Fachbeitrag: Dr. Tomas Jerković und Edwin Zijderveld, GIM Marktforschung in Südosteuropa: Das "Research Paradox"

Dr. Tomas Jerković und Edwin Zijderveld, GIM
Viel zu entdecken jenseits der üblichen Märkte!
Der Job des Studienleiters bedeutet nicht zuletzt auch: Reisen - und zwar viel! Locken dabei Megacities, gesellt sich zu der üblichen Spannung auf den forscherischen Teil auch eine besondere Vorfreude. Mumbai, Dubai, New York, Beijing: Das klingt super, auch deshalb hat man diesen Beruf gewählt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gerade in Märkten, die Unternehmen bislang nicht auf dem Forschungsschirm haben, machen wir regelmäßig mindestens ebenso spannende Erfahrungen. Und sammeln bisweilen sogar tiefergehende Eindrücke, sowohl auf der professionellen forscherischen Ebene, als auch im persönlichen Umgang mit den Menschen vor Ort. In diesem Sinne laden wir Sie ein zu unserer Studienreise durch eine Region, die aus Forschungssicht bislang im Schatten der allseits bekannten ("überforschten") Märkte steht: Südosteuropa.
Kulturelle Vielfalt & wirtschaftlicher Aufschwung
Südosteuropa bietet mit 17 Staaten und rund 90 Millionen Einwohnern ein breites Spektrum an Forschungsmärkten, die sich kulturell teils stark unterscheiden. Und trotzdem: Es gibt einige Gemeinsamkeiten, die nicht zuletzt mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhängen. So blicken wir auf vergleichsweise kleine Länder, von denen einige als Nachfolgestaaten Jugoslawiens bis heute durch die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit geprägt werden.
Die meisten südosteuropäischen Länder entwickeln sich inzwischen ökonomisch positiv. Sie profitieren dabei insbesondere von ihrer EU-Anbindung oder -Mitgliedschaft und öffnen sich zunehmend anderen Märkten. Bestimmender Wirtschaftssektor ist fast überall der Dienstleistungssektor (mit +/- zwei Drittel Anteil), häufig dominiert hier die Tourismusbranche. Auch interessant: wichtigster Wirtschaftspartner ist fast ausnahmslos Deutschland.
Konsumtrends: zwischen online, offline, lokal und global
Konsumtrends folgen in Südosteuropa prinzipiell globalen Entwicklungen. Konsumenten orientieren sich dabei gerne an Marken und Produkten aus westlichen EU-Ländern: Diese gelten generell als qualitativ hochwertig, das gilt vor allem für deutsche Produkte. Gleichzeitig ist aber auch Lokalpatriotismus von Bedeutung: regionale Produkte haben einen besonderen emotionalen Mehrwert. Globale Trends und lokale Produkte - in Südosteuropa scheint sich das nicht zu widersprechen. Auch der E-Commerce-Markt nimmt in der Region an Fahrt auf: Neben Convenience-Aspekten überzeugen dabei die Möglichkeiten, Preise transparent vergleichen und Produkte, die lokal nicht erhältlich sind, finden zu können.
Marktforschung in Südosteuropa: Das "Research Paradox"
Marktforschung in Südosteuropa ist einerseits hochprofessionell, andererseits muss immer mal wieder improvisiert werden: ein "Research Paradox". Vor allem für qualitative Forschung ist die Infrastruktur vor Ort nicht immer deckungsgleich mit den westeuropäischen Standards. So fehlt manchmal in einigen Studios die gewohnte Ausstattung (Beobachtungsraum, Einwegspiegel, festinstallierte Dolmetscheranlage). Das heißt jedoch nicht, dass die Institute vor Ort nicht professionell arbeiten. Im Gegenteil: Die Mitarbeiter sind meist hoch qualifiziert und motiviert. Ebenso können sie einen höheren Personalschlüssel als hierzulande bieten. Das macht die Arbeit flexibler und Sonderwünsche leichter umsetzbar (zum Beispiel bei IT-Fragen, dem Einsatz von Videotechnik und außergewöhnlichem Catering). Kurzum: Die ausbaufähige Infrastruktur wird wettgemacht durch große Improvisationskunst und Flexibilität.
Forschungsunerfahren aber authentisch: die Probanden
Die Mafo-Branche in Südosteuropa ist noch jung. Viele Probanden sind eher forschungsunerfahren, sodass es ab und an für sie noch etwas befremdlich wirkt an Studien teilzunehmen. Abläufe sind erklärungsbedürftiger und Teilnehmer gelegentlich unsicherer als hierzulande. "Profi-Teilnehmer" gibt es kaum. Das Gute daran: Die Probanden sind sehr authentisch und motiviert, was sich in ihrem unverstellten Antwortverhalten widerspiegelt. Nur was die Zeitplanung angeht sollte man eine gewisse Flexibilität mitbringen: Wer auf die typisch deutsche Planungsverlässlichkeit hofft, kann hin und wieder enttäuscht werden. Andererseits sind die Probanden oft flexibler und können bei Bedarf auch mal länger als geplant bleiben.
