Digitale Transformation der Umfrageforschung „Maschinen werden zunehmend in der Lage sein, komplexere Befragungen zu übernehmen“

Prof. Dr. Tanja Zweigle, Professorin und Autorin des Buchbeitrags „Digitale Transformation der Umfrageforschung“
Frau Zweigle, Sie haben erst kürzlich Ihren zweiten Buchbeitrag zum Thema „Digitale Transformation der Umfrageforschung“ veröffentlicht. Wie hat sich die digitale Transformation auf die Durchführung von Umfragen ausgewirkt?
Tanja Zweigle: Die Digitalisierung hat nahezu den gesamten Forschungsprozess der Umfrageforschung verändert. Mittlerweile sind einige Prozessschritte bereits so erfolgreich automatisiert, dass eine DIY-Umfrageforschung für Nicht-Marktforschende möglich ist.
Computergestützte Datenerhebungen mit ihren spezifischen Fragetypen sowie die digitale Datenanalyse mittels SPSS oder R sind bereits seit Jahrzehnten Bestandteil der Umfrageforschung. Zudem ist die Dashboard-basierte automatische Datenaufbereitung derzeit oft Status-quo. Seit einiger Zeit werden zur Datenerhebung und -analyse spezielle KI-gestützte Tools eingesetzt. Beispiele hierfür sind Emotion AI, die durch automatisierte Gesichts- oder Stimmerkennung den Gefühlszustand der Befragten messen kann, oder auch KI-gestützte Textanalyse-Tools, die offene Antworten automatisiert kategorisieren oder in Echtzeit vollautomatisiert Texte in fremde Sprachen übersetzen.
Infolge der digitalen Transformation können Umfragen heute im Vergleich zu früher deutlich schneller, günstiger, umfassender und in vielen Teilen in Eigenregie durchgeführt werden.
Welche erheblichen Vorteile hat der Einsatz von KI in der Umfrageforschung und welchen Herausforderungen steht die Branche auf der anderen Seite gegenüber?
Tanja Zweigle: Seit einigen Jahren schon optimieren Felddienstleister mittels KI ihre Stichprobenausschöpfung sowie das Qualitätsmanagement. So können beispielsweise Panelteilnehmer mit betrügerischen Absichten mittels speziell trainierter KI-Tools identifiziert und eliminiert werden.
Weitere Vorteile sehe ich beim Einsatz von KI in der kombinierten Datenerhebung und -analyse. Zum einen können Speech2Text- und Text2Speech-Verfahren genutzt werden, um mithilfe von Chatbots oder Avataren Maschine-Mensch-Befragungen durchzuführen. Automatisierte Übersetzungssoftware sowie Text-Mining- und Semantic-Mining-Systeme verhelfen, dass sich Mensch und Maschine „natürlich“ unterhalten. Zum anderen werden durch Emotion AI die Umfrageergebnisse noch authentischer. Denn neben dem tatsächlich Gesagten kann auch das Implizite, das durch die KI gemessen wird, erkannt und interpretiert werden.
Diese KI-basierten Analysetools (Text & Bild-, Sprach- und Emotionserkennung) ermöglichen eine Befragung von Konsumierenden in ihrer natürlichen Kommunikationssituation – das ist fast immer mit dem Smartphone. Daher sollte die Umfrage an das übliche Smartphone-Verwendungsverhalten angepasst sein. So sprechen beispielsweise immer mehr Menschen lieber Nachrichten in den Chat, als diese mit den Fingern einzutippen. Dieses Verhalten sowie die Tatsache, dass bei gesprochenen Texten Befragte deutlich mehr Inhalte liefern als bei geschriebenen Texten, können mittels der KI-Tools berücksichtigt werden. Durch das Speech2Text-Verfahren und anschließende KI-basierte Text- und Sentimentsanalysen können die aufgenommenen Texte automatisiert ausgewertet werden. Zugleich erlaubt eine Stimmanalyse, die Gefühlslage der Probanden beim Formulieren der Texte zu untersuchen. Ebenso können Fotos, die die Probanden etwa für eine „Hausaufgabe“ hochladen, mittels Bildanalyse ausgewertet werden.
Alle soeben skizzierten KI-Methoden tragen dazu bei, dass die standardisierte Befragung für Probanden interessanter wird und zugleich den Marktforschenden mehr Insights für die Interpretation der Daten geliefert werden.
Maschinen werden zunehmend in der Lage sein, komplexere Befragungen zu übernehmen. Vorteile der KI in der Umfrageforschung liegen für Marktforschende dann in der Effizienzsteigerung, in der Kostenersparnis und im Zeitgewinn.
Dabei gilt es natürlich zu beachten, dass die KI-Tools immer nur so gut sein können, wie sie mit bisherigen Daten gefüttert wurden. Die Gefahr, dass die KI aufgrund ihres nicht optimalen Algorithmus‘ zu fehlerhaften Erhebungen und damit zu Fehlinterpretationen führt, ist nach wie vor sehr groß. Auch das Thema „Schutz der personenbezogenen Daten“ stellt eine große Herausforderung dar.
