ipsos "Menschen mit Beeinträchtigung wissen selbst am besten, wie ihre Realität aussieht"

Ipsos und die Aktion Mensch haben gemeinsam die neue "Teilhabe-Community" ins Leben gerufen. Das Panel besteht aus Menschen mit Beeinträchtigungen und steht seit Anfang 2023 für verschiedene Forschungszwecke zur Verfügung. Circa 900 Personen mit verschiedenen Beeinträchtigungen können zum Beispiel nach guter Barrierefreiheit gefragt werden.

Lea Thönnes (Aktion Mensch) und Matthias Tobies (Ipsos)

Ipsos hat gemeinsam mit der Aktion Mensch eine Teilhabe-Community ins Leben gerufen, um Menschen mit einer Beeinträchtigung eine Stimme zu geben. Was sind die Gründe für Ipsos auf der einen Seite und Aktion Mensch auf der anderen Seite, ein solches Panel zu bilden?

Lea Thönnes: Langsam beginnt sich der Gedanke der Einbindung von Menschen mit Beeinträchtigung, also ihre Partizipation, zu etablieren, beispielsweise in politischen Prozessen oder bei der Planung von Projekten. Doch im Bereich der Markt- und Meinungsforschung fehlte in Deutschland bislang noch ein entsprechendes Panel.

Menschen mit Beeinträchtigung wissen selbst am besten, wie ihre Realität aussieht, was sie brauchen oder was ihnen helfen würde. Und sie wollen gefragt werden.

Sie wollen selbst für sich sprechen. Eine der zentralen Forderungen von Menschen mit Beeinträchtigung ist: "Nichts über uns ohne uns". Man könnte noch ergänzen: "Nichts für uns ohne uns." Dass ihre Meinung zählt, ist sogar ihr gutes Recht, verbrieft in der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Aktion Mensch entwickelt solche Innovationen für eine inklusive Gesellschaft und konnte Ipsos für eine Kooperation zur Etablierung eines Panels gewinnen.

Ein derartiges Panel stellt bestimmt auch Anforderungen an die Methodik. Inwieweit müssen die Fragen für die Teilhabe-Community anders gestaltet werden, um die gewünschten Insights zu erreichen? Inwieweit wird “Leichte Sprache” verwendet oder auf barrierefreie Lösungen, gerade für Menschen mit Sehbehinderung wert gelegt?

Matthias Tobies: Uns ist es im Sinne von Inklusion und Teilhabe wichtig, allen Menschen mit Beeinträchtigung die Möglichkeit zu geben, in unserer Community gehört zu werden und auch an Umfragen teilzunehmen.

Bereits in der Entwicklungsphase haben wir auf einen partizipativen Ansatz Wert gelegt. Ko-Forschende, also Menschen mit Beeinträchtigung, haben uns beim Aufbau der Teilhabe-Community begleitet und uns mit wertvollen Hinweisen unterstützt.

Beeinträchtigungen können sehr vielfältig sein. Denken wir an Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung. Hier müssen zum Beispiel Aspekte wie Schriftgröße und Kontraste beachtet werden. Sämtliche Bilder sollten mit alternativen Bildbeschreibungen versehen werden, damit blinde Menschen auch einen Screenreader einsetzen können. Bestimmte Fragebogenelemente, wie zum Beispiel Dropdown Menüs können von einen Screenreader häufig nicht erkannt werden. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung benötigen oftmals Unterstützung durch Leichte Sprache. Die Alternative Leichte Sprache bieten wir schon bei der Registrierung für die Community an und erklären darüber hinaus sämtliche technische Funktionen und Abläufe in Leichter Sprache. Unsere Umfragen bieten wir alternativ in Leichter Sprache an. Hier werden wir durch zertifizierte Agenturen unterstützt.

In Sachen Barrierefreiheit sind wir in regelmäßigem Austausch mit Menschen mit Beeinträchtigung, die uns dabei helfen, unsere Community-Plattform weiterzuentwickeln.

Ein Panel – in diesem Fall die Teilhabe-Community – kann erst zum Einsatz kommen, wenn es einen Auftraggeber gibt. Wie finanziert sich die Community?

