Stephan Teuber, GIM Marktforschung als Customer Centric Consulting

Die Marktforschung ist schon eine eigentümliche Branche. Gerade in einer Zeit der größten und nachhaltigsten Transformation, die die Wirtschaft seit langem durchläuft, zieht sich ein Teil der Anbieter darauf zurück, partikulare Forschungsprodukte zu liefern (am besten mit "KI") oder DIY-Lösungen auf Plattformen zur Verfügung zu stellen. In einer Zeit, in der die Wirtschaft Orientierung und Wegweisung braucht, liefert die Marktforschung vermehrt Patchwork-Lösungen für Anwendungen, deren Relevanz nicht immer gesichert ist. Vielmehr wird eine Toolbox teil- und vollautomatisierter Lösungen feilgeboten, mit denen die Kunden dann gerne selber zurechtkommen dürfen. Dass dies zu kurz greift und die Kunden gerade auch auf Beratung angewiesen sind, haben die Plattformen inzwischen freilich erkannt - und auch ins Kalkül gezogen: Neben automatisierten Lösungen werden nun entsprechend auch Beratungsmodule angeboten, die den Kunden an die Hand nehmen sollen und wahrscheinlich mehr zum Ertrag der Plattformen beitragen als die automatisierten Lösungen. Dennoch bleibt Beratung hier explizit ein "Add-on" für die Fälle, in denen die Kunden alleine nicht mehr zurechtkommen. Unter dem angesagten Label "Agilität" bleibt der Kunde dann häufig sich selbst überlassen.
Diese Tendenz verwundert umso mehr, als der Beratungsmarkt in Deutschland ja regelrecht boomt. Zwar ist dort 2019 auch die konjunkturelle Eintrübung zu spüren, doch mit einem Gesamtumsatz von 33,8 Mrd. Euro im Jahr 2018 zeigt sich die Beratungsbranche grundsätzlich auf Wachstumskurs (Quelle: Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU e.V.). Und die Gründe liegen auf der Hand: Digitalisierung und ihre Implikationen für die Implementierung neuer IT-Anwendungen sowie -Infrastrukturen, neue Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit sowie das breite Feld des Change-Managements sind nur besonders prägnante Beispiele für unterschiedlichste Wachstumstreiber des Beratungsmarktes. Sie verdeutlichen eindrücklich, dass die Wirtschaft nicht allein Research, sondern auch und vor allem Orientierung durch Beratung braucht.
Transformationsprozesse als Chance für evidenzbasierte Beratung
Wer sollte denn in dieser Situation besser in der Lage sein, Orientierung und Wegweisung zu liefern als die Marktforschung (zumindest, wenn man vom Markt und von den Menschen, also den Konsumenten, aus denkt)? In einer Zeit, in der es für die Marktforschung als einer wissensbasierten Dienstleistung die größten Chancen gäbe, ihre Kompetenz in ein ganzheitliches Erkenntnis- und Beratungsangebot für den Kunden einzubringen, verkürzen immer mehr Player ihr Angebot auf disparate technische Lösungen. Ein Gang durch die vermeintliche Leitmesse der Branche, die Research & Results, machte es mehr als deutlich: Die Marktforschung droht, gerade diesen USP, den sie sich über ein Jahrhundert aufgebaut hat, zu verspielen, wenn sie Methoden und Techniken in den Fokus stellt, nicht aber das Erkenntnisziel und den Benefit für ihre Kunden.
