Market Research in China mit den richtigen Worten

"Ich fürchte nicht den Himmel und nicht die Erde – aber ich fürchte Kantonesen und Hongkonger, die Mandarin sprechen."

Von Matthias Fargel

Dieser  Volksmund stammt aus den Mandarin sprechenden Regionen und ist gar nicht nett gemeint. Er weist auf zwei wichtige Aspekte für unsere überwiegend verbal fundierte Marktforschung hin:

  • Einige Volksgruppen Chinas pflegen mehr oder minder boshafte Animositäten und wollen sich nicht verstehen.
  • Hochchinesisch ist für viele Chinesen eine schwere Sprache.

Schwer, wenn man es fehlerfrei sprechen, lesen und schreiben will. Kein Wunder: Aktuell umfasst das offizielle "Große Wörterbuch der Chinesischen Sprache" 56.000 Schriftzeichen. Lernziel an den Grundschulen sind 2.500 Symbole innerhalb der ersten sechs Schuljahre. An den weiterführenden Schulen werden bis zu 4.000 zumindest passiv beherrschte Zeichen angestrebt. Mit den 1.000 häufigsten Zeichen kann man angeblich 90% der alltäglichen Texte entziffern. 2.500 Schriftzeichen decken 98% der profanen Veröffentlichungen ab - ohne Fachbegriffe, Eigen- und Markennamen. Man vergleiche das mal mit dem Lernpensum unserer Kinder, die sich mit den 26 Buchstaben des ABC abmühen.

Das vom Kindergartenalter an stoische Pauken der chinesischen Schrift ist jene elementare Erfahrung, die seit alters her alle Chinesen als einzigartige Kulturnation untereinander eint; vom Festland über Hong Kong, Macau, Taiwan  bis hin zum 3.800 Km entfernten Singapore*. Chinesischlernen prägt früh den Charakter mit Fleiß, Disziplin und Mnemotechnik.

Für diese einheitsstiftende Schrift war das Jahr 1964 von einschneidender Bedeutung: Die VR China führte eine  Schriftreform ein, mit spürbaren Konsequenzen für Politik - und Marktforschung: Diese sog. "zweite Schriftreform" ersetzte 2.230 "alte" durch sog. "vereinfachte" Schriftzeichen. So wurde beispielsweise aus den zwei Schriftzeichen für Flughafen 機場 --> 机场; beides als „jī chǎng" gesprochen. Nur Geübte erkennen noch dasselbe. In  Folge sind viele der alten Schriften für Festlandschinesen unter Fünfzig nicht mehr ohne weiteres lesbar. Mao Tse Dong’s Regierung hatte sich so die Zensur elegant erleichtert; ganz praktisch, so unmittelbar vor der alle klassischen Traditionen unterdrückenden Kulturrevolution. Gleichzeitig tun sich seit 1964 ehemalige Schüler aus Taiwan und Hong Kong mit Texten aus der Volksrepublik schwer – Ausgrenzung auf Chinesisch.

Es spricht für den Pragmatismus der Überseechinesen in Singapore und im benachbarten Malaysia, dass sie ab den achtziger Jahren an deren Schulen die  vereinfachte chinesische Schrift übernommen haben. Somit stellen heute nur noch Taiwan, Hongkong und Macau Exklaven der klassischen Schrift dar. Es ist  eher eine Frage der Zeit, bis auch dort bildungspolitische „Realpolitik“ die gesamtchinesische Schrifteinheit wieder herstellt – und Millionen Berufstätigen im grenzüberschreitenden Schriftverkehr die Bürde des doppelten Lernens und des hin- und her Umschreibens abnimmt.

Für uns Marktforscher ist wichtig zu berücksichtigen, dass es auf dem Festland  die reformierte Schrift ist, die die Chinesen eint – jedoch nicht deren Aussprache. Siehe den oben zitierten, ätzenden Spott zu den Sprachbemühungen der Landsleute aus den südlichen Provinzen.

