Markt- und Meinungsforschung und alternative Fakten – eine Standortbestimmung und ein Aufruf

Von Hartmut Scheffler
Führt man sich vor Augen, dass Meinungsfreiheit und eine unabhängige Meinungsforschung zwei Seiten einer Medaille sind, dass es außerdem in Diktaturen und Autokratien so gut wie niemals unabhängige Meinungsforschung gab und gibt, dann wird die Relevanz dieses Themas und diese Drohung sowohl für demokratische Gesellschaftsformen wie für die Meinungsforschung offensichtlich. Vor diesem Hintergrund hatte der Autor einen umfangreichen Artikel als Positionspapier für unsere Branche geschrieben, der im ADM-Jahresbericht erschienen ist. In umfassender Form werden hier zu diesem Thema die gesellschaftlichen Entwicklungen, die Gefahren und Chancen der globalen Digitalisierung sowie die Gefahren und Herausforderungen für eine engagierte und selbstbewusste Markt- und Meinungsforschung abgeleitet und in den Zusammenhang gestellt.** Die Quintessenz des Artikels ist die Ableitung der gesellschaftlichen Verantwortung der Markt- und Sozialforschung für Meinungsfreiheit, für unsere offene Informationsgesellschaft.
Fake News in der Historie
Nun wurde ich im Nachgang zu diesem Artikel einige Male darauf angesprochen, dass es doch in der Historie zahlreiche gefakte Geschichten, neu hochdeutsch "Fake News" gegeben habe und dass immer wieder scheinbar objektive und neutrale Fakten uminterpretiert, für die jeweils eigene Sache neu interpretiert wurden. Oder kurz: Dieses ganze Thema sei jetzt etwas aktueller (bedingt durch Brexit und Trump), aber nichts wirklich Neues und damit auch nicht ungewöhnlich und bedrohlich.
Ja: Es hat diese gefakten bzw. erfundenen Daten oder die gefälschten Daten historisch immer wieder gegeben – die Geschichtsbücher sind voll davon. Aber eines ist allen gemeinsam: Dahinter standen Kaiser oder Könige, Papst oder Kirche, Diktatoren oder Autokraten … oder es waren Versuche, in Krisenzeiten zu motivieren und zu mobilisieren bzw. eigene Erfolge zu überhöhen und den Gegner zu verteufeln. Kurz: Diese Beispiele sind gerade kein Beleg für Harmlosigkeit, sondern für das Gegenteil. Dort haben undemokratische Systeme mit solchen Daten gearbeitet. In Demokratien mit tatsächlich gelebter Meinungsfreiheit haben in der Vergangenheit (wieder mit dem Hinweis: Außerhalb von Kriegszeiten!) Fake News oder alternative Fakten immer kurze Beine gehabt – das Korrektiv der vier Gewalten (inklusive Medien) hat letztlich funktioniert. Das schließt aber keinesfalls aus, dass bei Verharmlosung und Akzeptanz von Fake News oder alternativen Fakten demokratische Systeme geschwächt werden und autokratisch-diktatorische Systeme entstehen.
Ein zweiter Kommentar mir gegenüber war, dass realistisch betrachtet nun aber die Markt- und Meinungsforschung dann, wenn gesellschaftliche Phänomene in der dargestellten Weise überhand nehmen, nicht wirklich etwas tun könne. Hier möchte ich deutlich widersprechen.
Gesellschaftlich relevantes Korrektiv
Die wesentlichen Argumente finden sich im zitierten Artikel. Wenn wir zum Einen wirklich sicherstellen, dass unsere Daten qualitativ hochwertig erhoben werden und wir nicht bestechlich im Hinblick auf Gefälligkeitsaufträge, Gefälligkeitsergebnisse, Gefälligkeitsinterpretationen sind: Dann ist schonmal der erste Schritt getan, mit ungefakten Daten Auftraggeber, Öffentlichkeit, Medien zu versorgen. Wenn wir dann rigoros das Wort ergreifen (um nicht zu sagen: Aufschreien), wenn Daten oder gar "unsere" Daten missbraucht werden, dann können wir durchaus ein gesellschaftlich relevantes Korrektiv darstellen. Wenn wir all dies nicht tun, dann mögen wir vielleicht in der Marktforschung für Unternehmen und Marken weiterhin eine relevante Rolle spielen – als Meinungsforschung für und in der Öffentlichkeit hätten wir keine Existenzberechtigung.
Ja: Die Häufigkeit der Verwendung der Begriffe Fake News, postfaktisches Zeitalter oder alternativ-faktische Daten hat in den letzten Wochen abgenommen. Nein: Die Gefahr hat sich angesichts der politschen Entwicklungen auch in vielen europäischen Staaten nicht verringert. Helfen wir also, mit Qualität, mit gelebter Verantwortung, ggf. mit lauter eigener Stimme der Bevölkerung, nicht zu leicht in die Datenfalle zu tappen. In diesem Sinne: Meinungsforschung wird es ohne Meinungsfreiheit nicht geben und wer die Meinungsfreiheit gefährdet oder manipuliert, gefährdet und manipuliert unsere Profession.
** Link zu dem oben erwähnten Artikel, dort Jahresbericht 2016, Seiten 18-21
Unser Autor ist Geschäftsführer bei Kantar TNS.
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