Beratung darf kein Add-on sein für den Fall, dass der Kunde alleine nicht mehr zurechtkommt. Beratung muss vielmehr im Zentrum des Angebots von Marktforschung stehen, indem sie relevante Erkenntnisse liefert, die den Kunden wirklich weiterbringen. Dies umfasst nun weit mehr, als "nur" durch eine Primärforschung empirische Resultate zu produzieren und diese dem Kunden mit ein paar Empfehlungen mit auf den Weg zu geben. Zugegebenermaßen war dies lange Zeit der Beratungsanteil, der der Marktforschung zugestanden wurde, für alles andere gab es dann eben die "eigentlichen Berater". In einer sich digital transformierenden Wirtschaft reicht dieser Begriff von Beratung aber bei weitem nicht mehr aus! Und Marktforschung würde sich damit auch unter Wert verkaufen. Relevante Erkenntnisse zu liefern startet lange vor der empirischen Datenerhebung (auf die Marktforschung irrtümlicherweise noch immer häufig reduziert wird) und hört mit den Empfehlungen auf der Basis der Resultate noch lange nicht auf
Customer Centric Consulting (CCC) startet vielmehr bereits bei der Problemdefinition, gefolgt von der Identifikation der relevanten Datenquellen für eine mögliche Problemlösung, der professionellen und zielgerichteten Generierung, Integration und Analyse der Daten (aus welcher Quelle auch immer), der Ableitung der relevanten Implikationen für den Kunden und last but not least der möglichen Begleitung der Implementation. Dabei reicht der Beratungs Scope natürlich weit über die primär-forscherische Dimension hinaus. Dennoch bleibt die Beratung strikt konsumenten- bzw. kundenzentriert und orientiert sich an den hohen Qualitätsstandards der empirischen Forschung, denn erst dadurch entsteht ein wahres evidenzbasiertes Beratungsangebot. Damit ist Marktforschung gleichermaßen Prozessbegleitung und -gestaltung. Aber im Unterschied zu schnelllebigen Varianten (wie manchen quick and dirty Varianten des Design Thinking), legt ein professionelles Customer Centric Consulting höchsten Wert auf die empirische Validität der Daten, ganz gleich, ob es sich um quantitative Primär-, First Party- oder Sekundärdaten handelt oder um qualitative Daten und Insights. Die empirische Fundierung wird hierbei nicht der pragmatischen Prozessintegration geopfert, sondern bleibt mit dieser auf Augenhöhe. Sie hat keine Alibi-Funktion zur Legitimierung anderweitig begründeter Entscheidungen, sondern wirkt als echte Entscheidungsgrundlage.
Im Einzelnen gliedert sich Customer Centric Consulting in folgende Phasen (wobei je nach Kundenanforderung nicht alle Phasen zur Anwendung zu kommen brauchen, sondern der Kunde dort abgeholt wird, wo er jeweils aktuell steht). Auch darin unterscheidet sich Customer Centric Consulting von standardisierten Lösungen. Es ist gleichermaßen als Client Centric Consulting zu verstehen.
Phase 1: Problemdefinition
Häufig liegt bei den Kunden eine diffuse Problemlage oder Marktherausforderung vor. Es ist nicht ganz klar, wie sich die Problemlage fassen lässt, wo sozusagen "der Schuh drückt", welche Business-Opportunities sich abzeichnen, welche Implikationen dies z.B. auf das eigene Angebotsportfolio oder aber auch auf die eigenen Prozesse bzw. (insbes. bei b2b) die Prozesse der Endkunden haben kann. In einer solche Situation gilt es, das Terrain zu sondieren, die Problemlage freizulegen, Handlungsfelder abzustecken, die dafür notwendige Datenbasis sowie die Wissensquellen zu identifizieren und daraus eine integrierte Forschungs- sowie unternehmerische Handlungsstrategie abzuleiten.
Im Rahmen eines moderierten Prozesses werden alle Stakeholder auf Kundenseite eingebunden. Auf dieser Grundlage entwickelt CCC nicht nur eine maßgeschneiderte Forschungsstrategie unter Integration der im Unternehmen vorhandenen Daten und Wissensquellen sowie möglicher neu zu erhebender oder "anzuzapfender" Daten, sondern auch eine übergreifende Handlungsstrategie, in die Forschung von vornherein integriert ist und die mit den unternehmensinternen Prozessen abgestimmt ist. Die Beratung beschränkt sich hierbei explizit nicht auf den Wissens- und Forschungsanteil, sondern erstreckt sich vor allem auch darauf, vom Customer aus, den Prozess zu durchdenken und zu bewerten, um schon im Vorfeld sicherzustellen, dass die Forschung dann im Unternehmen ihre Relevanz entfalten kann. Dabei kann die Forschung bereits in dieser Phase auch als Veränderungsfaktor wirksam werden, wenn es z.B. darum geht, die Unternehmen grundsätzlich auf deren Kunden auszurichten und dafür die prozessualen Voraussetzungen zu schaffen - sei es in der Organisation der Kundenkommunikation oder aber der Unternehmensorganisation hin auf ein kundenzentriertes Unternehmen.
Phase 2: Wissenserschließung und -nutzung
Die als relevant identifizierten Daten- und Wissensquellen werden strikt nach ihrer Bedeutung für den Gesamtprozess erhoben sowie analysiert und interpretiert. Dabei liegt ein Schwerpunkt durchaus auch auf dem in den Unternehmen vorhandenen Wissen und dem zu Verfügung stehenden Datenbestand. Häufig werden Daten doppelt oder dreifach erhoben. CCC startet mit dem vorhandenen Wissen und versucht, dieses so effektiv wie möglich zu nutzen. Diesen häufig bereits sedimentierten Wissensschatz zu heben und einzubinden, ermöglicht, eine historische, d.h. eine zeitliche Dimension in das Verständnis einzubringen und damit zu einem besonders tiefen Verständnis als Beratungshintergrund zu gelangen. Häufig werden darüber hinaus natürlich neue, primär erhobene Daten benötigt.