Künstliche Intelligenz stößt gerade mit Blick auf die Abfrage von Emotionen noch an ihre Grenzen. Wie wird damit in der qualitativen Forschung umgegangen? Hängt sie als Resultat hinter der quantitativen Forschung hinterher?
Tanja Zweigle: Die KI hat bei der semantischen Analyse von langen, unstrukturierten Texten nach wie vor große Schwierigkeiten, kontextbasiert den Inhalt richtig zu erfassen. So ist es für sie beispielsweise schwierig zu beurteilen, ob die Aussage „das ist ja lustig“ ironisch gemeint ist oder nicht. Abhilfe könnte die soeben erwähnte Emotion AI bringen, die parallel zu Befragungsdaten den Gefühlszustand der Probanden automatisiert erfasst. Wobei diese derzeit auch von vielen Anwendenden noch als nicht ausgereift bewertet wird.
Eine automatisierte Auswertung und Aufbereitung von klassischen Fokusgruppen und Tiefeninterviews ist meiner Meinung nach derzeit (noch) nicht möglich. Hier sind die Antworten und Dialoge zu komplex, als dass die KI eine geeignete Struktur für sich identifizieren könnte.
Ebenso sind Sentimentsanalysen auf Basis unstrukturierter, großer Datensätze bisher wenig zufriedenstellend.
Was ist für Sie die beste Errungenschaft, die die Künstliche Intelligenz in der Marktforschung bzw. Umfrageforschung hervorgebracht hat?
Tanja Zweigle: Neben der Effizienzsteigerung entlang des Forschungsprozesses ermöglichen die immer besser werdenden KI-Tools in der Verbraucherforschung ein wesentlich intuitiveres Befragen und Beantworten. Zugleich können Biases von der KI erkannt und fehlerhafte Datensätze gekennzeichnet werden. Marktforschende können dank der KI zunehmend beide Denksysteme der Menschen – System 1 und System 2 nach Kahneman – „befragen“.
Bei welchen Prozessen wird der oder die klassische Marktforschende eigentlich noch gebraucht, wenn Künstliche Intelligenz alles übernimmt? Welche neuen Jobs tun sich durch diese Entwicklung auf?
Tanja Zweigle: Meiner Meinung nach sollten Marktforschende bzw. Insights Manager nach wie vor den gesamten Forschungsprozess im Auge haben – zumindest wissen, was in den einzelnen Schritten passiert. Die Digitalisierung und weiterführend die KI führen dazu, dass die routinierten Prozessschritte wie Datenerhebung und -auswertung sowie zum großen Teil auch die Datenanalyse durch die „Maschine“ erledigt werden und der Mensch lediglich die Ergebnisse in den einzelnen Prozessschritten stichprobenhaft überprüft. Hier ist allerdings zu beachten, dass es auch Menschen sind, die die Maschinen trainieren und mit Daten füttern. Ebenso werden Auswertungs- und Analysetools von Menschen entwickelt. Diese Aufgaben werden typischerweise nicht von „klassischen“ Marktforschenden, sondern von Data Scientists übernommen.
Es wird entlang des Forschungsprozesses zu einer Aufgabenteilung kommen. Gefordert ist die Beratungsexpertise des Marktforschenden – vor allem in der ersten und letzten Stufe des Marktforschungsprozesses. Denn zu Beginn des Forschungsprozesses muss die richtige Problemdefinition erfolgen, auf Basis derer das richtige Forschungsdesign ausgewählt wird. Am Ende des Forschungsprozesses geht es um die Interpretation der Forschungsergebnisse und das Ableiten von Handlungsempfehlungen.
In Bezug auf die Jobs im Bereich der Marktforschung zeigt die Prozessbetrachtung, dass diese sehr vielfältig sind und eine Zusammenarbeit von Markt- und Kundenverstehern sowie Maschinen- und Datenverstehern notwendig machen.
Insights Manager und Data Scientisten sollten Hand in Hand arbeiten, um die Chancen der digitalen Transformation in der Umfrageforschung gemeinsam optimal zu nutzen.
Marktforschende sollen durch KI von Routinetätigkeiten entlastet werden und mehr Zeit für Analyse, Insights-Generierung und Beratung haben. Ist das wirklich so, oder muss auch noch viel nachgearbeitet werden?
Tanja Zweigle: Standardisierte DIY-Tools, die bereits vielfach erprobt sind, können Marktforschende erheblich entlasten, sodass sich diese auf Analyse, Insights-Generierung und Beratung der verschiedenen Stakeholder konzentrieren können. Eine Herausforderung bleiben die bereits erwähnten unstrukturierten Daten in offenen Fragen, insbesondere wenn es um klassische qualitative Studien geht. Hier kann die KI wenig Routinearbeiten abnehmen, da diese von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen.