Stark im Kommen: digitale Methoden
Bisher ist die südosteuropäische Marktforschungs-Szene eher von traditionellen Forschungsmethoden geprägt (F2F, C.A.P.I, C.A.T.I). Zeitgemäße Methoden gewinnen aber immer mehr an Boden. Vor allem in Kroatien und Griechenland ist in nächster Zeit mit einiger Dynamik zu rechnen. C.A.W.I als Quant-Methode ist hier zunehmend en vogue und umsetzbar. Allerdings ist eine flächendeckende Repräsentativität derzeit noch nicht in allen Ländern möglich, da gerade in ländlichen Gebieten eine flächendeckende Netzabdeckung und Onlinepartizipation fehlt. Zudem gibt es Unterschiede zwischen den Ländern. So liegt in Kroatien die Internetnutzung bei etwa 80 Prozent, in Slowenien sogar bei etwa 87 Prozent und in Bulgarien bei ca. 72 Prozent. Aber der Trend ist eindeutig: die "Offline-Bevölkerung" ist rückläufig; die Szene entwickelt sich in Richtung online.
Praktische Tipps I: Kultur
Wer Research-Projekte in Südosteuropa plant, kann sich auf authentische Probanden und hochmotivierte Forschungspartner freuen. In der Region gibt es ein noch einiges zu entdecken. Um Projekte vor Ort erfolgreich durchzuführen, sollte man sich jedoch der speziellen Rahmenbedingungen und kulturellen Gegebenheiten bewusst sein. Trotz einiger Gemeinsamkeiten sind die einzelnen Länder kulturell teils sehr verschieden. Zum Beispiel können sich Respondenten in ehemals kommunistischen Ländern gelegentlich unwohl fühlen, wenn es um private Daten oder Beobachtungen durch den Einwegspiegel geht. Gründliche Recherchen, ein etwas ausführlicheres Briefing der Gesprächspartner sowie regelmäßiges Ermutigen sind empfehlenswert.
Praktische Tipps II: Sprachbarrieren
Hinsichtlich der Sprachkenntnisse lokaler Partner sollte mit breiter Streuung gerechnet werden: von lückenhaftem Englisch und Deutsch bis hin zu fließend mehrsprachig. Ebenso können Übersetzungen in lokale Sprachen aufwendiger sein und es sollte genügend Zeit hierfür eingeplant werden. Auch gut zu wissen: Wenn kundenspezifische Schriftarten (z.B. in Testmaterialien) verwendet werden, kann es vorkommen, dass diese beispielsweise nicht für Kyrillisch, Griechisch oder Ungarisch verfügbar sind.
Praktische Tipps III: Rekrutierung
In Sachen Rekrutierung gilt es, länderspezifische Voraussetzungen zu beachten. In Griechenland ist der Zugang zu einkommensstarken Befragten beispielsweise schwierig - noch schwieriger als hierzulande. Neben den üblichen Vorbehalten gegenüber Marktforschung ist diese Gruppe in den letzten Jahren geschrumpft und vorsichtiger geworden. Ähnlich wie in Deutschland, aber doch etwas stärker ausgeprägt ist die Beobachtung, dass in Griechenland sowie in Ungarn die Feldarbeit auf den Nachmittag oder den Abend gelegt werden sollte. Probanden nehmen sich ungern frei um an qualitativen Studien teilzunehmen. Darüber hinaus liegen die Incentives dem allgemeinen Einkommensniveau entsprechend etwas niedriger als in Westeuropa.
Fazit: Eine spannende Mafo-Szene mit Potential
Praktische Forschungsarbeit in Südosteuropa zeichnet sich durch eine Reihe von Spannungsfeldern aus: Es wird viel improvisiert und trotzdem sehr professionell gearbeitet; Probanden sind forschungsunerfahren und gleichzeitig authentisch; die Gesellschaften blicken nach Westen, es existieren aber auch starke regionale Bezüge usw. Insgesamt richtet sich die Mafo-Landschaft in der Region gerade neu aus. Sie hat deshalb großes Potential. Für Unternehmen ist es eine Chance, in Südosteuropa zu forschen und Konsumenten in einer vielfältigen Region kennenzulernen, die auch wirtschaftlich immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Über die Autoren
Dr. Tomas Jerković ist Research Director bei der GIM (www.g-i-m.com) in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Finanzen, Telekommunikation und Energie. Als gebürtiger Kroate hat er auch persönlich einen besonderen Bezug zu Südosteuropa.
Edwin Zijderveld ist als Senior Research Manager bei der GIM Berlin (www.gim-berlin.de) mit Fokus liegt auf Telekommunikations-, FMCG- und Pharmaforschung tätig. Er forscht seit 15 Jahren in der gesamten Region Südosteuropa und ist auch privat regelmäßig zwischen Ostsee und Kaukasus unterwegs.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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