Auch hier denkt CCC strikt von der Sachlage aus und wählt die Erhebungs- und Analysemethode, die im jeweiligen Fall angemessen ist. Nicht die Frage ob online oder offline, qualitativ oder quantitativ, befragend oder beobachtend steht im Fokus, sondern welche relevanten Informationen werden für den Prozess benötigt. Hierbei gestaltet CCC die Phase der Datenerhebung als iterativen und agilen Prozess. Nach einzelnen Erhebungs- und Analyseschritten wird gemeinsam mit den Stakeholdern über den Fortgang dieser Phase befunden. Genügen die Informationen, werden noch weitere benötigt, müssen die Fragestellungen/Instrumente ausgesteuert werden? Dieser Prozess ähnelt selbstverständlich den in der Marktforschung seit langem bewährten iterativen Lab-Verfahren, die eine Quick-Variante im Design Thinking erfahren haben. Allerdings moderiert der/die forschende BeraterIn hier nicht "nur" einen CoCreation-Prozess mit Bezug auf die Produktentwicklung, sondern auch mit Bezug auf mögliches Change-Management im Unternehmen. Und die empirische Basis dieses Vorgehens ist bei weitem dichter und valider als in stand-alone Design Thinking Sprints.
Beratende Forschung endet nun nicht an diesem Punkt. Vielmehr geht es danach in die Umsetzungsphase.
Phase 3: Erarbeiten und Etablieren
Auf der Basis der Resultate in Phase 2 entwickelt CCC nun geeignete Strategien und Maßnahmen. Hier bleibt der Berater sozusagen "an Bord", wenn es darum geht, die Ergebnisse gemeinsam mit den Stakeholdern umzusetzen. Denn häufig verselbständigen sich Umsetzungsprozesse - sei es hinsichtlich übergreifender Strategien (man denke z.B. an Markenpositionierungen) oder sei es hinsichtlich konkreter Angebotskonzepte (z.B. Produkte, Services). Der Customer gerät aus dem Blick, die internen Prozesse gewinnen an Oberhand, oder umgekehrt, die internen Effekte der externen Maßnahmen auf dem Markt werden unterschätzt - was zu unternehmensinternen Störungen führen kann. Im Implementierungsprozess gilt es daher, gemeinsam mit den Stakeholdern stets die externe Customer-Perspektive mit den internen Prozess- und Organisationsspielräumen abzustimmen. Hierbei kann der beratende Forscher als Anwalt des Customer auftreten und Maßnahmen und Strategien mit Vertretern der Innensicht aushandeln. Oder er kann als Moderator versuchen, beide Seiten zu vermitteln.
Die Bandbreite möglicher Ausgestaltungsformen ist auch in dieser Phase groß und richtet sich nach dem Sachverhalt sowie den verfügbaren personellen Ressourcen auf Seiten aller Stakeholder. Ähnliches gilt dann für die "Verinnerlichung" der Strategien und Maßnahmen in den Unternehmen. Je nach Ausmaß und Tiefe der strukturellen Implikationen dieser Customer-getriebenen Veränderungen, bedarf es eines begleitenden Change Managements. Dieses untermauert den Anspruch, ein Customer-zentriertes Unternehmen zu sein, durch entsprechende Organisationsformen und Prozesse, die sich etablieren müssen, die jedoch auch im Nachgang aus der Customer-Perspektive validiert und aufrechterhalten werden müssen.
Marktforschung als relevanter Partner
In Zeiten einer derart großen Transformation der Wirtschaft und ihrer Unternehmen mit dem Ziel, den Kunden noch stärker ins Zentrum aller Anstrengungen zu setzen, darf sich Marktforschung nicht auf den tayloristischen Beitrag der Datenlieferung zurückziehen. Auch dann nicht, wenn die verfügbaren Tools zu verzaubern scheinen und für sich bereits eine rosige Zukunft versprechen. Customer-Zentrierung erfordert Unternehmen, die sich mit Leib und Seele, also in Organisation, Strategie und Handeln, an den Kunden orientieren. Und hierfür wird Marktforschung der ideale und vor allem: Relevante Partner bleiben, wenn sie ihr Portfolio gezielt und sinnvoll erweitert und sich als Beraterin und Moderatorin im gesamten Prozess positioniert.
zur Person
Stephan Teuber ist seit 1996 Geschäftsführer der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung. Er studierte Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften in München, Sussex und Heidelberg, wo er vor seinem Einstieg bei der GIM am Soziologischen Institut in Forschung und Lehre tätig war.
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