Kolumne von Oliver Tabino Marken-Kontemplation statt Real-Time-Wahn


Für eine Esomar-Einreichung musste ich gerade meine Bibliographie zusammenstellen und bin über einen Artikel von mir aus dem Jahr 2015 gestolpert. Es ging um das Thema Real Time Marketing und den daraus resultierenden Bedarf an Real-Time-Evaluation.

Ich zitiere mich mal kurz selbst: "Die Reaktionen von Usern und potenziellen Zielgruppen können in Echtzeit erhoben, dargestellt und analysiert werden. Nur so sind Marketing und Kommunikation in der Lage, positive Entwicklungen zu verstärken und unliebsamen Entwicklungen entgegenzusteuern. Nicht zu vergessen, die inspirative Kraft solcher Ergebnisse."

Die Feststellung halte ich nach wie vor für richtig, aber eigentlich habe ich damals einen wichtigen Aspekt vergessen oder noch nicht auf dem Schirm gehabt. Was hier fehlt: Der Wert der Langsamkeit und des Innehaltens!

Es scheint als ob die technischen Möglichkeiten der "Real time"- Was-auch-immer und Instant-Articles-Instant-Results-Auslieferung zu einem nicht mehr hinterfragten Selbstzweck und einer unreflektierten Selbstverständlichkeit werden.

Wenn man sich die Positionierung einiger, gerade viel beachteter Mafo-Startups betrachtet, dann stolpert man über Formulierungen wie "das schnellste Panel der Welt" und es werden "Speed up"-Ansätze und Forschungs-Designs propagiert. Auch aus der Social-Media-Forschung kenne ich diese Ansprüche und Positionierungen und habe sie wie oben erwähnt auch selbst beschrieben. Mittlerweile frage ich mich aber immer häufiger: Was soll das Ganze? Und vor allem, wo soll das enden?

Das Echtzeit-Mantra wird meines Erachtens immer mehr zu einer Gefahr, denn es verändert auch unseren Umgang mit Meinungsbildung, Meinungsäußerung und Entscheidungen. Klar, wenn ich Broker bin, können Millisekunden über Millionen von Euro Verlust oder Gewinn entscheiden, aber sind Echtzeit-Entscheidungen im Marketing und vor allem im strategischen Marketing tatsächlich so wichtig?

Ich meine zu beobachten – und diese Beobachtung mag rein subjektiv sein – dass beispielsweise die Meinungsäußerungen von Menschen vor allem in den sozialen Medien und in den klassischen Medien einem Schnelligkeits-Zwang unterworfen sind. Es geht oft nicht mehr um den Inhalt einer Meinung oder eines Statements, sondern darum, dass man es schneller als der Wettbewerber verkündet hat. Nach dem Motto: Hauptsache als Erster einen rausgehauen. Wenn Trump twittert, müssen Clinton oder Rubio nachziehen. Und zwar in Echtzeit. Wenn Prince stirbt, dann muss man der Erste sein, der ein RIP twittert, damit alle Freunde und Follower sehen, wie gut man mit der Aufmerksamkeitsökonomie klarkommt.

Anfang des Jahres hatte ich ein Aha-Erlebnis. Es war nach den Übergriffen in Köln. Ich war in Urlaub, andere Zeitzone. Meine Timelines waren voll von Nachrichten über die Geschehnisse. Meinungen prasselten auf mich ein von Freunden, Medien, Politikern. Vielleicht bedingt durch den räumlichen Abstand merkte ich, dass ich dazu gar keine Meinung und die Faktenlage noch nicht für mich sortiert hatte, weil nicht annähernd alle Fakten bekannt waren. Im fernen Deutschland aber ging ein gewaltiges Meinungsgewitter nieder. Selbst auf politischer Ebene wurden Schlussfolgerungen gezogen und Entscheidungen getroffen, ohne die Hintergründe zu durchblicken. Einfach, einen raushauen eben.

In diesem Zusammenhang fiel mir ein Facebook-Post der Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali vom 6.1. 2016 auf. In einem längeren Post antwortet Hayali auf den Vorwurf eines Lesers, der sich darüber beschwert, dass Hayali sich nicht zeitnah zu Köln geäußert hätte mit folgendem Satz: "Nein, aber vielleicht darf man erst denken und dann schreiben?!"

