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Begegnung mit künftigen Gelegenheiten Marktforschung und Zukunftsforschung und die ewige Suche nach Orientierung

Oliver W. Schwarzmann, Zukunftsforscher und Publizist
Von Oliver W. Schwarzmann
Am Rande eines Finanzkongresses, der, voll besetzt mit Bankern, Brokern und Börsenanalysten, die Zukunft der Märkte im Schatten der Krise zum Thema hatte, musste ich mir ein wenig Luft verschaffen, trat ins Freie und besah mir die schmucken Automobile auf dem Parkplatz des Veranstaltungsgebäudes. Die Krise scheint endgültig überwunden. Zurück im Vorraum des Vortragssaals, in welchem noch geschäftig die Chancen der Branche hochgerechnet wurden, stellte ich mich alleine, aber nicht undekorativ mit einem Glas Mineralwasser an die mit Werbeprospekten bunt geschmückten Stehtische und hing wahllosen Gedanken nach. Bis ein weiterer Kongressteilnehmer, der wohl auch eine Pause benötigt hatte, auf mich zuging, sich vorstellte und mich im Anschluss des üblichen Gesprächseinstiegsplauschs nach dem Verhältnis zwischen Marktforschung und Zukunftsforschung fragte. Eine Frage, die mir ständig begegnet und meine Antwort darauf ist eigentlich immer dieselbe: Die Zukunftsforschung sucht nach neuen Möglichkeiten, und die Marktforschung zeigt, ob die neuen Möglichkeiten wirkliche Gelegenheiten sind. Gerade als mein Gegenüber zu einer weiteren Frage ansetzen wollte, zwängte sich ein offensichtlicher Kritiker aus Leidenschaft, der auch ganz offensichtlich unser Gespräch belauscht hatte, an den Stehtisch und in unsere Konversation mit seiner lautstark artikulierten Meinung, man könne weder der Marktforschung noch der Zukunftsforschung trauen. Die Marktforschung beschäftige sich lediglich mit momentanen Stimmungen, während sich die Zukunftsforschung in bunten, aber nebulösen Utopien ergäbe. Beides sei, so die kritische Stimme weiter, weder richtig greifbar noch wirtschaftlich, man bekäme ohnehin nichts Stichhaltiges oder gar Bleibendes heraus. Die Kunden seien unberechenbar geworden und schielten letztlich einfach nur nach Preis und Rendite. Auf die Frage, woran er sich denn orientiere und wie er sich auf den Markt einstelle, erwiderte er, dass sein Unternehmen sich auf bewährt Bekanntes verließe und so weitermache wie gehabt - manche mögen dies für antiquiert halten, er nenne es Tradition.
Orientierung aus dem Rückspiegel - im Moment dieses Gedankens wurde mir eines schlagartig klar: Es sind die Stillsteher, an denen wir die Veränderung der Welt erkennen. Genau: Bewegung braucht Stillstand, aus dem sie ja erst ihren Sinn schöpft …
Doch – ist in unserer Welt nicht alles in Bewegung? Vielleicht kommt daher das Gefühl, alles scheint irgendwie stillzustehen …?
Freilich, wir erlebten in 2010 eine BIP-Explosion und 2011 winkt ebenfalls mit weiterem Wachstum, weshalb sollten wir etwas ändern? Schließlich sind Unternehmensgewinne, steigende Börsenkurse und sichere Jobs das Wiegenlied einer durchökonomisierten Welt, das die Ambition zur Erneuerung, zu welcher wir uns in der Krise noch verpflichtet fühlten, deutlich zu übertönen scheint.
Bedeutet Aufschwung in der Wirtschaft aber auch Aufschwung in uns selbst?
Wie steht es mit unserem Zukunftsbewusstsein?
Woran orientieren wir uns?
Was wollen wir aus dieser Welt machen?
