Lars Vollmer im Interview "Management hält uns von der Arbeit ab"

marktforschung.de: Herr Vollmer, in Ihrem früheren Unternehmen, der "Vollmer & Scheffczyk GmbH", bestimmten Ihre Mitarbeiter ihr Gehalt selbst. Wie zufrieden waren Sie mit Ihrem eigenen Gehalt?
Lars Vollmer: So viel vorneweg: Ich war absolut zufrieden mit meinem Gehalt. Denn es orientierte sich an der Wertschöpfung des Unternehmens und meinem Anteil bzw. dem Anteil meiner Kollegen daran. Ich glaube, dahinter steckt bei Ihnen aber die Frage: Kann solch ein System funktionieren, in dem die Mitarbeiter ihr Gehalt bestimmen? Und auch dazu kann ich nur sagen: Ja, tut es! Es ist deswegen keinesfalls für jedes Unternehmen zwingend besser. Aber es ist in jedem Fall einem System mit individueller Zielvergütung weit überlegen.
Allerdings müssen Sie berücksichtigen, dass dieses Vergütungssystem bei der Vollmer & Scheffczyk GmbH eingebettet war in ein umfangreiches und in sich schlüssiges Organisationssystem. Da nur den Faktor Gehalt rauszupicken, ist nicht aussagekräftig. Wir hatten zum Beispiel auch keine Budgets, keine Abteilungen, stattdessen Kundenteams, Fokussierung auf Kundenzufriedenheit statt Umsatz. Das Gehalt war nur ein Element, nur die Spitze des Eisbergs. Dass jeder es individuell festlegen konnte, hat sehr gut in unser Modell gepasst – es gibt aber bestimmt Tausend andere Modelle, die in einem anderen Gesamtkonstrukt ebenso Sinn ergeben.
marktforschung.de: Fußballstars und DAX-Vorstände verdienen Millionen, Pflegekräfte und Krankenschwestern können sich mit ihren Gehältern kaum eine Wohnung in der Stadt leisten – wann ist ein Gehalt gerecht?
Lars Vollmer: Diese Frage kann und möchte ich so nicht beantworten, denn sie schürt lediglich Ressentiments. Gerechtigkeit ist ein vollkommen individuelles Gefühl. Was ich als gerecht empfinde, darüber wird der Nächste die Nase rümpfen und ein Dritter mir zustimmen. Deshalb ist die pauschale Antwort, ab wann eine Gehaltshöhe und welche Differenzen noch gerecht sind, aus meiner Sicht unmöglich. Aus gesellschaftlicher Sicht fällt mir natürlich durchaus auf, dass alle Jobs, in denen die Menschen etwas für andere tun und helfen, pflegen oder betreuen, auf der Gehaltsebene scheinbar wenig wert sind. Aber: Aus der wirtschaftlichen Perspektive macht eben niemand Gehälter. Ein Gehaltsniveau hat keinen Autor, den wir anprangern könnten. Sie können die Unterschiede nur beobachten wie das Wetter. Das zeigt sich auch an den immer mal wieder auftauchenden politischen Versuchen, hier einzugreifen. Die Mindestlohndebatte hat auch nicht dazu geführt, dass die Gehälter insgesamt steigen. Chancengleichheit herzustellen, ist erstrebenswert und meines Erachtens erreichbar. Lohngerechtigkeit ist hingegen eine Utopie. Allein schon, weil die Menschen und ihre Bedürfnisse so unterschiedlich sind.
marktforschung.de: Zufriedene Mitarbeiter erbringen bessere Leistungen. Woran erkennt der Arbeitgeber, dass seine Mitarbeiter gern für ihn arbeiten?
