Zur Kolumne von Thomas Koch „Marktforschung am Limit“ – Eine Einordnung und ein Aufruf

In seiner Meedia-Kolumne kritisiert Medienexperte Thomas Koch die moderne Generation der Marktforschungsbranche und eine zunehmende YouGovisierung der Umfrageforschung. Was hat es mit der Kritik auf sich? Und wie sollte die Branche jetzt reagieren?

Kritik von außerhalb der Branche an der Marktforschung scheint gerade en vogue zu sein. Nach Jan Böhmermann äußert sich jetzt auch Thomas Koch in einer Kolumne, die kürzlich bei der Publikation Meedia erschienen ist. „Marktforschung am Limit“ titelt Thomas Koch dort. Im Kern finden sich darin zwei Vorwürfe:

Erstens: Es gebe eine YouGovisierung der Marktforschung. Im Wortlaut:

„Inzwischen ist es völlig normal, online ein paar Hundert Menschen zu befragen und tagtäglich irgendwelche PR-trächtigen Erkenntnisse zu irgendeinem Thema rauszuhauen. Nennen wir es die YouGovisierung der Marktforschung. Qualität und Repräsentativität bleiben auf der Strecke – die Ergebnisse sind oft wertlos.“

Als Untermauerung seiner These führt Koch eine Untersuchung von YouGov mit dem Ergebnis an, dass die Deutschen Werbung uninteressant finden. Die Frage lautete „Findest du, dass Werbung weniger interessant ist als früher?“ Das ist für Koch eine typische Suggestivfrage, die eine gewollte Antwort nahelegt. Für Koch ein absolutes No-Go in der Markforschung. Und hoffentlich für alle Marktforschenden auch. Als zweites Beispiel führt er eine Behauptung von Civeys Janina Mütze an, dass es nicht notwendig sei, bei der Erfolgsmessung von Kampagnen nicht jeden Kanal einzeln zu betrachten.

Zweitens: Die heutige Generation der Marktforschenden würde nicht aus den Fehlern ihrer Vorgänger-Generation lernen. Daher gebe es keinen Fortschritt, sondern aktuell gar einen Rückschritt in der Marktforschung.

Wer ist eigentlich Thomas Koch?

Thomas Koch ist ein Medienprofi, der sich auch gerne Mr. Media nennt. Er ist seit 49 Jahren im Media-Business. Ein alter Hase, der beruflich vor allem im Bereich der Mediaplanung tätig war, u. a. als Mitglied in der Geschäftsleitung der Mediaagentur Crossmedia und in seiner eigenen Mediaagentur thomaskochmedia, die er 2002 mit Starcom fusionierte. Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, so z. B. 2008 die Auszeichnung zur Mediapersönlichkeit des Jahres.

Thomas Koch ist ein gefragter, scharfzüngiger Kolumnist, u. a. für die Wirtschaftswoche, für die er monatlich schreibt. Seine Kolumne über Marktforschung ist jetzt in dem Fachmagazin Meedia erschienen. Er weiß, wie Medien ticken, und als Mediaplaner dürfte er viele Berührungspunkte mit der Markt- und Medienforschung gehabt haben.

Doch Kolumnen sind keine Fachartikel. Von daher ist es wie in Kochs Fall normal, persönliche Thesen mit nur wenigen Belegen zu untermauern und zu polemisieren.

Gibt es eine YouGovisierung der Marktforschung?

Richtig ist zunächst einmal: So pauschal die Kritik von Thomas Koch formuliert ist, völlig von der Hand zu weisen ist sie nicht. Es gibt heute mehr Umfragen, und es gibt das Bedürfnis von Medien nach spektakulären Umfrageergebnissen.

Den auf einen Vertreter der Branche gemünzten Begriff „YouGovisierung der Marktforschung“ allerdings, ein Koch‘scher Neologismus, würde man in der Branche gemeinhin als „Demokratisierung der Marktforschung“ bezeichnen. Hintergrund: Die Schwellen dafür, eine Umfrage durchzuführen, sind durch die Digitalisierung und die damit verbundenen Softwaretools immer niedriger geworden. Damit einhergehend sind die Durchlaufzeiten einer Studie kürzer und die Kosten niedriger geworden. Das liegt daran, dass die dominierende Methode das Online-Interview ist. Selbst die häufig noch recht traditionellen Mitglieder des Arbeitskreises Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute (ADM) führen mittlerweile 57 Prozent ihrer Interviews online durch. Institute wie die von Koch genannten YouGov oder Civey können innerhalb weniger Stunden/Tage relativ große Stichproben online befragen und auswerten, ohne selbst mehr als die Arbeitszeit der Mitarbeitenden und die Incentives der Panelmitglieder zu bezahlen.

Wir sprechen mit Thomas Koch und weiteren Vertretern der Marktforschungsbranche. Melden Sie sich hier kostenfrei für die Diskussionsrunde an.

Ist dadurch die Qualität von Umfragen schlechter geworden?

