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Menno Smid: "Ein wichtiges Ereignis mit nachhaltiger Wirkung auf Fragestellungen und Methoden ist sicherlich die deutsche Wiedervereinigung"
Das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft hat am 5. November im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus sein fünfzigstes Firmenjubiläum gefeiert. Anlässlich der Feierlichkeiten hatte marktforschung.de Gelegenheit zum Interview mit dem heutigen Geschäftsführer Menno Smid.
marktforschung.de: Herr Smid, infas feiert dieser Tage sein fünfzigstes Firmenjubiläum – dazu gratuliert marktforschung.de ganz herzlich! Wofür steht infas aus Ihrer Sicht heute, also nach einem halben Jahrhundert in der Markt- und Sozialforschung?
Menno Smid: infas steht konsequent für die tägliche Umsetzung anspruchsvoller Methoden der empirischen Sozialforschung, der Verkehrsforschung und der Marktforschung – und das stets wissenschaftlich abgesichert und innovativ. Das war schon das Programm der Gründer, die ja so manche bahnbrechende Innovation umgesetzt haben. Sie waren beispielsweise die ersten, die Hochrechnungen in der Wahlforschung machten. Sie haben die Fernsehzuschauerforschung erfunden und lange Zeit betrieben.
marktforschung.de: Die Sozialforschung war von Beginn an wesentlicher Aufgaben- und Themenschwerpunkt Ihres Institutes. Welche gesellschaftlichen Veränderungen haben die Arbeit Ihres Unternehmens am meisten beeinflusst?
Menno Smid: Wenn man in das Archiv des Instituts schaut - was wir anlässlich des Jubiläums auch getan haben - fällt auf, dass früher wie heute zentrale Fragen des sozialen Wandels im Fokus stehen. Beispiele sind: soziale Sicherung, Alter, Familie, Gesundheit, das Verhältnis der Geschlechter, Betrieb und Gewerkschaften, Verkehr oder regionale Differenzierungen. Manche Projekttitel von früher haben nichts an ihrer Aktualität verloren. Ein wichtiges Ereignis mit nachhaltiger Wirkung auf Fragestellungen und Methoden ist sicherlich die deutsche Wiedervereinigung. Lange war die Phänomenologie des Ostens, wie man sagen könnte, ein wichtiges Thema.
Was sich radikal verändert hat, ist der Aufwand und die Akribie, mit der man sich empirisch den angesprochenen Problemkreisen nähert. Konzentrierten sich die Forscher damals auf durchaus überschaubare Befragungen, kommen heute objektive Messungen hinzu. Beispielsweise werden bei Befragungen zum Alter Lungenfunktions- oder Gleichgewichtstests während der Interviewsituation durchgeführt - übrigens mit durchaus hoher Akzeptanz. Zudem ist die Befragungszeit signifikant länger geworden: Interviews, die bis zu 90 Minuten dauern sind heute in der Sozialforschung keine Seltenheit. Und schließlich ist der Zugriff auf Daten der amtlichen Statistik erheblich erleichtert worden. In einem Wort: noch nie waren die Datensätze so komplex wie heute.
marktforschung.de: In den vergangenen Jahren hat sich auch die Marktforschungslandschaft international, aber auch speziell in Deutschland stark verändert – das Internet ist aus dem "Methodenmix" kaum mehr wegzudenken, veränderte Märkte erfordern oftmals eine stark internationalisierte Ausrichtung und der Kostendruck ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise immens gestiegen. Wie begegnen Sie mit infas diesen Veränderungen?
Menno Smid: Zunächst: die Chancen, die das Internet für Befragungen bietet, sind immens. Allerdings sind die Probleme bei Online-Umfragen auch nicht gerade gering. Es gibt keinen gesicherten Auswahlrahmen für die Stichprobenziehung, die Rekrutierungspraxis ist oft dubios und statistisch nicht haltbar. Auch die Befragungssituation und ihr Einfluss auf das Antwortverhalten ist unzulänglich analysiert. In der Konsequenz sind Online-Befragungen ein methodisch eher ungesichertes Gebiet, auch wenn so manche Hochglanzbroschüre versucht, darüber hinweg zu täuschen.
Die Faszination dieses Mediums im Hinblick auf die Schnelligkeit und vor allem die geringeren Kosten überdecken oftmals die noch ungelösten methodischen Probleme. Mich wundert es daher nicht, dass dieses Medium in der Krise tendenziell stärker nachgefragt wird. Die Frage ist, ob man nach einer Erholung wieder zu den gesicherten und auch kostspieligeren Methoden zurückkehrt. Denn nur diese ermöglichen Befunde, die einer kritischen Diskussion beim Kunden standhalten und so wiederum Grundlage für Neuorientierungen sind. Mein Fazit ist daher, auch in diesen Zeiten die objektiv vorhandenen Unzulänglichkeiten dieser Methode nicht auszublenden und verstärkt an den Grundlagen dieser Erhebungsweise zu arbeiten. Das tun wir.
marktforschung.de: Sie haben einen großen Stamm an Interviewern – sowohl für Face-to-face als auch für Telefonbefragungen. Ist die vielfach diskutierte abnehmende Bereitschaft zur Teilnahme an Interviews auch bei Ihnen ein Thema und wie begegnen Sie dieser Problematik?