Lars Vollmer: Verzeihen Sie, aber die Kausalität, dass zufriedene Mitarbeiter bessere Leistungen erbringen, ist eine völlig unbeweisbare Behauptung. Diese Unterstellung halte ich für zu trivialisierend bzw. sie ist vielleicht sogar falsch. Die Denkrichtung könnte ja auch sein: Erbringen Mitarbeiter höhere Leistungen, dann werden sie zufriedener. Diese Trivialisierung halte ich für gefährlich. Daraus entstehen Benefits wie Bällebäder und Klettergartenausflüge, aber noch lange keine bessere Arbeit und auch keine zufriedeneren Mitarbeiter. Denn Mitarbeiter arbeiten unterm Strich nicht für Chefs. Sie wollen sinnstiftend, also wirksam arbeiten, ohne dabei durch sinnfreie Management-Praktiken ständig von der Arbeit abgehalten zu werden. Sonst werden sie auch mit Klettergarten & Co. nicht zufrieden.
Ich möchte dem Gedanken daher eine andere These entgegenstellen: Mitarbeiter sind zufrieden, wenn sie Wertschöpfung und Wirkung für andere erzielen können. Damit meine ich nicht, dass sie gleich die Weltrettung herbeiführen müssen, um zufrieden zu sein. Auch zufriedene Kunden und ein gutes Produkt – und sei es noch so profan – können Wirkung erzielen. Wenn die Mitarbeiter also merken, dass sie dem Kunden einen echten Nutzen erbringen, das ist sinnstiftende Arbeit.
marktforschung.de: Ihr aktuelles Buch trägt den Titel: "Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen". Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Modell der Selbstorganisation gemacht?
Lars Vollmer: Äußerst gute, im beruflichen wie im gesellschaftlichen Kontext. Denn in vielen Fällen bilden sich gute Mannschaften ganz automatisch durch Anlagerung an einen initialen Kern. Denken Sie nur an ein Beispiel aus Hollywood: "Ocean’s Eleven" von Steven Soderbergh. Ein frei zugänglicher Lehrfilm für moderne Organisationen, wenn Sie mich fragen. Da steht am Anfang ein erfahrener Dieb, der die Idee für einen ganz großen Raubzug hat. Um diese Aufgabe durchzuführen, sucht er sich eine Mannschaft aus Komplizen zusammen. Die Komplizen verbünden sich, bevor der Coup losgeht. Sie tüfteln gemeinsam an den Details und üben und bereiten sich vor. Sie erfüllen also gemeinsam eine bestimmte Aufgabe komplett, mit allem, was dazugehört, das ganze Paket. Sie machen eben nicht nur einen funktionalen Job wie etwa Einkauf oder Produktion oder Kundenservice, sondern sie integrieren alle Wertschöpfungsteile der aus Sicht des Kunden vollständigen Leistung.
Erst dann geht es los. Und sie bleiben zusammen, bis die Aufgabe erledigt ist. Ganz am Schluss wird die Beute geteilt. Es werden also nicht etwa spezielle Teilaufgaben outgesourct, sondern alle machen gemeinsam alles, von Anfang bis Ende. Jeder übernimmt verschiedenste Rollen. Und wenn der Coup schiefgeht, sind alle dran. Nicht nur einer. Das gemeinsame Risiko schweißt genauso zusammen wie die gemeinsame Chance. Alle Komplizen wissen: Wenn wir gut aufeinander aufpassen, wenn wir alle so gut, wie wir können, miteinander und füreinander arbeiten, dann sind wir sicher, dann müsste es funktionieren.
Dementsprechend groß ist die Ernsthaftigkeit bei der Arbeit in so einer selbst organisierten Mannschaft. Unmotivierter Dienst nach Vorschrift ist undenkbar und würde sofort einen riesigen Ärger unter den Komplizen auslösen. Alle hängen sich rein! Das klappt nicht in einem hierarchischen Modell mit Chef, in dem die einzelnen Teilnehmer auf Ansage von oben funktionieren müssen.
marktforschung.de: Sie sind Gründer von intrinsify, dem größten offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Wie sollte Ihrer Meinung nach modernes Management heute aussehen?