Das trifft es ziemlich genau. Das Wort "schreiben" kann man gerne auch durch "reden" ersetzen, passt auch. Und "dürfen" reicht nicht, ich finde man "sollte" sogar erst denken, dann reden und schreiben. Über etwas nachdenken. Sinnieren. Etwas durchdenken. Wie schön und hilfreich kann das sein. Dies gilt für die Politik und auch für das Marketing. Schnelligkeit um der Schnelligkeit willen ist doch kein Wert für das Marketing, für eine strategische Ausrichtung einer Marke oder eine Vision für eine Marke!

Lassen Sie uns über Slow Branding und Marken-Kontemplation nachdenken. Im Echtzeit-Wahn-Marketing komme ich mir manchmal vor wie in einer Spaßbad-Wasserrutsche, in der man durch die Röhre beschleunigt wird und im Wasser landet. Nicht weiß, wo man ist, wie man von oben nach unten gekommen ist und auch sonst nichts von seiner Umgebung mitbekommt. Auch das ist weder eine günstige Situation für einen Forscher, der das Marketing berät, noch für den Marketer, der seine Marke im Blick haben sollte.

Sorry, ich muss jetzt Schluss machen und wieder denken.

Der Autor

Oliver Tabino, Q | Agentur für Forschung (Bild:marktforschung.de)
Oliver Tabino ist Gründer und Geschäftsführer der Q | Agentur für Forschung. Er ist derzeit Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Online-Forschung DGOF und überdies als Dozent für Social Media Research und Social Media Monitoring an der Hochhschule Pforzheim tätig.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Florian Tress am 31.05.2016
    Hallo Oliver,

    super Text! Allerdings bin ich etwas skeptisch, ob Dein Plädoyer nicht von einigen Romantikern falsch verstanden werden kann; schließlich geht es nicht um die Entdeckung von Langsamkeit und das Ende von Real-Time.

    Ich jedenfalls würde behaupten, dass die zunehmende Beschleunigung der Welt häufig gerade das Problem ist, vor dem die meisten Unternehmen bei ihren Entscheidungen stehen: wie lässt sich da Schritt halten? Und genau zur Lösung dieses Problems benötigt es Marktforschung. Deshalb geht es am Ende nicht darum langsamer zu werden, sondern die eigene Qualität nicht dem Streben nach Geschwindigkeit zu opfern.

    Bildlich gesprochen darf die Marktforschung schon ins Schwitzen geraten und den Ruhepuls verlassen. Wir sollten aber tunlichst nicht anfangen zu hyperventilieren.

    Beste Grüße,
    Flo
  2. Oliver Tabino am 01.06.2016
    Hi Florian,
    vielen Dank für den Kommentar zur Kolumne.
    Ich formuliere es mal so: Wenn Real Time zu schlechten Ergebnissen oder falschen Entscheidungen führt, ist weder uns als Forscher und Berater, noch den Unternehmen geholfen. Es gibt sicherlich Situationen, in denen Schnelligkeit wichtig ist oder gar zentral. Das kann in der Krisen PR sein oder bei vielen Aufgaben im Bereich Social Media, z.B. kann ein Community Manager nicht stunden- oder tagelang über einen Post nachdenken, bevor er veröffentlicht wird.
    Geoff hat in einem anderen Kommentar zurecht darauf hingewiesen, dass man auch zwischen strategischen und taktischen Herausforderungen unterscheiden muss. Das sehe ich auch so.
    Es geht mir nicht um die Entdeckung der Langsamkeit, sondern um Besonnenheit und die kann mit Langsamkeit in Form von "sich für etwas Zeit nehmen", "darüber in Ruhe nachdenken" einhergehen. Vor allem, wenn wir Marken strategisch oder sogar visionär weiterentwickeln wollen, muss es eine Meta-Ebene geben, die über der Volatilität und Hektik des Alltags liegt.

    Wenn sich das Marketing wie ein Ochse am Ring durch die Arena ziehen lässt, dann läuft meiner Meinung etwas falsch und wenn wir als Forscher auch noch dafür eingespannt werden, dann liefern wir unter Umständen nur noch Bits & Pieces und oberflächliche Dashboards, die vielleicht Zahlen irgendwie nett aggregieren und den Schein von Ergebnissen liefern, aber auf keinen Fall Insights sind.
    Viele Grüße
    Oliver

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