Lea Thönnes: Die ersten Projekte hat Aktion Mensch selbst beauftragt. Neben Forschungen zu Teilhabe und Inklusion strebt die Aktion Mensch eine partizipative Entwicklung weiterer Produkte an. Das sind zum Beispiel unsere Kampagnen, aber auch Förderprogramme oder das Serviceportal Familienratgeber. Hierfür bietet die Community die ideale Plattform, mit der passenden Methode die jeweilige Zielgruppe mit einzubinden oder mitwirken zu lassen.

Mittlerweile richten sich auch Aufträge anderer Unternehmen und Forschungsinstitute an die Teilhabe-Community.

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Um welche Themen wird es in den Umfragen in der Teilhabe-Community gehen?

Matthias Tobies: Zunächst einmal ist es uns wichtig, den Community-Charakter aufrecht zu erhalten, deshalb sehen wir unsere Teilhabe-Community nicht nur als reines Panel. Um die Community-Mitglieder von Anfang an einzubeziehen, haben wir ganz zu Beginn die Community gefragt, welche Themen überhaupt von Interesse sind. Am häufigsten genannt wurden Hobbys und Freizeitaktivitäten. Aber auch Themen rund um das Leben mit einer Beeinträchtigung und Barrieren im Alltag haben einen hohen Stellenwert. Darunter ist den Community-Mitgliedern vor allem der Austausch und die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung wichtig.

Die Teilhabe-Community interessiert sich darüber hinaus für Politik und Gesellschaft – vor allem für das Thema gesellschaftliche Spaltung und soziale Ungerechtigkeiten. Aber auch Themen rund um Natur und Umwelt wurden genannt.

Letztlich geht es um Alltagserfahrungen und Perspektiven von Menschen mit Beeinträchtigung. Ich denke an Themen wie Bildung und berufliche Entwicklung, digitale Teilhabe, Freizeit, sportliche Aktivitäten, aber auch an die Verwendung von Konsumartikeln oder die Nutzung von Dienstleistungen aller Art…
Menschen mit Beeinträchtigung wollen und müssen gehört werden, insofern gibt es meines Erachtens. ganz viele relevante Themen und Forschungsmöglichkeiten.

Die Gesellschaft und damit auch die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen verlagert sich mehr und mehr in das Internet. Versprechen Sie sich von Ihrer Teilhabe-Community auch Lösungen für die digitale Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigung und wie kann die aussehen?

Matthias Tobies: Dies ist ein relevanter Aspekt. Bei digitaler Teilhabe denken wir oftmals an Online-Shopping. Hier können wir natürlich digitale Angebote wie Apps oder Webseiten hinsichtlich der Barrierefreiheit innerhalb der Teilhabe-Community testen. Ein anderer Aspekt ist die Entwicklung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz. Anwendungen künstlicher Intelligenz können den Alltag von Menschen mit Beeinträchtigung erheblich erleichtern – so zum Beispiel Smart Home Lösungen verbunden mit Sprachassistenzen oder auch KI-gestützte Leitsysteme im öffentlichen Raum. Aber man muss die einzelnen Bedarfe solcher Anwendungen genau kennen – unsere Community-Mitglieder können mit Sicherheit wertvolle Insights geben.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Kontakt zu Behörden und Ämtern, den Menschen mit Beeinträchtigung sehr oft haben. Auch hier würden digitale Angebote wie zum Beispiel Antragstellung, Beratung und Informationen das Leben von Menschen mit (und natürlich auch ohne) Beeinträchtigung erheblich erleichtern.
Wir testen bereits regelmäßig digitale Angebote innerhalb unserer Community online. Es ist darüber hinaus aber auch möglich, gezielt Menschen mit Beeinträchtigung zu Offline-Aktivitäten, also direkt zu Tests, Fokusgruppen und vielem mehr. vor Ort einzuladen. Allerdings muss hier immer berücksichtigt werden, dass dieser Personenkreis häufig in der Mobilität sehr eingeschränkt ist.