Lars Vollmer: Da fällt meine Antwort etwas radikaler aus: Management braucht es heute nicht mehr. Unternehmen müssen sich lösen von den Denküberbleibseln und Ritualen des Industriezeitalters, von ihrem alten und verstaubten Management-Instrumentarium. Es geht nicht darum, Management "anders" zu machen oder zu überarbeiten. Management muss schlicht weg. Insbesondere in hochgradig dynamischen Märkten brauchen Sie heutzutage Selbstorganisationsmodelle. Die alten Modelle können Sie nur in Branchen beibehalten, in denen die Wertschöpfung noch statisch und linear abläuft. Und das sind die wenigsten.
marktforschung.de: Sie sagen: "Menschen kann man nicht motivieren. Menschen sind von Natur aus motiviert." Bedeutet das, dass monetäre Wertschätzung oder andere vom Unternehmen gebotene Benefits keinen Einfluss auf die Leistungen und Zufriedenheit der Mitarbeiter haben? Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?
Lars Vollmer: Die Lorbeeren möchte ich gar nicht einheimsen. Denn gekommen bin zu der Erkenntnis nicht ich, sondern das Thema ist seit Jahrzehnten ausgiebigst wissenschaftlich erforscht. Reinhard Sprenger hat es dann auch in den Achtzigern in "Mythos Motivation" populärwissenschaftlich abgehandelt. Die Erkenntnis an sich möchte ich jedoch vehement verteidigen. Denn Boni und Benefits machen keine guten Mitarbeiter. Das gängige Bonussystem unterliegt zwei grundlegenden Denkfehlern. Zum einen ist Leistung nie individuell zurechenbar. Die Leistung einer komplexen Wertschöpfungsorganisation ist stets emergent und entsteht immer im Zusammenwirken vieler Personen. Deshalb kann und darf in meinen Augen auch das Messen und Belohnen von Leistung nicht individuell erfolgen.
Zum anderen motivieren Boni die Mitarbeiter nicht zu Höchstleistungen – sondern eben dazu, Wege zu finden, damit sie ihren Bonus bekommen. Selbst wenn das auf Kosten der Wertschöpfung, des Unternehmensgewinns oder gar der Ethik geht. Dahinter steckt kein böser Wille, sondern eine zutiefst menschliche Reaktion: Wenn wir in ein System hineingedrängt werden, versuchen wir, es uns zunutze zu machen.
marktforschung.de: Stichwort Arbeitswelt und Berufsleben: Was würden Sie dem 18-jährigen Lars Vollmer heute raten?
Lars Vollmer: Dem würde ich sagen: Höre auf keinen Karrieretipp, den irgendein anderer in ein Dossier schreibt! Die Glaubenssätze, die es da über den einen und einzig und allein richtigen Karriereweg gibt, sind so abgründig, die möchte ich gar nicht erben. Und sie suggerieren, dass diese Denkmuster universell gültig wären. Auch meiner Tochter sage ich immer: Hör nicht auf scheinbar universell gültige Ratschläge – nicht mal auf meine.
marktforschung.de: Was war der beste Karrieretipp, den Sie erhalten haben? Haben Sie den Rat befolgt?
Lars Vollmer: Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Tipp oder eine Erkenntnis war: In mir reifte nach einigen Jahren im Beruf der Entschluss, dass ich mir aussuchen möchte, mit wem ich zusammenarbeite. Das gelingt mir jetzt schon, seit ich 29 bin. Und es ist großartig!
marktforschung.de: Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person:
Lars Vollmer, Jahrgang 1971, promovierter Ingenieur und Honorarprofessor der Leibniz Universität Hannover, ist Unternehmer, Bestsellerautor und Begründer von intrinsify.me, dem größten offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Er lehrt an mehreren Universitäten und Instituten und ist Redner auf internationalen Kongressen und Unternehmensveranstaltungen. Er spielt Jazzpiano, trinkt gerne Weltklasse-Kaffee und lebt in Barcelona. Sein aktuelles Buch: "Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen".
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