Meine Überlegungen erwiderte der Kritiker mit einer abweisenden Handbewegung und verwies darauf, dass diese Zukunftsfragerei etwas für Traumtänzer sei. Es würde ohnehin kommen, wie es eben komme …
In den letzten 15 Jahren, in denen ich mich intensiv mit dem Thema Zukunft beschäftigt habe, bin ich vielen Skeptikern, Kritikern und spöttelnden Zeitgenossen begegnet. Nun, als Person, die sich professionell mit Zukunft beschäftigt, ist man ja auch eine ideale Figur für Polemik. Das kommt nicht von ungefähr - es gibt viele, die die Zukunft für allerlei Geschäfte in Anspruch nehmen: Kaffeesatzleser, Glaskugeldeuter, Sternenorakler, Bausparkassenberater, Versicherungsvertreter, Politiker … Und ich kann nicht einmal mehr den einstigen Seriositätsjoker meiner ehemaligen Bankertätigkeit ziehen - der Imageverfall dieses Berufsstands in den letzten Jahren ist schon beängstigend, noch beängstigender sind dessen Auslöser.
Tja, und zu allem Spekulativen gesellt sich für einen Perspektivensucher wie mich noch der Umstand, dass sich die Zukunft nur schwerlich auf ihren unberechenbaren Zahn der bevorstehenden Zeit fühlen lässt. Das Kommende ist kalkulatorisch schwer zu bändigen, nicht klassisch erforschbar, man kann es nicht zählen, messen, ausgraben oder mit Definitivem erklärungsfest machen. Um dem Künftigen etwas Konkretes zu entlocken, muss man sich mit dem Vagen anfreunden und das Fantastische lieben. Was wir letztlich ergründen können, ist unsere Vorstellungskraft. Die Zukunft bleibt in einer bewegten Welt trotz aller Extrapolationsraffinesse ein Rätsel. Ihre Unergründbarkeit empfinde ich jedoch als Gunst des Schicksals: Erst das Unbekannte ermöglicht Freiräume. Und deshalb hat es mir die Zukunft angetan, für mich ist sie die Summe aller Möglichkeiten. Und das ist es auch, was sich wirklich prognostizieren lässt – Möglichkeiten. Es liegt an uns, aus ihnen Konkretes zu machen.
Nun, wie auch immer, ich stand noch versonnen herum und dabei tauchten vor meinem inneren Auge Sequenzen der erwähnten Begegnungen auf. Es waren bisher schon einige gewesen, vielsagende, erhellende, kritische, produktive, amüsante. Da waren Rückwärtsgerichtete dabei, ebenso Veränderungsumgeher, Orientierungssuchende, Zukunftsablehner, Risikodramatiker, Gegenwartsliebende, Trendsurfer, Mitschwimmer, Abtaucher und Sprüchekünstler. Leider sind mir wenig Beherzte über den Weg gelaufen, die das Leben hingebungsvoll und leichtfüßig führen, als sei es ein leidenschaftlicher Tango. Schade eigentlich, vielmehr gab es jede Menge Hinterherpropheten, die schon immer alles haben kommen sehen und im Nachhinein betonen, zuvor bereits gewusst zu haben, wie denn alles zu verhindern gewesen wäre. Ich frage mich immer: Wo waren die vorher?
Und die Politik?
Mit dieser Frage rissen mich beide Gesprächspartner aus meiner Gedankenwanderung und musterten mich eindringlich, als wollten sie mit dieser Frage einiges über mein Seelenleben erfahren. Trotz des behutsamen, aber engagierten Versuchs, diesem Thema taktvoll und unbemerkt auszuweichen, taucht es mit unglaublich hartnäckiger Konstanz an den Stehtischen dieser Welt auf.
Auch an eben jenem auf dem Finanzkongress.
Tja, und die Politik?
Bietet die Politik Orientierung?
Visionen?
Um unkonkrete Antworten bemüht, schließlich wollte ich mein Seelenleben nicht am Rande eines Bankerkongresses ausbreiten, erzählte ich etwas davon, dass die medienwirksame Zusammenführung von konstruktivem Pragmatismus und mehrheitsfähigen Parteiinteressen wohl keinen Platz lasse für eine wirkliche Orientierungsarbeit. "Das Geschäft der Politik sind effektvolle Interessen", fügte ich dazu an, "keine Visionen".
Visionen, Visionen, von diesem "Zukunftsgesülze" betont gelangweilt, verließ der Kritiker mit einem lauten "Pffff" unsere kurzzeitige Ménage à trois. Doch trotz einer gewissen Erleichterung schwebte die Frage nach der Orientierung weiterhin über Stehtisch und Gespräch.
Was denn mit Prognosen wäre, wollte mein Gegenüber wissen.