Die chinesischen Schriftzeichen sind von der Aussprache unabhängig. Darin gleichen sie mathematischen Symbolen, die weltweit Identisches bedeuten, unabhängig vom verbalen Ausdruck. Die Zahl 2 klingt in unseren Breiten mal als „zwei“, „dos“ oder „two“. Auf Hochchinesisch heißt 2 „er“, auf Kantonesisch „yi“. Wer sich auf Mandarin bedankt, sagt „xìe xìe“; auf Kantonesisch „hm- goy“, oder „do dseh“, falls man sich für ein Geschenk bedankt. Wir haben es in China mit einem halben Dutzend eigenständiger Sprechsprachen zu tun.

Jedes Schriftzeichen wird je Bedeutung durch eine spezifische Silbe akustisch repräsentiert. Aber dem überreichlichen Angebot an Schriftzeichen steht im Mandarin ein eher bescheidenes Reservoir an 430 Silben zur Verfügung; diese Silben werden in vier verschiedenen Tonarten gesprochen, so dass über alle Tonlagen hinweg so ungefähr 1.600 Silben für 56.000 Begriffe zuständig sind. Das bringt eine multiple Belegung jeder Silbe und Silbenkombination mit sich.  Es kommt noch einen Tick komplexer: Ein und dasselbe Schriftzeichen kann ganz Unterschiedliches bedeuten, wenn man es a) mit anderen Schriftzeichen zu einem neuen Begriff kombiniert und/oder b) mit einer anderen Silbe assoziiert. Das Kantonesische differenziert sogar nach 8 Tönen je Silbe, die selbstredend anders klingen, als im Mandarin.

Für die 430 Silben im Mandarin gibt es seit den Fünfzigerjahren eine Umschrift mit lateinischen Buchstaben und vier akzentähnlichen Tonzeichen, das Pinyin (siehe das Beispiel „Flughafen“: „jī chǎng „). Pinyin ist  eine Aussprachehilfe, aber wegen der Vieldeutigkeit der Silben als Kaligraphieersatz untauglich. Heute verwendet man Pinyin als bevorzugte Methode, Chinesisch mit Hilfe einer ASCII Tastatur zu schreiben. Man gibt die Pinyin Silben per lateinischer Schrift ein; das Schreibsystem des Computers bietet je Silbe entsprechende Schriftzeichen auf dem Bildschirm an, geordnet nach deren Gebrauchshäufigkeit; anschließend klickt man auf das gemeinte Zeichen - fertig. (Es gibt auch andere Eingabesysteme, die sich der sog. Radikalen/Grundstriche bedienen oder die mit Schreibschrifterkennung arbeiten).

Wegen der Vieldeutigkeit der Aussprache und den nicht immer gut verständlichen Tonzuordnungen erschließt sich der Sinn des verbalen Ausdrucks erst aus dem Gesprächskontext. Chinesen müssen deshalb besonders gut zuhören und auch Nonverbales sorgsam beobachten. - Seltener, aber auch im Deutschen brauchen wir bisweilen den Gesprächskontext, um z.B. zu verstehen, was „ins Netz gehen“ heißen soll: Ein gefangener Fisch, ein Fußballtor oder auf das  Internet zugreifen.

Von den 1,3 Milliarden Festlandschinesen sprechen laut offizieller Statistik ca. 950 Millionen den zur allgemeinen Staatssprache erhobenen Nanjing/ Beijing-Dialekt, der offiziell Putong Hua  bezeichnet wird. Im Westen nennt man es gern Mandarin (Sprache der ehemaligen Hofbeamten). Für hunderte Millionen von Chinesen ist Mandarin die an der Schule erlernte und eventuell im Beruf geforderte Zweitsprache, die sie, je nach Bildung und Übung, unterschiedlich gut verstehen oder aktiv sprechen.