Ob diese Entwicklungen dazu geführt haben, dass die Qualität der Marktforschung gelitten hat, ist diskussionswürdig. Für Wahlumfragen gibt es durchaus Belege, dass auch Institute wie YouGov oder Civey den Ausgang von Wahlen richtig vorhersagen können, siehe die Vorhersagen bei der Bundestagswahl 2021.

Die von Koch angesprochenen Suggestivfragen gab es früher auch schon. Marktforschende lernen eigentlich sehr früh, Suggestivfragen zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Es sei denn, es ist explizit methodisch so gewollt. Benedikt Lüthi von YouGov schreibt in seiner Replik, dass „Herr Koch wissentlich oder unwissentlich die Fragestellung aus einer unseren Umfragen falsch“ wiedergegeben hat.

Früher gab es aber insgesamt weniger Umfragen und dementsprechend weniger Suggestivfragen, die das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben.

In einer Medienlandschaft, in der Trending Topics zumeist Eintagsfliegen sind, müssen die Umfragen und deren Ergebnisse zwangsläufig spektakulärer ausfallen, um noch aufgegriffen zu werden.

Zudem sei angemerkt: Längst nicht jede Umfrage, die heute in Medien zitiert wird, wurde von einem Marktforschungsinstitut durchgeführt, auch wenn sie ggf. in deren Online-Access-Pool erhoben wurde. Hier müssen Panelbetreiber aufpassen, dass sie nicht fälschlicherweise als Quelle genannt werden. Anbieter von Self-Service-Tools laden gerade auch Redaktionen dazu ein, schnell einmal selbst eine Umfrage durchzuführen. Die wurde dann bestenfalls noch von einem Marktforschenden geprüft. Sicherlich aber wurde sie nicht drei Stunden gemeinsam mit Kollegen bezüglich der korrekten Operationalisierung diskutiert.

Und selbst, wenn die Umfrage geprüft wurde, machen viele Journalisten im Anschluss aus den Ergebnissen das, was sie daraus machen möchten.

„Die heutige Generation der Marktforschenden lernt nicht aus den Fehlern ihrer Vorgänger“

Diese Aussage macht Thomas Koch allein daran fest, dass

„Janina Mütze von Civey empfehle, bei der Erfolgsmessung von Kampagnen nicht jeden Kanal einzeln zu betrachten. Man brauche nur die Zielgruppe online zu fragen, ob und wo Werbung wahrgenommen würde.“

Diese Aussage der Civey-Mitgründerin (die hier im Kontext nachgelesen werden kann) mag vielleicht aus der Wahrnehmung eines Medienprofis nicht von allzu viel Medienexpertise zeugen. Daraus aber einen Vorwurf an die ganze Generation von modernen Marktforschenden zu machen, ist geradezu absurd.

Im Unterschied zu früher hat sich die marktforschungsspezifische Ausbildung deutlich verbessert. So gibt es an einer ganzen Reihe von Hochschulen entsprechende Studiengänge wie den Master-Studiengang „Markt- und Medienforschung“ an der TH Köln, den Bachelor-Studiengang „Marktforschung und Konsumentenpsychologie“ an der Hochschule Pforzheim oder den Studiengang „Marketing Research“ an der Uni Erlangen-Nürnberg. Dazu kommen die Fachangestellten für Markt- und Sozialforschung, die in ihrer Ausbildung ebenfalls gelernt haben, einen Fragebogen ohne Suggestivfragen zu formulieren. Es gibt hervorragende Lehrbücher und viel Dozenten aus der Umfragepraxis, die ihr Wissen an den Nachwuchs weitergeben.

Start-ups sorgen mit neuen Methoden für frischen Wind

Es liegt im Wesen von Start-ups wie Civey und YouGov einmal waren, den Status quo herauszufordern. Dadurch entwickeln sich Branchen erst weiter. Glücklicherweise gibt es auch in der Marktforschung, die zumindest in Deutschland offensichtlich mit ihrer Bedeutung zu kämpfen hat, etliche Start-ups, die sich aufgemacht haben, die Branche herauszufordern.

Anfang der 2000er Jahre waren das noch Online-Marktforschende wie EARSandEyes, Skopos oder Rogator, die allesamt mittlerweile zum Establishment der Insights Industry gehören. Und zwar nicht, weil sie heute keine Online-Marktforschung mehr machen, sondern gerade deswegen.

Anschließend waren das Häuser wie YouGov, Civey oder Appinio, die mittels Online-Befragungen Tools wie den YouGov BrandIndex geschaffen haben, der im Bereich des Markentrackings mittlerweile zum Standardtool geworden ist. Aktuell steht mit Start-ups wie epap, Redem oder Aimpower bereits die nächste Generation in den Startlöchern, die ebenfalls den Anspruch hat die Research Welt zu verbessern und bestehende Probleme der Umfrageforschung, wie die sinkende Teilnahmebereitschaft in der Bevölkerung, zu lösen. Zu verbessern im Sinne von besserer Qualität, in kürzerer Zeit und zu geringen Kosten.