Das Spektrum der Beeinträchtigungen bei Menschen ist weit und vielfältig. Das stellt bestimmt eine gewisse Herausforderung an die Zusammenstellung des Panels oder der Teilhabe-Community. Wie gehen Sie da vor bei der Zusammensetzung des Panels?

Lea Thönnes: Genau dieses Spektrum möchten wir möglichst auch in unserem Panel abbilden. Denn jeder Person möchten wir eine stärkere Stimme geben, die in der Gesellschaft durch ihre Beeinträchtigung auf Barrieren stoßen oder gar in ihrer Teilhabe ausgeschlossen sind.

In vielen Fällen stellt die Beeinträchtigung kein Hindernis dar, um sich in unserer Community zu registrieren – wir haben Wert auf eine möglichst barrierefreie Gestaltung gelegt.

Personen, die nicht über übliche Rekrutierungskanäle, wie Social Media, erreichbar sind, können wir über andere Wege erreichen. Die Möglichkeiten haben wir da über unsere Mitglieder, die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Über diesen Weg können wir die Zielgruppe direkt erreichen. In Workshops zur Teilhabe-Community können wir der Zielgruppe unser Anliegen näherbringen. Multiplikatoren unseres Anliegens sind beispielsweise Einrichtungsleitungen des stationären Wohnens und betreuendes Fachpersonal.

Apropos Barrierefreiheit. Das Unternehmen McKinsey und die Beratung für Barrierefreiheit Tilting haben in einer Studie neulich dargestellt, dass für sehbehinderte Menschen die Barrierefreiheit entlang der Customer Journey nicht gewährleistet ist. Das gilt bestimmt auch für Menschen mit anderen Beeinträchtigungen. Kann Ihre Teilhabe-Community ein Schritt hin zu mehr Barrierefreiheit für die Customer Journey sein und damit für die Customer Experience (Kundenerlebnis) für Menschen mit Beeinträchtigung, und wenn ja, wie und warum?

Matthias Tobies: Customer Journey ist ein gutes Stichwort. Im Customer Experience Management geht es häufig darum, aus Sicht der Kunden und Kundinnen möglichst reibungslose Abläufe zu gestalten. Dafür muss man allerdings erst einmal verstehen, was die konkreten Anforderungen für Menschen mit Beeinträchtigungen überhaupt sind. Dies beginnt schon bei der Suche nach Produkten, Informationen und Beratung, die Verfügbarkeit bestimmter Produkte und auch die Bezahlvorgänge sind relevant und letztlich natürlich auch Kontaktmöglichkeiten bei Rückfragen oder Reklamationen und vielem mehr.

Menschen mit Beeinträchtigungen stehen teilweise vor Hürden, Barrieren oder benötigen einfach eine besondere Kommunikation bzw. Kundenansprache.

Beispielsweise benötigen Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung eine Audiodeskription bei Werbeinhalten, Menschen mit körperlicher Einschränkung benötigen einen ebenerdigen Eingang ins Geschäft, Menschen mit Hörbeeinträchtigung benötigen Unterstützung in der Kommunikation mit dem Fachpersonal im Geschäft, Menschen mit einer Bewegungseinschränkung der Hände benötigen einfache Klicks und Bedienmöglichkeiten beim Online-Shopping, Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung benötigen einfache und sichere Zahlmöglichkeiten.

Die Teilhabe-Community, bestehend aus Personen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, kann somit wertvolle Insights liefern, um Customer Journeys nicht nur für Menschen mit Sehbeeinträchtigung, sondern auch für die gesamte Vielfalt dieser speziellen Zielgruppe zu verbessern.

Dazu hat die Aktion Mensch kürzlich mithilfe der Teilhabe-Community eine Umfrage zu den Herausforderungen beim Online-Shopping bei Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen durchgeführt, die in Kürze veröffentlicht wird.

Bis zum 28. Juni 2025 müssen alle im Europäisches Gesetz zur Barrierefreiheit festgelegten Zugänglichkeitsstandards in allen EU-Ländern umgesetzt sein. Inwieweit kann die Teilhabe-Community Unternehmen, Einrichtungen oder Instituten helfen, diese Standards zu erreichen?