In den für Marktforschung wichtigen Provinzen Zhejiang und Shanghai ist für 80 Millionen Menschen das Wu („Shanghai-Dialekt“) die Muttersprache. Yue, zu dem das  Kantonesisch gehört, ist die primäre Sprache für 70 Mio. Einwohner in der Umgebung der mächtigen Regionen von Guandong („Kanton“) und Hong Kong. Min Nan sprechen 60 Mio. im Süden Chinas; Es folgt mit 45 Mio. Sprechern das Jinyu im Norden und Westen Chinas; Xiang sprechen 36 Mio. Menschen vor allem in Hunan; Hakka mit 33 Mio. und Gan mit weiteren 21 Mio. sind ebenfalls nicht zu vernachlässige Sprachgruppen. Der Wirtschaftsboom der letzten drei Jahrzehnte hat fast eine halbe Milliarde Chinesen vom Land in die Großstädte gezogen und dort eine bis dahin einmalige Sprachvielfalt - und xenophobe Animositäten untereinander - gebracht. Viele der über sechzig Jährigen Chinesen (immerhin ca. 200 Mio. Einwohner) sprechen nach wie vor nur ihre jeweiligen Muttersprachen.

Das alles klingt anstrengend - und es ist es auch. Deswegen strahlen die staatlichen CCTV Fernsehsender zu den in Mandarin gesprochenen Filmen und Nachrichten bisweilen zusätzlich chinesische Untertitel aus. Besprechungen zwischen Chinesen unterschiedlicher Mandarinbeherrschung sind begleitet von in die Luft, auf Servietten oder neuerdings im Smart-Phone geschriebene Zeichen, um Klarheit zu schaffen. Ein weiterer Grund für die dortige Popularität der Smart-Phones; sie assistieren unauffällig in Sitzungen, besser zu verstehen: Durchblick auf Chinesisch.

Fazit  für die Marktforschung in China

Als Marktforscher tut man gut daran, diese riesige Nation als multikulturellen und mehrsprachigen Raum zu begreifen. Es gelten die Spielregeln, die wir aus  Mehrländerstudien gewohnt sind. Neben den regionalen Besonderheiten habe ich gelernt, nach Altersgruppen (unter/über dem lokalen Rentenalter) Sprachfertigkeiten in Mandarin und Themen zu unterscheiden. Was für mündliche Erhebungen (Gruppen, Interviews), Auswertungen von Audioaufzeichnungen und Simultanübersetzungen ganz entscheidend ist.

Themen, die mit dem „jia“, der Familie, Haushalt, Gesundheit und Emotionen zu tun haben, sollte man verbal tunlichst in den zu Hause gesprochenen Muttersprachen erheben, um eine vertieftes Sprachbild zu erhalten. Das können nur Kollegen mit lokalem Hintergrund eruieren und auswerten. Ich hatte Moderatoren und Dolmetscher in Shanghai erlebt, die aufgeben mussten, weil Gruppenteilnehmer bei emotionaler Erregung vom anfänglichen Putonghua in das lokale Shanghai–Wu gewechselt haben und somit unverständlich wurden. Gleichzeitig kann man Sachthemen und Expertengespräche selbst in Shanghai auf Mandarin führen lassen, weil rationale Themen und Fachbegriffe in Putong Hua von den Jüngeren und Gebildeten hinreichend gut beherrscht sind.

Bei Mitschriften aus Explorationen unter Ärzten und Apothekern brachten unterqualifizierte Interviewer ähnlich lautende, aber völlig unsinnige Schriftzeichen zu Papier: Sie haben nach Gehör ihnen unbekannte Substanzklassen und Indikationsgruppen mittels falscher Schriftzeichen unnachvollziehbar verballhornt. Ebenso ärgerlich waren schlampige Anpassungen unserer Befragungsunterlagen aus der VR China in die Taiwan-Versionen durch ein Feldinstitut in Taipei.