Menno Smid: Die abnehmende Teilnahmebereitschaft ist nicht zu leugnen. Sie sollte aber dennoch differenziert betrachtet werden, denn sie ist zielgruppenabhängig. Es ist generell wichtiger geworden, Befragten die Bedeutung dessen, was man tut, zu erläutern. Seriöse Forschung – sei es Markt oder Sozialforschung – stößt durchaus auf Akzeptanz, wenn man die Chance erhält, sie zu erklären. Das ist jedoch immer seltener der Fall. Und genau hier ist anzusetzen: durch mehrmalige und wechselnde Kontaktierung, durch Anschreiben im Vorfeld der Erhebung, durch Flexibilität bei der Terminvereinbarung mit Befragten und auch durch Incentives. Da die sinkende Teilnahmebereitschaft potenziell die Datenqualität gefährdet, wird man mittelfristig nicht umhin kommen, bei jedem Projekt grundsätzlich mehrere Kriterien zu prüfen. Neben der Ausschöpfungsquote muss künftig beispielsweise verstärkt die Selektivität einer Stichprobe analysiert werden.
marktforschung.de: Welche Rolle spielt die Datenerhebung via Internet bei infas?
Es handelt sich aus unserer Sicht nicht um einen allein selig machenden Weg. Vor allem im Mix mit angestammten Erhebungsmethoden ist die Online-Befragung eine wertvolle Ergänzung. Allerdings nur bei Grundgesamtheiten, die eine statistisch gesicherte Stichprobe erlauben. Das ist vor allem im B2B Bereich der Fall.
marktforschung.de: Wie beurteilen Sie aus der sozialforscherischen Perspektive das so genannte Web 2.0? Sind die Anwendungen aus dem Bereich Social Media ein überbewerteter Hype oder liegt darin der wegweisende Trend für die Kommunikation in den nächsten Jahren oder gar Jahrzehnten?
Menno Smid: Das, was unter Web 2.0 verstanden wird, hat viele Seiten. Es gibt Aspekte, die Bestand haben und die technische Basis für große Veränderungen sein werden, etwa "Cloud Computing". Andere Umsetzungen werden sich verlieren. Bei einigen widerum ist die Dynamik sehr groß, beispielsweise bei den sozialen Netzwerken, die besonders aus sozialforscherischer Sicht interessant sind. Möglicherweise konstituiert sich Individualität in diesem Kontext völlig neu. Das ist aber noch nicht ausgemacht. Denkbar ist auch, dass sich lediglich der Stammtisch globalisiert.
Unabhängig davon ist grundsätzlich jede Informationsquelle zu einer bestimmten Bevölkerungs- oder Zielgruppe für die Forschung interessant – und damit auch Social Media-Anwendungen. Welchen Erkenntnisbeitrag das Web 2.0 bei sozialwissenschaftlichen Fragen leisten kann, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen. Erfolgsversprechende Anwendungen in der Sozial- und Marktforschung sehe ich derzeit noch nicht.
marktforschung.de: Wie muss die Markt- und Sozialforschung aus Ihrer Sicht darauf reagieren?
Menno Smid: Wie stets: den Sachverhalt zunächst begreifen als eine Facette des sozialen und technischen Wandels und ihn dann empirisch ausleuchten. Die Konsequenzen daraus sind für die Gesellschaft, die Unternehmen und für die Politik sehr spannend. Daraus kann ein weites Beratungsfeld sich ergeben.
marktforschung.de: Nach fünfzig Jahren am Markt: Wo werden die großen Herausforderungen für infas in den kommenden Jahren liegen und worauf freuen Sie sich dabei am meisten?
Menno Smid: Die Herausforderungen habe ich bereits angedeutet. Mittelfristig wird es spannend sein, zu beobachten, wie sich die Krise auf die Branche weiterhin auswirkt. Wird Markt- und Sozialforschung so möglich sein, wie vor der Krise? Ich wage das angesichts der Dimension der Krise zu bezweifeln. Andererseits erwächst daraus eine Aufgabe, die wirklich Freude macht: Nämlich das Institut in diesem sich radikal und schnell ändernden Umfeld zu positionieren.
marktforschung.de: Herr Smid, herzlichen Dank für das Interview!
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