Matthias Tobies: Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 2025 müssen in der Tat viele Standards hinsichtlich Barrierefreiheit umgesetzt werden. Zunächst geht es erst einmal darum, bei Unternehmen und Institutionen ein Bewusstsein dafür zu schaffen. In Deutschland leben knapp 8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung, hinzu kommen noch diejenigen, die sich nicht amtlich registrieren lassen. Viele dieser Menschen sind auf Barrierefreiheit angewiesen – für sie ist dieses Gesetz gemacht. Auf der anderen Seite eröffnen sich für Unternehmen und Institutionen durch Barrierefreiheit ganz neue Möglichkeiten der Kundenansprache – und da sind wir wieder bei der Customer Experience.

Mit unserer Teilhabe-Community können wir Menschen mit Beeinträchtigung selbst fragen, ob bestimmte Produkte oder Dienstleistungen barrierefrei sind, sie können Dinge testen oder ausprobieren, wir können gemeinsame Workshops durchführen und vieles mehr.

Auch das Konzept eines partizipativen Ansatzes, also die gezielte Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigung in einen Entwicklungsprozess von beispielsweise neuen Produkten oder Angeboten, ist ein wertvolles Konzept, um beim Thema Barrierefreiheit voranzukommen. Wenn Menschen mit Beeinträchtigung von Anfang an bei der Produktentwicklung mitwirken, kann eine barrierefreie Gestaltung des Produkts am ehesten gewährleistet werden. Denn ein entwickeltes Produkt im Nachhinein an barrierefreie Bedürfnisse anzupassen ist ungleich herausfordernder.

Eine Zusammenarbeit wie zwischen Ipsos und Aktion Mensch im Rahmen der Teilhabe-Community sieht man eher selten. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?

Lea Thönnes: Seit einigen Jahren führt die Aktion Mensch in Zusammenarbeit mit Ipsos Forschungsprojekte durch. Neben ihrem Satzungszweck der Förderung von sozialen Projekten hat sie sich dem Ziel der Aufklärung über Themen wie Inklusion und Teilhabe an der Gesellschaft verschrieben. Dafür bedarf es fundierte Kenntnisse zu den Lebenslagen, Bedürfnissen und Wünschen der Menschen mit Beeinträchtigung. Wir fragten Ipsos zur Rekrutierung dieser Personengruppe für eine Umfrage an. Da merkten wir, dass das gar nicht so einfach ist, an diese Zielgruppe heranzukommen. Daraufhin starteten wir zusammen mit Ipsos ein Vorprojekt zur Teilhabe-Community, das wir gemeinsam, also partizipativ, mit Menschen mit Beeinträchtigung als Ko-Forschende durchführten.

Wir erarbeiteten Rahmenbedingungen und Inhalte für eine solche Community, fragten ein generelles Interesse bei der Personengruppe ab. Zudem war eine Bedarfsanalyse bei Stakeholdern und Interessengruppen Teil des Projekts. Weitere Fachexpertise holten wir uns durch die Vorstellung des Konzepts beim 2. Kongress für Teilhabeforschung ein. Erkenntnisse zum Aufbau dieser Community sowie Herausforderungen und Lösungsansätze zur Rekrutierung dieser heterogenen Personengruppe stellen wir im September beim diesjährigen 3. Kongress für Teilhabeforschung vor.

 

Über die Personen

Lea Thönnes ist als Referentin für Forschungsvorhaben und Partizipation bei der Aktion Mensch im Bereich Aufklärung tätig. Als Projektleitung ist sie seitens der Aktion Mensch für die Kooperation mit Ipsos verantwortlich. Ihre Expertise liegt insbesondere in der partizipativen qualitativen und quantitativen Forschung mit Menschen mit Beeinträchtigung. 

Matthias Tobies ist als Senior Consultant bei Ipsos im Bereich Public Affairs in Berlin tätig. Als Studienleiter ist er für die Kundenbetreuung, Konzeption und Durchführung komplexer Studien mit unterschiedlichen Zielgruppen verantwortlich. Seine Expertise liegt insbesondere in der Teilhabe- und Inklusionsforschung mit Menschen mit Beeinträchtigung.

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