Chinesische Offizielle und auch das eine oder andere chinesische Institut gestehen Fremden gegenüber diese Vielfalt bisweilen nur widerwillig ein: Könnte es doch als Schwäche des eigenen Einflusses oder Zweifel an der Gesamtkompetenz ausgelegt werden („Gesichtsverlust“). Wann immer ich in den letzten Jahrzehnten seitens unserer chinesischen Partner ein beschwichtigendes „méi wèn tí“ (habe keine Frage) oder „no problem“ gehört habe, war dem nicht so.

Positiv denken! Gute Erfahrungen habe ich mit folgendem gemacht:

  • Schrift schlägt Sprache: so viel wie möglich schriftlich instruieren und schriftlich erheben;
  • Video- und Telefonbriefings sind sinnvoll als zusätzliche, aber nicht als Alternative zum schriftlichen Briefing;
  • Mit persönlichen Briefings baut man eine wichtige und belastbare  Beziehung zu den Geschäftspartnern auf; ansonsten aber gilt das oben Geschriebene;
  • Im Briefing die Fachbegriffe und Eigennamen in Englisch zusätzlich einfügen; gegf. mehrere der in Frage kommenden Schriftzeichen anbieten; bei Eigennamen können ausnahmsweise auch noch altchinesische Zeichen gebräuchlich sein;
  • Die regionale Aussprache von Marken üben, aufzeichnen und erklären lassen (z.B. „Bau Ma“ = BMW; „Ben Zi“ = Mercedes Benz; etc.)
  • Bei offenen Antworten zu Fachfragen: Fachtermini vom Befragten selbst aufschreiben lassen; gegf. für alle (auch für den Simultandolmetscher) am Flippchart sichtbar machen;
  • Schwierige Fragen nicht nur vorlesen lassen, sondern als Schriftvorlage den Befragten aushändigen;
  • So vorhanden: Bildmarken, Logos, Verpackungen, Fotos mitbringen (lassen) und zeigen;
  • Interviewer (egal ob am Telefon oder F2F),  Befragte und Gruppendiskutanten nach Sprachgruppen matchen;
  • Sich vergewissern, dass alle Projektausführende (Studienleiter, Feldleiter, Interviewer, Übersetzer,  Moderator, Protokollant, Auswerter, Analyst, Dolmetscher) die jeweiligen Sprechsprachen und schriftliche Fachterminologie (z.B. Pharma, Motortechnik, etc.) beherrschen; gegf. Listen mit den zu erwartenden Fachbegriffen und Namen von Firmen, Produkten und Marken zur Verfügung stellen – dazu hatte man früher, in der guten alten Zeit, noch Explorativphasen....;
  • zwei Dolmetscher einsetzen, die sich ablösen und gegf. auch gegenseitig helfen können;
  • Jeden relevanten übersetzten Text rückübersetzen und Abweichungen kommentieren zu lassen;
  • (digitale) Audioaufzeichnungen von jedem Interview hinterlegen und bei Unplausibilitäten von einem unbeteiligten Dolmetscher nachübersetzen zu lassen;
  • Zahlen, Berichte und Charts vor Abgabe an den Endkunden von einem lokalen Experten auf Plausibilität und Erklärungsmöglichkeiten für disparate Befunde prüfen und aus lokaler Sicht kommentieren lassen.

Klingt aufwendig? Geht’s auch einfacher? Liebe Freunde vom Schnellschuss, Controlling, Procurement und „No Problem“-Fans:
China mag ein Land mit niedrigem Lohniveau sein – professionelle Marktforschung dort ist jedoch ungewöhnlich komplex, zeitaufwendig, personalintensiv und nie billig zu haben. Vermeidbare Fehlinformationen aufgrund falscher Anpassung und irreführender Übersetzung können Ihrem Unternehmen in China sehr teuer kommen; - vielleicht auch Ihnen persönlich.

„Ich fürchte weder Himmel noch Erde, - aber China-Marktforschungsstudien mit den falschen Worten“.
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* Singapurs Bevölkerung besteht zu 75% aus ethnischen Chinesen; dazu getrennt mal mehr unter dem Thema „Auslandschinesen“.

 

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