Wie beeinflusst die digitale Transformation die Stichprobenziehung und die Rekrutierung von Umfrageteilnehmern? Was ist dadurch einfacher geworden?
Tanja Zweigle: Im Bereich des Online-Panels beispielsweise können durch die Digitalisierung Fake-Accounts, Doppelt-Account oder auch Teilnehmer mit betrügerischen Absichten etc. schnell erkannt und eliminiert werden. Zugleich wird es aufgrund der KI wesentlich einfacher, digitale Zwillinge zu identifizieren, und zwar nicht nur auf Basis von soziodemografischen Daten, sondern auch auf Basis von Verhaltensdaten.
Aber wenn wir in Bezug auf die Anwendung von KI noch weiterdenken, entfällt teilweise die Stichprobenziehung gänzlich. Das geht so weit, dass Befragungen gar nicht mehr anhand von echten Umfragedaten erfolgen, sondern die KI ermittelt, wie die Antworten zu bestimmten Fragen sein würden. Fraglich ist natürlich, inwieweit Trends oder aktuelle Ereignisse, die bisher nicht im Datensatz vorhanden sind, in der Auswertung Berücksichtigung finden.
Warum stellt das Thema Datenschutz hinsichtlich der Anwendung von KI-basierten Tools eine so große Hürde für die Marktforschung dar? Und wie wird dem entgegengewirkt?
Tanja Zweigle: Bei der Nutzung von KI-Tools wie Emotion AI oder Eye Tracking (Attention AI) werden nicht nur bewusst ausgesprochene Aussagen aufgezeichnet, sondern auch unbewusste Reaktionen, die von der KI erkannt werden.
Zudem ist es der KI möglich, sich auf Basis aller gesammelten Daten einer Person ein konkretes Bild über diese zu machen und basierend auf diesen Daten konkrete Handlungen vorherzusagen. Allein diese Tatsache kann im Widerspruch zum Kodex der Marktforschung stehen – in etwa wenn den Befragten das Ausmaß der Verknüpfung ihrer Daten nicht bewusst ist oder gar diese Daten verwendet werden, um einzelne Personen in ihrem (Kauf-)verhalten gezielt zu beeinflussen.
Daher ist es absolut notwendig, dass Forschende klar und in der Sprache der zu Befragenden aufklären, dass nutzerbezogene Daten erhoben werden und was mit diesen gemacht wird. Darüber hinaus ist es zwingend die Aufgabe der Forschenden, sehr sensibel mit den personenbezogenen Daten umzugehen und sich an den internationalen Kodex der Markt- und Sozialforschung zu halten sowie die Regeln der DSGVO penibel einzuhalten.
Auf welche Entwicklungen dürfen wir uns zukünftig noch freuen? Welcher blicken Sie mit besonderer Neugierde entgegen?
Tanja Zweigle: Ich denke, der aktuelle Hype um ChatGTP und andere KI-basierte Tools zeigt, wohin die Entwicklung der Umfrageforschung weiter hingehen wird. Chatbots und Avatare werden als Interviewpartner zunehmend eingesetzt werden.
Ein weiteres Thema betrifft die Umfragen mittels mobiler Apps und Sprachassistenten, sog. Voice Assisted Interviews, die die Online-Forschung weiter ergänzen und ggf. ablösen werden. Hierfür muss allerdings die Art der Befragung, wie beispielsweise die Abfrage von skalierten Antworten, angepasst werden.
Als Verfechterin der Behavioral Economics finde ich den Einsatz von Predictive-Eyetracking und von Emotion AI sehr spannend: wenn also die KI in der Lage ist, mittels Blick-, Gesichts- und Stimmerkennung oder psychophysiologischer Verfahren auch das Unbewusste der Befragten zu erfassen.

Der Buchbeitrag „Digitale Transformation der Umfrageforschung“ von Tanja Zweigle ist in dem Herausgeberband „Innovatives und digitales Marketing in der Praxis“ erschienen. Die Digitalisierung hat die Umfrageforschung in den letzten 20 Jahren radikal verändert. Das betrifft nahezu alle Teile der Wertschöpfung entlang des Forschungsprozesses. Einige Prozessschritte sind bereits so erfolgreich automatisiert (z. B. Qualitätsmanagement bei Online-Panels, Datenanalyse und -aufbereitung in Dashboards), dass eine Do-it-Yourself-Marktforschung für Nicht-Marktforschende möglich ist.
Über die Person
Prof. Dr. Tanja Zweigle ist Professorin für Allgemeine BWL mit Schwerpunkt Marketing Management an der IU Internationalen Hochschule. Ihre Forschungsinteressen liegen im digitalen Marketing, Marken- und Kommunikationsmanagement, Konsumentenverhalten sowie in der Marktforschung. Daneben berät sie als selbstständige Research- und Insights-Expertin verschiedene Praxisunternehmen. Zuvor war sie in unterschiedlichen Beratungsfirmen in leitenden Positionen tätig. Sie ist persönliches Mitglied im BVM.
Kommentare (1)
Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.
Anmelden