"Prognosen sind Politik", bemerkte ich dazu und argumentierte, dass sie entweder genau das verhindern wollten, was sie vorhersagten oder sie stünden im Dienst von Absichten. Und eine vielschichtige und bewegliche Zukunft würde sich ohnehin nicht prognostizieren lassen.
Es entstand eine Pause, die mein Gesprächspartner mit der Frage "Und Trends?" beendete. Trends reflektierten ja das Verhalten der Masse und seien deshalb so etwas wie eine kollektiv gemachte Orientierungsbewegung, zumindest habe er das irgendwo gelesen.
Tja, Trends.
Nein, Trends würden nicht von der Masse gemacht, meinte ich, "sie werden von der Masse übernommen." Je nach Ausrichtung, argumentierte ich dann, also je nach Attraktivität oder Bedrohung handele es sich bei Trends um Lust- oder Angst-Imitationen. Begeisterung oder Befürchtungen übten eine Art Solidarisierungszauber aus. Während diese Erklärung zu meinem Gesprächspartner hinüberzog, stellten sich mir im Nachklang selbst einige Fragen:
Sind Imitate des Angesagten oder die Ausbreitung des Besorgniserregenden überhaupt in der Lage, etwas über die Orientierungskraft einer Gesellschaft auszusagen?
Geht es bei Trends um eine wirkliche Richtungsqualität oder haben wir es mit lose aufblitzenden Life-Style-Moden, spontaner Konsum-Mimikry und unkonkreten Ängsten aus einer allgemeinen, aber nicht fassbaren Unsicherheit zu tun?
Kann es in einer vielseitigen und schnelllebigen Welt überhaupt noch klare, mehrheitliche Richtungen geben?
"Aber was steht schon repräsentativ für eine hochdifferenzierte Gesellschaft?", nahm ich das Gespräch wieder auf und fragte weiter:
"Hat nicht der Massenindividualismus jede Form von Mehrheit beendet?
Zu welchem gemeinschaftlichen Richtungsverhalten ist die Masse aus Individualisten fähig?
Ist nicht die Unterscheidung zum Zugehörigkeitsmaßstab geworden?
Oder suchen wir wieder Gemeinsamkeiten?
Ist das Internet nicht mittlerweile vollgepackt mit der Inszenierung verbindender Bedeutungen?
Ja, und vielleicht ist es auch völlig egal, wohin die Reise geht, Hauptsache der Einzelne ist Teil einer interessanten Bewegung? Mit der er seine Gegenwart füllt, die ohnehin keine Zukunft mehr braucht, weil wir das Jetzt mittlerweile wie einen Ballon der Erlebnisse unendlich aufblasen können … womöglich ist gerade die Nichtorientiertheit ein neuer, tatsächlich zukunftsweisender Trend?" Ich holte tief Luft.
"Ja, aber …", begann mein Zuhörer und trat auf mich zu, " … irgendetwas muss uns doch leiten?"
"Wir werden uns selbst Orientierungsbezüge schaffen müssen", gab ich zur Antwort.
Wie das ginge, wollte er wissen.
Nun, die Orientierung sei keine Antwort, sondern eine Frage, sinnierte ich und sagte: "Orientieren wir uns einfach an Fragen."
"An Fragen?", verblüffte Blicke kamen vom anderen Ende des Tisches herüber.
Wir müssten einfach die richtigen Fragen stellen, nur sie führten uns weiter, antwortete ich und fügte an: "Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen, macht den kreativen und forschenden Menschen aus." Und das beantworte zudem die Eingangsfrage des Gesprächs, fuhr ich fort und meinte: "Die richtigen Fragen zu stellen, ist das wesentliche Element, das Fantasie und Wissenschaft verbindet, also auch die Zukunftsforschung mit der Wirtschaftsforschung."
Mit einem kurzen Nicken und dem Hinweis, er wolle sich nun einen Vortrag über neue Erfolgsregeln anhören, verabschiedete sich mein Gesprächspartner. Ich schaute ihm noch nach - bis er in der Silhouette der Eingangstüre zum Vortragssaal verschwand.
Ja, die richtigen Fragen, das ist es, dachte ich mir.
Aber – was sind die richtigen Fragen?
Mit dieser Frage machte ich mich auf die Suche nach ihnen.
Doch das ist eine andere Geschichte.
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