Es ist ja nicht so, dass in der Marktforschung früher alles besser gewesen wäre, nur weil es weniger Studien gab, Umfragen deutlich teurer und langsamer gewesen sind.

Was sollte die Marktforschung aus der Kritik lernen?

Erst Jan Böhmermann und jetzt Thomas Koch. Auch wenn n=2 noch kein stabiler Trend ist, so könnte es trendy werden die Marktforschung pauschalisierend zu kritisieren. Dagegen sollte sich die Branche beziehungsweise ihre Verbände als Vertreter der Branche wehren.

"Die Verursacher bei der Wurzel packen"

Erstens sollten die Verbände den Anfängen wehren und ihre Mitgliedsunternehmen stärker reglementieren. Richtlinien und Qualitätsstandards, die keiner liest, sind dabei wahrlich kein scharfes Schwert. Es gibt ja durchaus Qualitätsinitiativen, aber die Effekte sind für Außenstehende offensichtlich kaum wahrnehmbar. Zumindest nicht für Koch und Böhmermann. Dazu gehört auch:

  • Jedes Mitgliedsinstitut sollte bezüglich des Umgangs mit dem Begriff „Repräsentativität“ an die Kandare genommen werden. Der Begriff „Repräsentativität“ bedeutet faktisch gar nichts mehr. Er wird inflationär verwendet und hat keine Unterscheidungskraft mehr für Studienergebnisse. Ein Verband muss für seine Mitglieder definieren, was darunter verstanden wird. Und daran müssen sich die Mitglieder halten. Nur dann sollte eine Umfrage als „repräsentativ“ bezeichnet werden.
     
  • Wenn Medien Umfragen nutzen möchten, sollten sie auch dazu verpflichtet werden ausführliche Informationen zur Methodik und der Stichprobe bereitzustellen. Diese Informationen müssen von allen Instituten automatisch bereitgestellt werden. Wenn nicht auf der Seite des Medienpartners selbst, dann wenigstens ausführlich auf der Homepage des Instituts. Darauf kann dann aus einem Artikel verlinkt werden.
     
  • Die gängige Praxis einiger Institute Umfragen für Medienhäuser fast kostenlos oder zu sehr geringen Preisen durchzuführen, sollte von den beteiligten Instituten kritisch hinterfragt werden. Wenn die Medien für Umfragen bezahlen müssen, würde die Anzahl der veröffentlichten Umfragen schnell merklich sinken und vermutlich die Qualität steigen. Das allein dadurch, dass Redaktionen intensiver darüber nachdenken müssten, zu welchen Themen wirklich befragt werden muss und was doch nur „Nice-to-know“ ist. Außerdem würden wahrscheinlich alle Beteiligten größere Sorgfalt in der Operationalisierung walten lassen, wenn die Umfrage auch etwas kostet.

Gemeinsam für den Ruf der Branche kämpfen

Zweitens sollten sich die Verbände vor ihre Mitgliedsunternehmen stellen und für den Ruf der Marktforschung wahrnehmbar streiten. Statt Thomas Koch bei LinkedIn zu applaudieren oder im Fall Böhmermann wegzuducken, sollte die Branche mit dem gegenseitigen Fingerpointing aufhören und gemeinsam für den Ruf der Branche kämpfen.

Es heißt in der Kritik von Thomas Koch „Marktforschung am Limit“ und nicht „YouGov & Civey am Limit“.

In dem Moment, wo ein Institut wie YouGov oder Civey Mitglied oder assoziiertes Mitglied eines Verbands ist, muss sich der Verband (und auch seine Mitglieder) vor das Mitglied stellen. Oder aber das Institut aus dem Verband rauswerfen, weil es sich nicht an die Regeln des Verbands gehalten hat.

 

Über die Person

Holger Geißler ist Geschäftsführer und Mitgründer des Smart News Fachverlag, der die beiden Branchenportal marktforschung.de und CONSULTING.de betreibt. Er ist außerdem Mitglied in der Geschäftsführung der succeet GmbH, Veranstalter der Leitmesse der Insight Industry.

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  1. Jan Strasser am 08.09.2022
    Das Problem ist größer, als es scheint: Medien publizieren nicht nur höchst fragwürdige "Schlussfolgerungen" aus Umfragen, sondern ebenso fragwürdige "wissenschaftliche Erkenntnisse". Heute reicht es zu sagen: "Wissenschaftler haben herausgefunden", "...sagt Experte XY".
    Schlagzeilen sind wichtiger als Inhalte, kritische Leser:innen gibt es nicht mehr so viele. –
    Schuld an diesem Zerfall des Qualitätsbewusstseins sind letztlich die Publizierenden. Also etwa die Medien, welche einen verzweifelten Wettkampf gegen Online-Medien / Social Media führen. Oder Institute, denen die öffentliche Nennung ihrer Marke wichtiger ist als der Inhalt ihrer Botschaft.

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